Lang lebe der Spoiler! Eine Verteidigung des Verrats

So ein Spoiler hat es auch nicht leicht. Die meisten hassen ihn, steht er doch unter Generalverdacht, uns Spaß und Spannung an Filmen und Serien zu nehmen. Aber stimmt das überhaupt?

Achtung, Spoiler: Stimmt nicht.

Na, und hören Sie jetzt auf zu lesen?

Na also.

Klar, auf den ersten Blick ist das Spoilern – also das versehentliche oder absichtliche Verraten des Plots eines Films oder einer Serie – eine fegefeuerwürdige Sünde. Aber ist es wirklich so, dass das Spoilern uns den Spaß verdirbt? Oder – schlimmer noch – wir den gespoilerten Film dann gar nicht mehr sehen wollen?

Alles Quatsch, sagt Psychologieprofessor Nicholas Christenfeld von der University of California. In einer Studie hat er mit seinen Mitarbeiter*innen herausgefunden: Das Gegenteil ist der Fall ist. Spoiler (von „to spoil“ , auf deutsch: „verderben“ ) ruinieren Geschichten nicht, sie sorgen dafür, dass man sie noch mehr genießt.

In einem Experiment ließ Christenfelds Team Probanden Kurzgeschichten aus verschiedenen Genres lesen. Eine Gruppe las einfach eine Geschichte und bewertete am Ende, wie gut sie ihnen gefallen hatte. Die andere Gruppe tat das Gleiche, aber die Forscher verrieten vorab das Ende. „Erstaunlicherweise haben wir festgestellt, dass die Probanden mehr Spaß an der Geschichte haben, wenn man sie spoilert.“

„Wir sehen uns Filme nicht wegen des Endes an“

Im Nachhinein sagt Christenfeld, er hätte es von Anfang an kommen sehen müssen. „Wenn die Leute Romeo und Julia sehen, verlangt ja auch keiner: Sag mir nicht, wie es ausgeht.“

Christenfeld weiter: „Der Punkt ist, dass wir uns Filme nicht wegen des Endes ansehen. Sehr viele Menschen sehen sich sehr viele Filme mehr als einmal an, mit Freude und oft mit wachsendem Vergnügen.“ Und bei einer RomCom beispielsweise fragt sich niemand, ob das Paar am Ende wirklich zusammenkommt und glücklich sein wird.

Spoiler tragen vielmehr dazu bei, dass man den Zweck der Gesamterzählung kennt und dann in der Lage ist, alle Details und Handlungspunkte besser zu verstehen – die sinnlichen Beschreibungen, die Entwicklung der Charaktere, die Satire, die Kunstfertigkeit. Spoiler machen es überflüssig, zu viel über die Handlung nachzudenken, und ermöglichen es, den Rest der Geschichte besser zu genießen.

Christenfeld vergleicht dies mit einer Autofahrt: „Wenn man auf dem Highway 1 fährt und die Straße gut kennt, kann man sich umsehen und die Aussicht bewundern. Aber wenn man das erste Mal auf der Straße ist, muss man sich auf die Kurven konzentrieren.“

„Uns wird ein bisschen Autonomie genommen“

Die Psychologin Christiane Attig ist anderer Ansicht: „Spoilern mindert das Vergnügen. Wir haben nicht mehr die Wahl, die Geschichte selbst zu entdecken. Uns wird ein bisschen Autonomie genommen“, sagt sie gegenüber Deutschlandfunknova.de: „Das kann eine Abwehrreaktion und Ärger hervorrufen. Manche Menschen haben dann gar keine Lust mehr, sich den Film anzuschauen.“

Anders als Christenfeld hat sie für ihre Mutmaßung allerdings keine wissenschaftlichen Belege.

Was machen wir nun mit zwei unterschiedlichen Psycholog*innen-Meinungen?

Wir fragen die Schweiz. Die ist als neutral bekannt, deshalb hören wir hier mal genauer hin. „Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass sich jemand seines Filmgenusses beraubt fühlt, wenn im Vorfeld ausgeplaudert wird, wie die Sache ausgeht“, sagt Simon Spiegel, Filmwissenschaftler an der Universität Zürich gegenüber zueritoday.ch. Also Punkt für Psychologin Attig.

Spiegel ist einer der Organisator*innen von #spoiltheconference, einer wissenschaftlichen Tagung, die sich 2022 damit befasst hat, wie das nun ist mit dem Spoilern.

Spiegel sagt aber auch: „Die grassierende Spoiler-Panik beruht auf einem fundamentalen Missverständnis. Eine Inhaltsangabe ersetzt nicht das Filmerlebnis. Und ob mir ein Werk gefällt, hängt nicht nur – und wahrscheinlich nicht einmal primär – von der Handlung ab, sondern von vielen anderen Faktoren.“ Ästhetische Aspekte wie Musik, Farben, Sound, Rhythmus oder Schnitt seien mindestens so wichtig. Ebenso die Leistung der Schauspielerinnen und Schauspieler. Also Punkt für Psychologe Christenfeld. So sind sie, die Schweizer.

Der Vater aller Spoiler: Wer war der Halstuchmörder?

Es ist schließlich die Geschichte, die den Spoiler rehabilitiert. Wir blicken zurück auf das Jahr 1962. Ganz Deutschland rätselt, wer der Halstuchmörder ist. Die sechsteilige Verfilmung von Francis Durbridge‘ Das Halstuch ist die Mutter aller Blockbuster. Theater, Kinos, Restaurants, Konzertsäle – alles bleibt leer, wenn Horst Tappert, Heinz Drache und Co. über die Bildschirme flimmern. In Schwarzweiß natürlich.

„Das deutsche Kulturleben ist zum Erliegen gebracht worden“, lautet das stolze Urteil des Programmbeirats der ARD. 89 Prozent Einschaltquote im Schnitt bei den ersten fünf Folgen. 89 Prozent! Das schaffte danach kein Kulenkampff, kein Gottschalk, kein WM-Finale.

Am 17. Januar 1962, sollte es endlich soweit sein. In der letzten Folge sollte die Identität des Halstuch-Mörders aufgeklärt werden.

Doch dann wird der Kabarettist Wolfgang Neuss zum Vater aller Spoiler. Er schaltete am Vortag eine Anzeige in der Boulevardzeitung Der Abend: „Nicht zu Hause bleiben, denn was soll’s: Der Halstuchmörder ist Dieter Borsche …… Also: Mittwochabend ins Kino!“

Ganz Deutschland bekam Schnappatmung, die Bild-Zeitung sprach sogar von „Vaterlandsverrat“. Neuss erhielt Morddrohungen.

Aber schaltete die gespoilerte Nation die letzte Folge nicht mehr ein? Oh, doch! Sagenhafte 93 Prozent Einschaltquote ermittelte das Marktforschungsinstitut infratest für die gespoilerte Episode. Rekord für die Ewigkeit! Lang lebe der Spoiler!

Netflixwoche Redaktion

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