Warum gruseln wir uns so vor Kindern in Horrorfilmen?

„Wir kennen einen Weg, Gott zu sehen“, sagt die kleine Tina zu ihrer neuen Adoptivmutter Lola. „Willst du wissen, wie?“ Am Tag vorher haben Lola und ihr Ehemann die blassen Zwillinge Tin und Tina adoptiert. Jetzt sitzen sie vor Lola am Frühstückstisch und essen Marmeladentoast. Lola muss versprechen, ihren Platz nicht zu verlassen, wenn sie den versprochenen Weg zu Gott sehen will. Dann passiert alles in Sekunden: Tina steht auf und zieht ihrem Bruder eine Plastiktüte über den Kopf, er strampelt, schnappt nach Luft, sie drückt zu, bis er fast in Ohnmacht fällt.

Der neue spanische Horrorfilm Tin & Tina erzählt die Geschichte eines Ehepaars, das keine Kinder haben kann. Sie entscheiden sich, Zwillinge aus einem katholischen Waisenhaus zu adoptieren. Etwas an den Adoptivkindern ist von Anfang an seltsam. Das merkt Lola schon im Auto auf dem Weg nach Hause. Auf die Frage, ob ihnen die Popmusik im Radio gefällt, antworten die Zwillinge: „Das ist satanische Musik.“ Die Koffer der Kleinen sind gefüllt mit Kruzifixen. Der Hund bellt ängstlich, als die Kinder ihn begrüßen wollen.

Messer, Schere, Gabel, Licht, sind für kleine Kinder nicht. Die Zwillinge aus Tin & Tina.

In Tin & Tina verdrängt Lola lange das Gefühl der Bedrohung. Was sollen die Zwillinge ihr schon tun? Kinder sind unschuldig und harmlos. Oder?

Im Horrorfilm ist das Motiv des gruseligen Kindes beliebt: Von den Zwillingen in The Shining, über Esther in Orphan und Damien in Das Omen bis zu nun Tin & Tina:  Inzwischen gibt es über 300 Filme, in denen gruselige Kinder vorkommen.

Kinder wie in EliIm Film geht es um einen kleinen Jungen mit einer Autoimmunkrankheit. Erst freut er sich über die neue Behandlung in einer medizinischen Einrichtung – bis er Gestalten sieht und auf ein unchristliches Familiengeheimnis stößt. Little Evil parodiert das Genre schon: Darin geht es um Gary, einen Mann, der seine Freundin heiratet, die einen 5-jährigen Sohn hat. Mit der Zeit beginnt er zu glauben, dass der Junge das Böse ist.

Aber warum können uns Schlaflieder summende Kinderstimmen so große Angst einjagen? Hier eine Geschichte des gruseligen Kindes im Film und wie man seine Wirkung erklären kann.

Das Wunder der Geburt kann ein Alptraum sein

1968 kommt ein Horrorfilm in die Kinos, in dem das Böse im eigenen Körper lebt: Rosemary’s Baby. Die junge Frau Rosemary (Mia Farrow) zieht mit ihrem Mann in ein Apartmentgebäude in New York City und wird schwanger. Sie hat starke Schmerzen und erfährt von einem Zirkel von Sektenmitgliedern in ihrem Haus. „Er hat die Augen seines Vaters,“ sagt eine Satanistin, als sie in die Krippe mit dem Neugeborenen schaut.

Body-Horror-Legende David Cronenberg hat mal gesagt: „Der Körper ist der Urquell von Horror.“ Die ursprünglichste körperliche Erfahrung ist die Schwangerschaft und Geburt. Horror-Expert*innen wissen: Die „schönste Erfahrung, die eine Frau machen kann“, birgt auch ziemlich viel Grusel-Potenzial: Der Körper verändert sich, in der Mutter wächst ein eigenständiges Lebewesen, das sich von ihr ernährt. Und das Ganze endet in einem Splatter-Fest aus Geschrei, Blut und Innereien. Das Wunder der Geburt.

Der erfolgreichste Horrorfilm mit gruseligem Kind

Der Film Der Exorzist ist der erfolgreichste Film des Jahres 1973. Er ist der erste Horrorfilm, der einen Oscar gewinnt und er bleibt über 45 Jahre der kommerziell erfolgreichste Horrorfilm der Welt. Vor Der Exorzist hatten Horrorfilme eine eher kleine Fangemeinde und wurden oft mit wenig Mitteln produziert.

