Warum Horror ohne Jump Scares kein wahrer Horror wäre – eine Verteidigung

Ein Junge läuft durch eine dunkle Straße. Er ist allein, auf dem Heimweg. Plötzlich fällt ihm auf, dass er die Häuser nicht wiedererkennt. Er fühlt sich beobachtet und schaut hoch zu den Fenstern – und aus jedem schaut ein Gesicht zurück. Alle lächeln, alle beobachten ihn. Da fragt eine Mädchenstimme: „Hast du dich verlaufen?“ Der Junge dreht sich um – „AAAAAAAH!!!“ Ein Geist! Direkt vor seinem Gesicht! Sie schreit ihn an, die milchigen Augen weit aufgerissen.

Die Szene ist einer von 21 Jump Scares in der ersten Folge der Grusel-Anthologie-Serie Gänsehaut um Mitternacht. Jump Scares nennt man die Schreckmomente in Filmen und Serien, wenn plötzlich etwas knallt oder springt oder schreit. Die erste Folge von Gänsehaut um Mitternacht hat mit seinen vielen Schreckmomenten sogar den Guinness Weltrekord für die meisten Jump Scares in einer Episode gebrochen.

Die Technik ist in Horrorfilmen so verbreitet wie unter Horrorfans verhasst. Faul, vorhersehbar, ein billiger Trick, finden die meisten. Sogar Mike Flanagan, der Produzent und Creator von Gänsehaut um Mitternacht: „Ich hasse sie einfach“, hat Flanagan auf dem Comic-Con-Panel zur Serie erzählt.

„Im Laufe meiner Karriere kamen immer wieder Menschen zu mir und haben mir gesagt: Pack mehr Jump Scares in das Drehbuch!“ Bei Gänsehaut um Mitternacht hat er darum so viele Jump Scares wie möglich in die erste Folge gepackt, „damit sie am Ende hoffentlich bedeutungslos sind.“ Mit dem Guinness-Weltrekord kann nun wirklich niemand mehr behaupten, dass Flanagan die Technik zu selten nutzen würde.

Die Charaktere in Gänsehaut um Mitternacht sprechen das Klischee sogar selbst an. In der Serie trifft sich ein Club aus todkranken Teenagern. Um Mitternacht erzählen sie sich gegenseitig Gruselgeschichten. Mitten in der Szene mit dem Jungen auf der einsamen Straße und dem Geistermädchen unterbricht einer der Teenager namens Spencer die Geschichte.

„Warte!“, sagt Spencer zu Natsuki, der Erzählerin. „Streng dich mehr an.“

„Hast du Angst?“, fragt Natsuki.

„Sich erschrecken ist was anderes als Angst“, meint Spencer. „Jeder kann Töpfe und Pfannen zusammenhauen. Das ist nicht angsteinflößend, das erschreckt nur. Und du bist einfach nur faul.“

„Ja, mag sein“, gibt Natsuki zu. „Aber wenn es passiert, bewirkt es Adrenalinschübe und –“ BAM! Sie schlägt auf den Tisch, die Musik lärmt, eines der Mädchen knallt vor Schreck mit dem Kopf auf die Tischplatte. Zurück in Natsukis Geschichte stolpert der Junge und fällt ins Gras. Und die Zuschauer*innen vor den Bildschirmen zucken sicher auch zusammen.

Die meisten Horrorfans teilen eher Spencers Meinung als die von Natsuki. Er hat sicher Recht damit, dass Jump Scares oft aus Bequemlichkeit genutzt werden. Krach machen, die Musik aufheulen lassen, das kann jede*r. Selbst eingefleischten Horrorfans Albträume zu bescheren ist dagegen eine hohe Kunst.

Doch Jump Scares gehören so unverzichtbar zum Horrorgenre wie Kunstblut oder Dunkelheit. Sie können ein großartiges Mittel sein – wenn sie richtig eingesetzt werden.

Meister des Horrors wie Alfred Hitchcock machen es vor: Einige der besten Szenen der Horrorfilmgeschichte sind Jump Scares. Wie in Psycho, als der Detektiv durch das Bates-Haus schleicht und die Musik die Spannung steigert und steigert – bis Mrs. Bates aus den Schatten springt und ihn ersticht. Oder in Spielbergs Der Weiße Hai, als Matt Hopper über eine aufgequollene Wasserleiche stolpert. Unvergessen auch Carries Hand, die in der Traumsequenz am Ende von Carrie aus der Erde hervorbricht und den Fuß ihrer Freundin Sue packt. Auch Mike Flanagan hat sich immer wieder überreden lassen und Jump Scares in einigen seiner Serien meisterhaft eingesetzt, von Spuk in Hill House bis Midnight Mass.

Was unterscheidet einen guten Jump Scare von einem schlechten?

Spannung und Kreativität. Ein guter Schockmoment bricht die Erwartungen der Zuschauer*innen und erhöht die Gefahr für die Figuren.

Hitchcocks Jump Scares funktionieren nicht nur, weil er als einer der Ersten das Genre geprägt hat. Sondern weil er geduldig Spannung aufbaut, mit jeder Szene, und mit einem großartigen Soundtrack. Die Zuschauer*innen wissen mehr als die Figuren – und werden trotzdem von den Jump Scares eiskalt erwischt. Denn ein guter Jump Scare macht uns klar: Egal, wie viel wir zu wissen glauben – wir sind nie sicher.

Heute, bei der Masse an Horrorfilmen, ist zudem Kreativität gefordert. Die erste Folge von Gänsehaut um Mitternacht zeigt die ganze Bandbreite an Jump Scares, von lauten Geräuschen über plötzlich auftauchende Gestalten – bis hin zu ironischen Verweisen auf Klassiker des Genres. Wie beispielsweise eine schwarze Katze, die durch das Bild geworfen wird. Gegen Ende der Folge, wenn sogar der Geist selbst sich erschreckt, bringen die Schockmomente die Zuschauer*innen nicht mehr zum Schreien, sondern zum Lachen.

Netflixwoche Redaktion

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