Darum kommen die besten (und gruseligsten) Horrorfilme aus Asien

Ein Mann mit einer Staffelei unterm Arm betritt einen vollgestellten Laborraum. „Was soll ich denn heute malen?“, fragt er. „Zelle 2“, antwortet ein Soldat, der die Forschungsstation bewacht. Die Kammer hinter den Gitterstäben ist viel zu dunkel, um etwas zu sehen. Der Maler bittet um Licht. Mit einer Lampe geht er langsam auf die Dunkelheit zu. In der Zelle liegt jemand auf dem Boden. Blutüberströmt. Die Wände sind voller blutiger Handabdrücke und etwas, das wie Klauenspuren aussieht. Es scheint, als hätte hier ein brutaler Kampf stattgefunden. Der Maler bewegt das Licht der Lampe langsam nach oben Richtung Decke. Plötzlich sieht er, was für die brutale Szene verantwortlich ist.

Die neue koreanische Netflix-Serie Gyeongseong Creature spielt im Jahr 1945: Korea steht unter japanischer Besatzung. Die Hauptstadt Seoul ist damals nur als der Verwaltungsbezirk „Gyeongseong“ bekannt. Die Bewohner*innen hungern, bringen ihre Armbanduhren ins Pfandhaus und werden von den Besatzern hart bestraft, wenn sie versuchen, Widerstand gegen die Okkupation zu leisten. Zwei sehr unterschiedliche junge Menschen müssen in diesem dunklen Kapitel der südkoreanischen Geschichte zusammenarbeiten und stoßen dabei in einem Krankenhaus auf ein düsteres Geheimnis.

Spätestens seit dem großen Erfolg der südkoreanischen Netflix-Serie Squid Game schaut die internationale Film-Gemeinde gespannt, was in Korea und anderen asiatischen Ländern für Filme und Serien entstehen. Horrorfans wissen allerdings schon lange: Länder wie Korea, Japan, aber auch Thailand, Taiwan und Indonesien produzieren die haarsträubendsten Gruselfilme.

Woran liegt das? Was ist der Grund für die anhaltende Faszination für asiatischen Horror? Was unterscheidet ihn von westlichen Horrorfilmen – und warum ist er so verdammt gruselig?

„Während Hollywood sich auf einen sicheren Zyklus milder Horrorfilme eingeschossen zu haben scheint, erwischen asiatische Horrorfilme das Publikum immernoch kalt“, schreibt die New York Times bereits 2005, nachdem japanische Horrorfilme wie Ju-On und Ringu um die Jahrtausendwende in die internationale Horrorlandschaft einschlugen, gigantische Franchise-Maschinen in Gang setzen, unzählige Adaptionen und Satiren in den USA hervorbringen und unter dem Namen „J-Horror“ in die Geschichte eingehen.

Spätestens seit The Grudge sind lange Haare vor den Augen ein beliebtes Horror-Motiv.

Schaut man diese Filme heute, passiert etwas, das nicht oft passiert: Sie wirken nicht aus der Zeit gefallen, wie es oft vorkommt, wenn man zum Beispiel mit älterer Tricktechnik konfrontiert ist. Man kann mit einer gewissen Sicherheit sagen: Die asiatischen Horror-Filme der Jahrtausendwende sind auch heute noch genauso gruselig wie vor 20 Jahren.

Und deshalb hört der Kult um sie nicht auf: Es entstehen auch in den folgenden Jahren und den 2020er Jahren noch Neuverfilmungen und Spin-Offs wie The Grudge oder Ju-On: Origins – aber auch komplett neue, innovative Horrorfilme. Asiatische Gruselfilme haben eine besondere Stellung in der Filmwelt: Sie schaffen es, nachhaltig zu verstören.

Asiatischer Horror spielt mit Mythologie und Sagen

Was viele wohl sofort vor Augen haben, wenn sie an asiatische Horrorfilme denken, ist das: blasse Frauengeister mit langen schwarzen Haaren, oft im Nachthemd. Sie kriechen tropfnass durch Fernsehbildschirme, kauern in dunklen Ecken auf Dachböden und tauchen aus Badewannen auf. Ihr Anblick ist seit den frühen 2000ern im Gedächtnis der internationalen Popkultur verankert. Und dafür gibt es Gründe, die tiefer gehen, als man vielleicht zunächst denkt.

Die Geisterfrauen, die einem oft in asiatischen Horrorfilmen begegnen, sind nicht von Drehbuchautor*innen erdacht. Sie sind uralte Sagengestalten namens Onryō.  Es gibt sie in unzähligen alten Geschichten, in denen Frauen gewaltsam sterben und sich aus dem Jenseits an den Lebenden rächen. Ihre offenen langen Haare sind noch ein Überbleibsel aus der mittelalterlichen Heian-Zeit als die Hofdamen ihre Haare so zur Schau stellten. Das weiße Kleid ist angelehnt an den traditionell weißen Begräbnis-Kimono. In alten Zeichnungen schweben die Onryō meist über dem Boden und erschrecken ihre Peiniger.

