„Lola rennt meets Crank“ – Philip Koch über seinen Actionfilm 60 Minuten

Der deutsche Actionfilm 60 Minuten entwickelt sich weltweit zum Überraschungshit auf Netflix – schon nach wenigen Tagen hat das Martial-Arts-Spektakel die Top Ten in vielen Ländern erobert. Ein Interview mit Drehbuchautor Philip Koch.

Entstanden war die Idee zu dem Film bei einem Spaziergang zwischen Hauptdarsteller Emilio Sakraya (Rheingold, Tribes of Europa) und Autor und Produzent Philip Koch (Tatort, Tribes of Europa) – das hatte uns Sakraya im Interview zum Release verraten.

In München trafen wir nun Drehbuchautor Philip Koch, der die Story und die vielschichtige Figur des Fighters Octa erfunden hat. Ein Gespräch über das Glück dieser Tage, schlaflose Nächte – und warum es keine Panzerfaust braucht, um erstklassige Action zu inszenieren.

60 Minuten-Autor Philip Koch.

Lieber Philip, wie schläft man in der Nacht, kurz bevor ein ambitionierter Film wie 60 Minuten weltweit auf Netflix live geht?

Es ist irre aufregend, einerseits. Alles kann passieren. Andererseits ist die Nacht davor als Regisseur noch mal ein bisschen schlafloser.

Warum das?

Als Autor und Produzent war es einen Tick entspannter, da stehe ich ja bei Kritik nicht direkt in der Schusslinie, sondern bin vor allem Ermöglicher der kreativen Vision des Regisseurs. Lob wie Kritik für Inszenierung, Schauspieler, Schnitt, Kostüm und Musik, die ganze kreative Gesamtverantwortung also, erntet bei 60 Minuten zunächst mal Oliver Kienle. Vielleicht bin ich aber inzwischen auch nur ein bisschen abgeklärter. Als damals meine Netflix-Serie Tribes of Europa herauskam, war die Anspannung krass.

Im Lauf der ersten Tage liefen für 60 Minuten unglaubliche Zahlen rein: Binnen weniger Tage sprang der Film in vielen Ländern in die Top 10. 

Das ging rasant. Erst kam die Nachricht aus Deutschland, dann aus immer mehr Ländern. Bald war der Punkt erreicht, an dem du realisierst, das wird ein irrer Aufschlag. Und irgendwann war klar: Wow, das fliegt! Nachrichten aus Brasilien und den Philippinen trudelten ein. Das ist echt verrückt, sich vorzustellen, dass gerade von Millionen weltweit dieser Martial Arts-Action-Film aus Deutschland gesehen wird.

Angefangen hat alles mit einem Spaziergang mit Hauptdarsteller Emilio Sakraya – so hat er es uns im Interview erzählt. Stimmt das?

Ja, wir waren im Englischen Garten in München unterwegs. Tribes of Europa war gerade herausgekommen und wir suchten nach einem neuen Projekt. Den Kern der Idee hatten wir schnell gefunden.

Die ist simpel: Ein Mann prügelt sich durch eine Stadt.

Uns ging es von Anfang an darum, dass wir einen geerdeten Martial Arts-Film machen wollten. Einen, der in Deutschland realisierbar ist, ohne Panzerfaust und Hubschrauber, die vom Himmel geholt werden. Ein Echtzeit-Konzept sollte es sein: Der Protagonist hat 60 Minuten Zeit, seine Tochter zu erreichen, einmal quer durch Berlin. Lola rennt meets Crank. Dieses Konzept war sehr früh klar, und auch Netflix stand in kürzester Zeit als Partner fest.

Wie gewinnt man in kürzester Zeit Netflix für so ein Projekt?

Bei uns gab es gerade mal einen Onepager – ein Pitch-Paper, dazu das Paket aus Hauptdarsteller Emilio Sakraya und meinem Drehbuchkonzept. Regisseur Oliver Kienle kam dann fünf Monate vor Beginn des Drehs dazu, um das Drehbuch nach seinen Vorstellungen zu bearbeiten.

