Vom Mafia-Erotik-Hit bis zum Gesellschaftsdrama: Wie polnische Filme und Serien Netflix erobern

Auf Netflix kann man sich Filme auf über 25 Originalsprachen anschauen. Die Auswahl reicht von „Türkisch“ über „Japanisch“ bis hin zu „Telugu“. In unserer Serie Nur mit Untertiteln stellen wir Länder vor, in denen zwar irre gute Filme gedreht werden — doch über die man in Deutschland zu wenig spricht. Diesmal: Polen.

Er könnte alles sein: ein Anwalt, ein Bäcker, ein Wirt. Ein Vater, ein Landstreicher, ein Mörder. Rafal Wilczur weiß nicht, wer er ist und wohin er gehört. Seit einem Überfall hat der alte Mann sein Gedächtnis verloren. Nun reist er durch Polen und hofft, Antworten zu finden. Er ist ein Sucher, sagt er den Leuten unterwegs. Und irgendwie auch ein Heiler. Denn Wilczur weiß, wie man Menschen operiert. Nur woher?

Das Drama Der Kurpfuscher ist eine Neuinterpretation von Regisseur Michal Gazda und läuft ab dem 27. September auf Netflix. Die Geschichte basiert auf dem gleichnamigen Roman von Tadeusz Dołęga-Mostowicz, der bereits 1937 erschienen ist. Der Autor ließ sich für sein Werk von damaligen Kurpfuschern inspirieren – Heilmänner ohne medizinische Kenntnisse, die tatsächlich besser als Ärzte verdienten.

Doch Der Kurpfuscher ist nicht nur eine Erzählung über einen Chirurgen, der sein Gedächtnis verloren hat und kurzum zum Pfuscher wird. Es ist eine Liebes- und Lebensgeschichte, ein Panorama von Polens verschiedensten Orten und ein Einblick in die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten des Landes.

Diese Mischung hat auch dazu geführt, dass der Roman von Dołęga-Mostowicz bereits 1937 und 1981 verfilmt wurde. Dass der Film nun in einer neuen Version auf Netflix erscheint, ist eines von vielen Zeichen dafür, dass der Streamer ein bisher völlig unterschätztes Filmland für sich entdeckt hat: Polen.

365 Tage sorgte für Diskussionen

Auf Netflix haben polnische Produktionen in den letzten Jahren immer mehr Fans gewonnen: Der RomCom-Dreiteiler Liebe², in dem sich ein Reporter in zwei unterschiedliche Frauen verliebt, die eigentlich ein und dieselbe Person sind, landete bei jeder Veröffentlichung in den Netflix-Filmcharts. Ebenso die erotische Filmreihe 365 Tage, in dem ein Mafia-Boss eine Frau entführt, um ihre Liebe zu gewinnen. Letzteres hielt sich sogar mehrere Wochen in den Top 10. Aufgrund der Entführung und einiger softpornographischer Szenen wurde der Film weltweit diskutiert. Frauen auf TikTok entdeckten, ähnlich wie bei Fifty Shades of Gray, Fesselspielchen und Entführungs-Fantasien für sich. Kritiker*innen schimpften über Stereotypen, die britische Sängerin Duffy nannte die Aktszenen sogar nicht Sex sondern Vergewaltigung. Am Ende tat der Film vor allem eins: provozieren.

Mafia-Boss Massimo hat Laura entführt, die wiederum gefallen an ihm findet.

Die deutschen Filmzeitschrift epd Film stellte in einem Beitrag fest, dass Netflix seit dem Erscheinen von 365 Tage im Jahr 2020 mehr polnische Produktionen ins Programm aufnahm – wohingegen deutsche Verleiher sowie das deutsche Fernsehen noch nicht das „Potenzial polnischer Filme und Serien“ erkannt haben. Dabei haben polnische Filme und Serien schon vor 365 Tage Tabubrüche gezeigt und gewagt.