Solche Sagengestalten stehen für die kollektiven unterbewussten Ängste verschiedener asiatischer Länder und Gesellschaften. Es geht in ihren Geschichten um Gewalt an Frauen und darum, wie schlechte Taten immer irgendwann gesühnt werden – egal wie sehr man versucht, sie zu verschleiern.

Im Horrorfilm Incantation geht es um einen uralten Fluch und unmögliche Handverrenkungen.

Horrorfilme der Jahrtausendwende holen das Thema Gewalt und Rache in Form von Onryō wieder an die Oberfläche und versetzen es in eine Welt voller Videotapes und Überwachungskameras. Eine moderne Welt, in der manche Dinge so barbarisch bleiben wie früher, aber durch die neue Technologie besser sichtbar werden: In Ju-On spukt ein Rachegeist im Haus, in dem sie und ihr Sohn von ihrem eifersüchtigen Ehemann ermordet wurden. Und in Ringu wird ein Mädchen misshandelt und in einen Brunnen geworfen. Mithilfe einer verfluchten VHS-Kassette, die immer wieder kopiert wird, rächt sie sich an jedem, der sich traut, das Band anzuschauen.

Unterbewusste Ängste und historische Gräuel

Solche Rückbezüge auf alte Mythen gibt es ständig in asiatischen Horrorfilmen. Der koreanische Horrorfilm A Tale of Two Sisters von 2003 basiert beispielsweise auf dem Volksmärchen Janghwa Hongryeon jeon über eine böse Stiefmutter und die Rache an ihr, die aus dem Jenseits kommt. Im taiwanesischen Horrorfilm Incantation geht es um einen Fluch von Gottheiten ländlicher Volksreligionen, die auch in einer technologisierten Welt Macht über Menschen haben. Das bekommt eine furchtlose Bloggerin zu spüren, die versucht, heimlich ein religiöses Ritual zu filmen.

Die Geistergeschichten, auf denen viele asiatische Horrorgeschichten basieren, stehen für tiefere gesellschaftliche Ängste oder kollektive Scham. Deshalb lösen sie  weit mehr als einen kleinen Schreck aus. Sie lösen tiefe Gefühle von Unbehagen und Unsicherheit aus.

Auch die neue koreanische Horrorserie Gyeongseong Creature bezieht sich auf historische Gräuel: Die japanische Besatzungszeit ist ein kollektives Trauma für die südkoreanische Gesellschaft. Die Serie zeigt, wie Koreaner*innen von Japan als Zwangsarbeiter*innen verschleppt wurden, an der Front prostituiert und Widerstandsversuche blutig niedergeschlagen wurden. Wie auch in anderen koreanischen Horrorfilmen wird in der neuen Netflix-Serie die traumatische Beziehung zu Japan verarbeitet. Übernatürlicher Horror wird mit realem, historischen Leid kombiniert.

Han So-hee als Yoon Chae-ok in Gyeongseong Creature.

Man kann sich nicht auf Gut und Böse verlassen

Asiatische Horrorfilme schocken auch anders als Filme aus westlichen Ländern wie den USA, weil sie andere Erzähltraditionen haben. In US-amerikanischen Horrorfilmen gibt es so gut wie immer ein klar benennbares „Böses“. Das ist ein maskierter Serienkiller wie Leatherface aus Texas Chainsaw Massacre, der feiernde Jugendliche schlachtet, oder der Leibhaftige himself wie in The Popes Exorcism, oder ein Monster in Clowns-Gestalt wie in Stephen Kings Es.

In jedem Fall ist die Präsenz durch und durch böse. Und es gibt nur eine Art, mit ihr umzugehen: Mit der Kraft des Guten, einer mutigen Hauptfigur und manchmal auch der Hilfe Jesu muss es zerstört werden. Gut gegen Böse, Licht gegen Schatten. In US-amerikanischen Filmen gibt es meist eine Auflösung, eine Art Moment des Triumphes, ein Aufatmen am Ende. Damit nach dem Gruselspaß das Kinopublikum wieder beruhigt ins normale Leben zurückkehren kann.

In asiatischen Horrorfilmen gibt es oft keine klaren Rollen und einfache Schuldzuweisungen. Genauso wenig gibt es einen heldenhaften Plan oder den einen leichten Ausweg aus dem Terror.

Gut gegen Böse: Im westlichen Horror sind die Rollen meist klar verteilt.