Kienle hat u. a. an Bad Banks mitgeschrieben …

… und er ist totaler Martial Arts-Fan. Er hat zusammen mit den Choreographen dafür gesorgt, dass die Kämpfe absolut erstklassig inszeniert sind. Tolga Degirmen und Thomas Hacikoglu haben schon für Mission Impossible gearbeitet, für The Witcher. Das ist internationales Top-Talent aus Deutschland. Der Wert unseres Films müssen die Fist Fights sein, das wussten wir – für dicke Explosionen hatten wir kein Budget, es war eben kein Hollywood-Budget. Das brauchten wir am Ende aber auch nicht, emotional funktioniert es genauso.

Die Hauptfigur Octa ist ein harter Fighter. Zugleich wird im Lauf des Films deutlich, dass er ein komplexer Charakter ist, dass es da unerwartete Tiefe zu entdecken gibt. Wie hast du die Figur entwickelt?

Das ist natürlich ein Prozess, der bei 60 Minuten rund ein Jahr gedauert hat. Dazu gehören viele Gespräche, mit Emilio, mit anderen: Warum ist Octa so ein schlechter Vater, wie sind seine Eltern drauf, was ist schiefgelaufen in seinem Leben? Man erforscht eine solche Figur wie ein Prisma, betrachtet sie von allen Seiten. Im Film geht es auch um Clans und Wettmafia-Strukturen, das sind Welten, die wir uns durch Recherche erschließen mussten, um sie glaubwürdig darzustellen. Uns war wichtig, dass wir die Figuren in allen Facetten ernst nehmen. Dass wir auch die Geschichte ernst nehmen.

Und so kann man 60 Minuten als puren Action-Film schauen – aber auch als Milieustudie.

Das war unser Anspruch. So haben wir den Film angelegt und umgesetzt. Und nur so entsteht Qualität.

Wie schreibt man eine Massenkeilerei?

Das war tatsächlich lustig, weil ich mich das auch gefragt habe. Soll ich hier schreiben: bekommt einen Kick von links, kriegt einen Punch, fällt über einen Stuhl? Da ich wusste, dass Oliver Kienle mit den Stunt-Choreografen alle Details der Fights haarklein planen würde, habe ich mich darauf beschränkt zu schreiben: Octa trifft auf diese Figuren, es folgt eine 3-minütige Action-Szene, in der die sich kloppen.

Betrachtest du Octa als glücklichen Menschen?

Octa ist nicht glücklich. Er hat aber die Möglichkeiten, das Glück zu finden, wenn er sich seiner Tochter öffnet und sich seiner Verantwortung als Vater stellt. Bislang ist er immer weggelaufen vor der Verantwortung, vor dem, was ihn verletzbar machen könnte. Dann bekommt er das Ultimatum von seiner Ex-Freundin. Diesen Donnerschlag. Er hat nur noch eine Stunde Zeit, um zu beweisen, dass er ein guter Vater ist. Und diese Stunde wird es extrem in sich haben. Am Ende ist er gewachsen. Er hat die Möglichkeiten, danach ein besserer Mensch zu werden. Was auch immer die Konsequenzen seines Handelns sein werden.

Wie Octa spricht: Stammt das von dir?

Das Nuscheln haben Emilio und Oliver entwickelt, die Dialoge stammen von mir. Deswegen war es so wichtig zu begreifen, welchen Background Octa hat. In die ersten Fassungen des Drehbuchs hatte ich noch mehr Humor hineingeschrieben.

Humor?

Wir haben damit gespielt, ob es nicht eine Action-Komödie werden könnte. Bis uns immer klarer wurde: Wir ziehen die Ernsthaftigkeit durch, auch wenn es Momente von Comic Relief gibt. Die sind ja wichtig. Trotzdem habe ich den Humor später deutlich runtergeregelt.

Die Rolle des Octa – hast du die Emilio Sakraya auf den Leib geschrieben?

Ja, die ist maßgeschneidert. Emilio hat diese unfassbare Bandbreite: Er ist ein krasser Fighter und hat die entsprechende Körperlichkeit. Zugleich ist er sensibel, kann weich sein und gefühlvoll, er hat auch melancholische Seiten. Das steckt alles in ihm, er bringt so viel mit. Als Autor ist das ein Geschenk.

Rüdiger Barth, Netflixwoche

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