Polen kann mehr als RomComs und 365 Tage

Die Geschichte des polnischen Films ist über 100 Jahre alt. Laut dem Sachbuch Der Polnische Film – Von seinen Anfängen bis zur Gegenwart (Schüren, 2012) haben polnische Filmemacher*innen seit „jeher im europäischen Film eine wichtige Rolle gespielt.“ Am präsentesten müsste den meisten die Filmdramen Ida (2013) und Cold War – Der Breitengrad der Liebe (2018) sein. Ida handelt von einer jungen Novizin, die kurz vor ihrem Gelübde herausfindet, dass sie eigentlich eine Jüdin ist. Cold War erzählt von einem Musiker-Paar, das sich während des Kalten Krieges verliebt. Beide Filme sind berührend, ergreifend, schafften es von Gesellschaft und Politik zu erzählen, aber bei den Protagonist*innen zu bleiben. Positive Kritiken wie Preise folgten, Ida gewann sogar einen Oscar. Ihr Regisseur Paweł Pawlikowski gilt als der Wegbereiter für den internationalen Durchbruch des polnischen Kinos.

Doch im überwiegend christlichen Polen provozierte Ida. So wurde vor der damaligen TV-Ausstrahlung eine kritische Diskussionsrunde geschaltet, in der behauptete wurde, der Film sei „ungenau“ und habe nur wegen seiner „pro-jüdischen Sichtweise“ einen Oscar gewonnen – was wiederum von der Europäischen Filmakademie und anderen Organisationen als xenophob verurteilt wurde.

Filme, die der Regierung missfallen, werden teilweise im Staatsfernsehen nicht ausgestrahlt oder bekommen keine Fördermittel, berichtet epd. „Man verweigert Filmen, die sich mit Themen wie Homosexualität befassen, einfach eine finanzielle Unterstützung für ihre internationale Festivalkarriere.“

Unverfrorenheit und gesellschaftliche Unterschiede

In Polen gibt es zahlreiche Filme, die für Aufsehen sorgen. Was sie eint, ist etwas Unverfrorenheit und der gezielte Blick auf gesellschaftliche Unterschiede oder landesübliche Situationen. Ida zum Beispiel war für das polnische Staatsfernsehen ein klarer Tabubruch und für die großen Geldgeber ein No-Go: ein polnisch-sprachiger Schwarz-Weiß-Film über ein düsteres Thema mit unbekannten Schauspielern von einem Regisseur, der nie eine Filmschule besucht hat und die klassischen Tricks des Kinos verabscheut? Keine Chance. Doch die Oscar Academy und Cineast*innen weltweit verliebten sich in seinen ungewöhnlichen, rauen, dokumentarischen Zugang.

Der Kalte Krieg und der Sumpf

Im Seriensegment sind meist dieselben polnische Erfolgszutaten vorhanden – und auch hier fielen in den letzten Jahren Netflix-Produktionen auf.

1983 (2018) stellt etwa die Frage, wie es in der Gesellschaft zugehen würde, wenn der Kalte Krieg noch im Gange wäre und Polen mächtiger als Russland. Die Mystery-Serie war die erste polnisch-sprachige Serien-Produktion von Netflix und reizte allein vom wagemutigen Thema. Kritiker*innen waren aufgrund der Verknüpfung von Intimität und Weltpolitik überzeugt – „ein Protagonist auf der Suche nach sich selbst und seiner Vergangenheit, das Geschichtsbild einer ganzen Nation, die Verschwörung hinter dem kleinen wie dem großen Bild“, heißt es im Nachrichtenmagazin Spiegel.

1983 war Teil der angekündigten Netflix-Strategie, Netflix-Original-Serien nicht nur überall auf der Welt anzubieten, sondern auch zu produzieren. Auch Serien wie Im Sumpf gehören dazu. Ein Thriller in fünf Folgen, der 2020 startete und mittlerweile in der zweiten Staffel läuft. Es geht um Mord, Macht, Vertuschung, Einschüchterung – und um Aufbegehren. „Rojst, so der Originaltitel, ist auf erfrischende Weise düster“, berichtet die österreichische Tageszeitung Der Standard.

Netflixwoche Redaktion

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