„In Deutschland haben wir immer noch diesen Ruf von Hinterhofschlägern“: Eine MMA-Weltmeisterin über 60 Minuten
- 25.1.24
Im neuen deutschen Netflix-Film 60 Minuten bereitet sich der MMA-Fighter Octavio (Emilio Sakraya) auf den wichtigsten Kampf seiner Karriere vor. Doch dann klingelt sein Telefon. Dran ist seine Ex-Freundin mit einem Ultimatum: Wenn er nicht innerhalb einer Stunde beim Geburtstag seiner Tochter auftaucht, beantragt sie das alleinige Sorgerecht.
Es beginnt ein Kampf um die Zeit und eine Verfolgungsjagd quer durch Berlin. Denn nebenbei sitzt Octavio auch noch die Wettmafia im Nacken.
Julia Dorny ist Weltmeisterin im Mixed Martial Arts. Sie hat sich 60 Minuten angesehen und erklärt im Netfixwoche-Interview, wie realistisch der Film ist, welche Klischees es heute noch über Kampfsportler*innen wie sie gibt und warum Aggression im Kampf nicht weiterhilft.
Bevor du MMA-Weltmeisterin geworden bist, warst du Meisterin im Judo, Sumo und Brazilian Jiu-Jitsu. Was hat dich dazu bewegt, auch noch eine Karriere in Mixed Martial Arts zu beginnen?
Ich habe lange nur für Judo gelebt und in der Judo-Nationalmannschaft gekämpft. 2009 habe ich das allererste Mal UFC geguckt, das ist einer der größten MMA-Veranstalter aus den USA. Das war in einer Bar und dort saßen Leute mit Fanshirts, die Bier getrunken und Wings gegessen haben. Dabei haben sie die Kämpfe geguckt und gejubelt. Und ich dachte mir: Holy Moly! Ich konnte gar nicht hingucken.
Weil der Kampf so brutal war?
Ehrlich gesagt: Ja. Später erst später habe ich mitbekommen, wie raffiniert MMA ist: Das Besondere ist ja, dass MMA alle Kampfsportarten kombiniert. Dabei kommen Tritte, Kicks, Ellbogen und Knie zur Anwendung, man kann seinen Gegner werfen, ihn mit Würgen, Hebeln und „Ground and Pound“ zur Aufgabe bringen, aber eben auch nach Punkten gewinnen.
Gibt es MMA-Klischees, die dir öfter begegnen?
Ironisch ist natürlich, dass der Name der Hauptfigur in 60 Minuten ausgerechnet Octavio ist und sein Rufname Octa. Das kommt ja von Oktagon, also der Plattform, in der wir kämpfen. Das ist so ein Stereotyp: Dass wir in einem Käfig kämpfen würden. Aber eigentlich ist es ein Oktagon. Aber sonst ist Octavio zum Beispiel mit Tattoos vollgepackt. Das passt zum Bild, das ich mitbekomme: MMA-Kämpfer seien aggressive und mit Tattoos überzogene Menschen. Ich bin selbst auch schon solchen Stereotypen begegnet. Nachdem sie mich getroffen haben, sagen Leute oft verblüfft: Die sind ja gar nicht alle dumm und die können ja auch hübsch aussehen! Ich denke dann: Leben wir im 21. Jahrhundert?! Es gibt so viele MMA-Fighter, die studieren. Ich kenne allein in meinem Gym drei Frauen, die Medizin studiert haben.
Der Film 60 Minuten beginnt mit Octavios Training für einen wichtigen MMA-Kampf. Hat dich das an eigene Trainingseinheiten erinnert?
Die Trainingsszene fand ich realistisch. Man visualisiert in dem Moment, wie der Kampf ablaufen könnte. Ich versuche, den Gegner mit Fuß- und Bein-Techniken zu besiegen oder zu Boden zu bringen. Diese Transitions wurden meines Erachtens gut dargestellt.
Danach geht es ziemlich schnell ziemlich tough zu: Tiefgaragen, schmierige Typen mit illegalen Wetten. Sieht es so bei MMA-Fights aus?