In Der Exorzist geht es um das 12-jährige Mädchen Regan, das anfängt mit einer fremden Stimme zu sprechen, den Kopf einmal um die eigene Achse zu drehen und überall am Körper offene Wunden zu entwickeln.

Der Film lehrt das Kinopublikum der Siebziger reihenweise das Fürchten: Unzählige Menschen verlassen entsetzt das Kino. In anderen Fällen muss der Notarzt gerufen werden, weil wieder jemand in Ohnmacht gefallen ist.

Es ist sicher kein Zufall, dass einer der gruseligsten Schocker von einem besessenen Kind erzählt. Wenn Regan wild umher kotzt und an die Decke krabbelt, ist das bis heute zu viel für manche Zuschauer*innen.

Das Jahrzehnt der Gruselkinder sind die 1980er

Die Achtziger Jahre beginnen mit The Shining, dem Film mit der wohl berühmtesten Gruselkinder-Szene der Filmgeschichte: Der kleine Danny fährt mit seinem Dreirad durch die Gänge des menschenleeren Hotels. Er biegt um eine Ecke und da stehen sie: Zwillingsmädchen in identischen blauen Kleidern, händchenhaltend. „Komm, spiel mit uns,“ sagen sie und verschwinden hinter der nächsten Biegung.

Das Jahrzehnt der Gruselkinder hat damit begonnen: In Poltergeist von 1982 entwickelt die kleine Carol-Anne eine beunruhigende Beziehung zum Fernsehapparat. In Pet Sematary von 1983 kehrt ein Kind verändert zu seinen Eltern zurück, nachdem sein Vater es auf einer indigenen Begräbnisstätte beerdigt hat. In Children of the Corn von 1984 ermorden blonde Kinder mit leuchtenden Augen die Erwachsenen eines Landwirtschaftsstädchens wegen der Maisernte.

Die Medienwissenschaftlerin Jessica Balanzategui stellt in ihrem Buch The Uncanny Child in Transnational Cinema (Das unheimliche Kind im transnationalen Kino) eine Theorie auf, warum gerade in dem Moment der Geschichte so viele gruselige Kinder auf den Leinwänden der USA auftauchen. Die frühen Achtziger sind eine Umbruchzeit der Energiekrise, Inflation und der wirtschaftlichen Stagnation.

Die Werte, die reaktionäre Politiker wie Präsident Ronald Reagan propagieren, drehen sich um die klassische Kernfamilie: Mutter, Vater, Kind. Dieses Bild bekommt in der Zeit Risse. Frauen werden unabhängiger, weil sie selbst arbeiten gehen. Die Scheidungsraten sind so hoch wie noch nie. Andere Lebensentwürfe werden mit der LGBTQ-Community sichtbarer.

Die konservative Familien-Ideologie kämpft gegen ihren Untergang, und Kinder bekommen eine neue Verantwortung: Sie sollen die marode Kleinfamilie zusammenhalten. Zur selben Zeit werden Kinder als neue Konsument*innen-Zielgruppe entdeckt und gezielt Werbung an sie gerichtet. Dadurch bekommen Kinder neue gesellschaftliche Macht und eine Stimme.

Manche Expert*innen glauben, dass Kinder uns in Horrorfilmen gruseln, weil wir befürchten, die Kontrolle über sie zu verlieren. Im normalen Alltag – oder zumindest in einer Idealvorstellung davon – entscheiden Erwachsene, wo es langgeht. Der australische Filmwissenschaftler Dominic Lennard schreibt in seinem Essay All Fun and Games…: „Die Darstellungen von Kindern in Horrorfilmen, die sich der Macht der Erwachsenen widersetzen, wandeln kindlichen Spaß in erwachsene Angst um.“

Schlaflieder, Kritzeleien und Puppen: Kinder als Brücke zum Übernatürlichen

Mit Messern bewaffnete Mörderkinder oder mit übernatürlicher Kraft ausgestattete Dämonenkinder sind eine Sache. Aber nicht nur die abgrundtief bösen unter den Horrorfilm-Kindern machen uns Angst. Auch die lieben, kleinen und unschuldigen Kinder können ihren Eltern ordentlich Schauer über den Rücken jagen.