„Das Böse hört nie auf zu lauern, weil es mit Themen wie Reue, Trauer und Familie verknüpft ist, die ein Teil unserer Realität sind, der nie wirklich weg geht,“ schreibt The Broward College Observer. Gerade der nicht fassbare Charakter, das Allgegenwärtige, Unvorhersehbare und Ausweglose am Spuk in asiatischen Horrorfilmen löst bei Zuschauer*innen echte Beklemmungen aus – die auch anhalten, nachdem der Abspann schon lange vorbei ist.

Psyche statt Gewaltorgien

Populäre US-amerikanische Horrorfilme verstehen sich oft als Spektakel, eine Art Spaß-Geisterbahn, in der man sich während der Fahrt erschreckt und danach aussteigt, ohne nochmal einen Gedanken daran zu verschwenden.

Die US-Gruselfilme arbeiten viel mit Jump Scares, also den Momenten, in denen das Publikum plötzlich von einer gruseligen Gestalt und einem schrillen Sound überrascht wird. Es ist eine körperliche Schreckreaktion. Zusätzlich gibt es in vielen amerikanischen Horrorfilmen exzessive Szenen von Gewalt, die ganz explizit gezeigt wird. Da wird der Teenager vom Serienkiller gerne mal gejagt, aufgespießt und enthauptet. Diese Action-Horror-Szenen sind im westlichen Horrorfilmen wie Hostel 3 oder The Purge eine Kunst für sich und ein alleinstehendes Unterhaltungselement.

Koreanische und andere asiatische Horrorfilme verfolgen meist einen anderen Ansatz: „Der Fokus auf subtilen und realistischen Horror – sogar wenn die Prämisse nicht realistisch ist – ist von höchster Bedeutung in koreanischen Horror-Darbietung,“ schreibt das Film-Magazin Screen Rant.

In The Purge geht es gerne mal blutig zu.

Die Entwicklung von Charakteren steht im Mittelpunkt. Statt Gewalt als Unterhaltungsspektakel und Schreck-Moment wird sie nur eingesetzt, um die Handlung voranzutreiben und die Persönlichkeiten der Menschen in der Story zu unterstreichen. Und natürlich, um menschliche Abgründe auf tief schockierende Weise darzustellen.

Oft wird der Moment der Gewalt selbst gar nicht gezeigt, wie in der Szene aus Gyeongseong Creature, in der der Maler – und mit ihm das Publikum – sich nur in der eigenen Fantasie ausmalen kann, was dort in der Zelle 2 vorgefallen sein muss. Wie lautet die Horror-Daumenregel so schön: Die eigene Vorstellungskraft ist eben tausendmal verstörender als jedes Blutbad.

Asiatische Horrorfilme heute

Auch in den letzten Jahren haben asiatische Horrorfilme sich einen besonderen Platz in der Grusel-Genre-Fandom erarbeitet und es werden viele kreative und beachtenswerte neue Filme und Serien gedreht. Sie sind oft beachtlich, weil sie mit Konventionen brechen und sich in Grenzbereiche des Genres begeben. Ein Horrorfilm kann auch mal furchtbar tragisch oder extrem lustig sein.

Nach dem Eingriff erscheinen dem Obdachlosen Susumu im japanischen Horrorfilm Homunculus plötzlich verzerrte Menschengestalten, wenn er nur sein linkes Auge benutzt: eine Frau mit vielen Beinen, ein Mann mit einem riesigen Finger oder andere, die wie Tier

In dem japanischen Horrorfilm Homunculus verliert ein Obdachloser nach einem Eingriff sein Gedächtnis und kann plötzlich in Visionen der Traumata anderer Menschen sehen. Der koreanische Horrorthriller The Call folgt einer Serienmörderin, die über ein Telefon mit einer Frau kommuniziert, die Jahre später im selben Haus lebt. In Svaha: The Sixth Finger versucht ein Pastor mit Hilfe von buddhistischen Mönchen einer mysteriösen Sekte auf die Schliche zu kommen. In #amLeben ist ein junger Mann während einer Zombie-Epidemie in seiner Wohnung gefangen und muss einen Weg finden, zu entkommen. Und dann ist da die Anthologie-Serie Goedam, die in der Tradition des 2000er-J-Horror moderne, urbane Horrorgeschichten mit Mythologie gespickt erzählt.

Aber nicht nur Japan und Korea sind mit neueren Filmen und Serien im Horror-Genre vertreten: In Eri aus den Philippinen geht es um eine Seherin und einen Todesfall an einer katholischen Mädchenschule, Detention aus Taiwan erzählt von paranormalen Erlebnissen einer Schülerin, Das dritte Auge aus Indonesien handelt von einem Haus, in dem Geister ihr Unwesen treiben und in The Whole Truth aus Thailand geht es um ein Geschwisterpaar, das im Haus der Großeltern ein seltsames Loch in der Wand entdeckt.

Emeli Glaser, Netflixwoche

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