Als es im Film zur Wettkampfhalle ging, dachte ich: Ist das der Eindruck, den Leute von uns Kampfsportlern haben? Dass wir mit dem Auto unten rein fahren und direkt zum Kampf gehen? Das ist ein bisschen wie damals, als es im Soda Club in Berlin mit Untergrundkämpfen angefangen hat. Die waren damals verboten und man musste aufpassen, dass die Polizei nicht kommt. Wirklich wie bei Fight Club. Erste Regel: Man spricht nicht über den Club. Deswegen kann ich mir schon vorstellen, dass es damals vielleicht irgendwelche Wetten gab. 60 Minuten ist eben ein Spielfilm und da muss es auch ein bisschen knallen. Man sieht aber daran: In Deutschland haben wir teilweise noch diesen Ruf von Hinterhofschlägern. Wir kämpfen so hart dafür, MMA aus diesem Licht zu holen.
Wie sieht es denn heutzutage wirklich bei einem MMA-Fight aus?
Die Kämpfer werden aus dem Hotel abgeholt und mit Shuttles rübergefahren. Dann erstmal zur Waage und zum Medical Check. Dann gibt es noch mal eine große Regelbesprechung, Interviews mit der Presse und es wird gefragt: Welchen Kampfsong hättest du gerne zum Einlaufen? Und dann sind natürlich ein Haufen Fans in der Halle, die jubeln und einen motivieren.
Das klingt ziemlich aufregend. Ist man vor so einem Kampf nicht ziemlich nervös?
Die Anspannung ist hoch, klar. Es geht um eine Menge. In unserer Welt geht es um Performance, um den Fight Record. Um das Team, das du repräsentiert. Um die Fans, die zu dir aufschauen. Es geht natürlich auch um Geld. Es geht um Legacy. Am Ende sieht man die Erleichterung richtig in den Gesichtern. Diesen Moment, wenn geatmet, geschrien, geweint wird. Das ist, wenn der Druck von einem abfällt.
Hast du Techniken, um mit der Anspannung umzugehen?
Manchmal werde ich nervös, wenn ich einlaufe und merke, wie ich abdrifte. Dann schage ich mir sanft mit meinen Handflächen gegen die Oberarme oder die Wangen, damit ich meinen Fokus wiederfinde. Auch wenn ich das alles total liebe, habe ich trotzdem diese Phasen, in denen ich mich selbst wieder abholen muss.
Octavio in 60 Minuten wirkt auch angespannt. Aber eher aus anderen Gründen als dem Kampf. Kann der Kampftag auch ein Tag wie jeder andere sein?
Eigentlich bereitet man sich Wochen vorher auf den Kampf vor. Analysieren, wie der Gegner technisch ausgelegt ist, eine Strategie entwickeln. Das Thema Gewicht spielt eine große Rolle. Wir haben ja Gewichtsklassen und die Diät vor dem Kampf ist eine Herausforderung. Beim Kampf selbst sehen die Leute gar nicht, was im Vorfeld alles passiert: Dass Familien oder Frauen zu Hause ausziehen, weil der Partner aus Hunger manchmal so schlecht gelaunt ist.
Octavio und sein Gegner Benko schauen sich im Gang ziemlich düster an. Kommt es oft vor, dass Kämpfer auch persönlich ihre Differenzen haben?
Es gibt immer wieder Interviews, in denen Rivalitäten zwischen Kämpfern gehypt werden. Die werden gefragt: Wie sehr hasst du deinen Gegner? Und sie antworten dann oft: Ne, guck mal, wir könnten Best Buddies sein. Das ist ein Job, den wir hier machen. Natürlich gibt es aber auch Rivalitäten, die ihresgleichen suchen, um im Superlativ zu sprechen. Davon bin ich jetzt kein großer Fan, aber die gibt es.
Octavios Manager versucht, seinen Fighter besonders aggressiv auf Benko zu machen. Ist das eine gute Strategie?
Das war im Film eigentlich ein guter Mechanismus, um Octavios Fokus auf den Gegner zu lenken. Es wird ja oft gesagt, dass Emotionalität eigentlich keinen Platz im MMA haben sollte, weil man technisch-taktischer Kämpfer ist. Aber mir ist aufgefallen, dass viele Menschen mittlerweile wieder damit arbeiten und sagen: Guck mal, der Gegner, der ist schuld daran, dass du so leiden musst!