Unter die Kategorie fallen zum Beispiel Kinder, die Geister sehen und hören. Nicht nur in Filmen erzählen Kinder von den Gestalten, die sie nachts besuchen. Auch auf Social Media gibt es inzwischen unzählige Videos, in denen sich Kinder mit der dunklen Zimmerecke unterhalten.

Kinder mit unsichtbaren Freunden und Visionen von Toten bedeuten für Erwachsene auch einen bedrohlichen Kontrollverlust: Sie greifen die erwachsene Auffassung der Realität an. Kinder rationalisieren nicht, wenn sie etwas Seltsames erleben.

Sigmund Freud beschreibt in Das Unheimliche, dass Kinder keinen Unterschied zwischen der lebendigen und der nicht-lebendigen Welt machen. Wenn ihr Spielzeug plötzlich zum Leben erwachen würde, würde es sie nicht schockieren. Und das finden Erwachsene beunruhigend.

Horrorfilme zeigen Kinder deshalb gerne als Brücken zum Übernatürlichen. Geister können Erwachsene nämlich nur so lange ignorieren, bis sich ihr 4-Jähriges nachts angeregt mit ihnen unterhält.

Chucky – die gruseligste aller Mörder-Puppen.

Die Angst vor der kindlichen Wahrnehmung überträgt sich im Horrorfilm auch auf Objekte. Es gibt diese Szene in fast jedem Haunted House-Film: Das Kind überreicht seinem Elternteil stolz das selbstgemalte Familienporträt. Neben Mama, Papa und Kind ist noch eine krakelige, dunkle Figur auf  dem Bild, die laut Kind „auch mit im Haus wohnt.“ Bälle und Luftballons, Clowns und Spieluhren: Sie alle entwickeln ein Eigenleben in Horrorfilmen. Das größte Angst-Objekt des Kinderzimmers ist allerdings mit Abstand die Puppe. Das Motiv der besessenen Puppe hat unzählige Filme von Chucky bis Annabelle inspiriert.

Horror-Kinder erinnern uns an unsere unterdrückten Schuldgefühle

Um die Jahrtausendwende entstehen in Japan Horrorfilme, die international einschlagen und deren Monster sich weltweit ins kulturelle Gedächtnis brennen. Im Film Ringu geht es um eine Gestalt mit langen schwarzen Haaren und dreckigem Nachthemd, die aus dem Fernsehapparat kriecht, um zu morden. Der Hintergrund: Der Rachegeist ist eigentlich ein kleines Mädchen, das vom eigenen Vater in einen Brunnen geworfen wurde.

In Ju-On geht es um ein verfluchtes Haus, in dem immer wieder der Geist einer Frau und ihres kleinen Kindes gesehen werden. Spoiler: Beide wurden vom eifersüchtigen Familienvater ermordet und sind deshalb dort gefangen.

„Horrorfilme wissen immer, was Du letzten Sommer getan hast.“

Susanne Kord

Die Kindergeister in J-Horrorfilmen sind nicht einfach böse. Sie rächen sich für ein Unrecht, das ihnen angetan wurde. Die britische Filmwissenschaftlerin Susanne Kord hat ein Buch über gruselige Kinder im Horrorfilm geschrieben: Little Horrors: How Cinema's Evil Children Play on Our Guilt. Darin stellt sie die These auf: „Horrofilme, besonders die mit bösen Kindern, drehen sich mehr um Schuld als um Angst.“

Horrorfilme behandeln oft Ängste, die in unserem Unterbewusstsein schlummern. Und auch wenn Schuld als Kern eines Horrorfilms überraschend klingen mag, ergibt es Sinn, wenn man sich weitere Horrorfilme mit bösen Kindern ansieht.

In Pet Sematary wird ein Vater von seinem Gewissen gequält, weil sein Kind vor dem eigenen Haus von einem LKW getötet wurde. In Chucky schämt sich eine alleinerziehende Mutter, weil sie ihrem Sohn kein teures Spielzeug kaufen kann. In Eli fühlen sich die Eltern schuldig, weil der kleine Sohn bereits schwer krank ist.

Diese Situationen erinnern das Publikum an eigene Schuldgefühle: Verbringe ich genug Zeit mit meinem Kind? Habe ich manchmal nicht genug Geduld nach einem langen Arbeitstag? Vergreife ich mich unter Stress auch mal im Ton? Oder in den Worten von Susanne Kord: „Horrorfilme wissen immer, was Du letzten Sommer getan hast.“

Emeli Glaser, Netflixwoche

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