Octavio hat vor dem Fight ein noch größeres Problem als seinen Gegner: das Sorgerecht für seine Tochter. Ist es für viele MMA-Profis so schwierig, Profi-Karriere und Privatleben unter einen Hut zu bekommen?
Der Sport fordert extrem viel Hingabe und er bedeutet auch extrem viele Stunden Training. Es ist ein Job. Andere gehen von neun bis fünf ins Büro, wir gehen ins Gym. Dass Kämpfe auch mal verschoben werden, kann auch immer passieren. Das heißt, man kann da manchmal Stunden warten und man weiß nie, wann man dran ist. Man ist ab morgens in der Halle und kann glücklich sein, wenn man abends recht pünktlich rausmarschiert. Das ganze Thema Frauen mit Kind im Kampfsport ist natürlich nochmal ganz anders als bei Vätern.
Auch in 60 Minuten sind Frauen wie Cosima passionierte Kämpferinnen. Wie fortgeschritten ist die weibliche Repräsentation im MMA?
Wenn man sich mal anguckt, wie viele Frauen-Titelkämpfe es in der UFC und anderen prominenten Ligen gibt, dann sieht man gar nicht, dass das lange eine total unterschätzte Power war. Da haben wir den Boden schon mal ein bisschen geebnet. Ronda Rousey war 2013 die Pionierin. Dana White, der Chef der UFC hat damals gesagt: Frauen will er nicht auf der Bühne haben. Aber Ronda hat ihn so begeistert, dass er gesagt hat: Okay, ich erlaube Frauen doch. Das ist noch nicht so lange her und Frauenkämpfe sind mittlerweile extrem gehyped. Frauen im Kampfsport ist trotzdem ein Thema, für das wir weiter kämpfen müssen. Und heranwachsenden Mädchen zeigen: Egal, wer du bist, du kannst deinem Traum nachgehen.
In 60 Minuten sieht man Octavio eigentlich kaum in der Wettkampfhalle. Die meiste Zeit sprintet er durch die Straßen von Berlin. Ist man für so einen Marathon überhaupt trainiert als MMA-Kämpfer?
Auf jeden Fall. Man muss im MMA zwar stark sein, aber nicht zu aufgeblasen, weil jeder Muskel Sauerstoff benötigt. Wenn man zu muskulös ist, kann es sein, dass man sehr schnell ermüdet. Man braucht also eine extreme Grundlagenausdauer und Schnellkraft. Du kannst der beste Kämpfer der Welt sein, wenn du es schaffst, den Gegner in der ersten Runde zu besiegen. Aber ohne Ausdauer wird es danach immer schwerer.
Octavio kämpft im Film eigentlich kaum in einer sportlichen Situation, sondern eher gegen zwielichtige Gestalten, die ihm etwas antun wollen. Wie gut hilft MMA eigentlich bei solchen Angriffs-Situationen?
Super! Das ist eben eine Waffe. MMA ist definitiv straßentauglich. Das ist auch ein großes Thema unter uns: Wir müssen extrem aufpassen als Kampfsportler. Selbst wenn wir uns verteidigen und dabei jemanden verletzen, können wir verklagt werden, weil wir eben Kampfsportler sind. Die Trainer vermitteln schon früh Werte darüber, dass man sein Können nicht missbraucht. Und wenn man sich nicht im Griff hat, dann sagt der Trainer: Da ist die Tür, brauchst auch nicht wiederkommen, Dankeschön!
Zur Person: Julia Dorny
Julia Dorny ist Profi-Sportlerin und Journalistin. Zuerst kämpft sie Judo in der deutschen Nationalmannschaft. Später beginnt Dorny auch MMA und Sumo zu trainieren. Sie ist die erste weibliche Athletin, die in allen drei Disziplinen Titel gewonnen hat. Dorny wird 2018 als erste deutsche Frau MMA-Europameisterin und MMA-Weltmeisterin im Federgewicht bei den Amateuren der IMMAF. Nebenbei studiert sie damals Medienwissenschaft und arbeitet unter anderem als Journalistin für die Deutsche Welle. Heute moderiert sie ihren eigenen MMA-Podcast Women Hit Harder und lebt in den USA.
Emeli Glaser, Netflixwoche