Darum sehen wir hoffentlich bald noch mehr Filme und Serien aus Mexiko

Auf Netflix kann man sich Filme auf über 25 Originalsprachen anschauen. Die Auswahl reicht von „Polnisch“ über „Koreanisch“ bis hin zu „Telugu“. In unserer Serie „Nur mit Untertiteln“ stellen wir Euch Länder vor, in denen zwar irre gute Filme gedreht werden — doch über die man in Deutschland zu wenig spricht. Dieses Mal: Mexiko.

Vier Kinder stapfen gut gelaunt durch die weiße Wüste. Die Kulisse gleicht dem Panorama der Pole – glitzerndes Weiß, soweit das Auge reicht. Doch statt durch Schnee marschieren die Kids mehrere Kilometer durch das pure Salz, das in der größten Saline der Welt abgebaut wird. Sie gehört zum Ort Guerrero Negro und liegt in Baja California Sur, einem Bundesstaat im Nordwesten Mexikos.

„Eine mexikanische Version von Stranger Things“

Die Szene ist der Beginn der Abenteuer von Jodie (gespielt von Bobby Luhnow) und seinen Freund*innen in der Fantasy-Verfilmung Der Auserwählte. Die Serie basiert auf dem Comic American Jesus von Mark Miller, in dem ein Teenager seine übersinnlichen Kräfte entdeckt und als Messias gefeiert und verfolgt wird. Doch im Gegensatz zur Buchvorlage spielt Der Auserwählte in Mexiko. Das Geschwisterduo Leopoldo und Everardo Gout verwebt die Geschichte und Mythologie von Baja California Sur mit ein wenig Coming-of-Age-Drama, dem Kampf von Gut und Böse sowie der großen Glaubensfrage der Menschheit.

Aufgrund des Fantasy-Plots, dem jungen Cast und der Kameraführung (Bild und Ton sind sehr sinnlich und kunstvoll) wird Der Auserwählte von der Kritik auch „eine mexikanische Version von Stranger Things“ genannt.

Jodie, „Der Auserwählte“, und die Gang auf dem Weg zur Meerjungfrau.

Jodie wandert – ähnlich wie Jesus – durch die Salzwüste, um an den Ufern der Lagune eine Meerjungfrau zu finden, die von den indigenen Einwohner*innen der Region „Chupia“ genannt wird. Die Überlieferungen der Yaqui ziehen sich wie ein roter Faden durch die Erzählung. „Mein Großvater hat mir erzählt, dass unsere Vorfahren sich in Wale verwandelt haben, um den Erobern zu entkommen. Die Wale können sich zwischen unserer und der Welt der Geister hin und her bewegen“, erklärt Tuka, als die Clique auf ihrer Suche nach der Meerjungfrau auf ein Walgerippe stoßen. Die Lagune, die die Salzfelder von Guerrero Negro speist, gehört zum UNESCO Weltkulturerbe und ist ein geschütztes Gebiet für Grauwale.

So viele Filmproduktionen wie noch nie 

Dass dem Land Mexiko, seinen Leuten, dem kulturellen Erbe und dem Schauspielnachwuchs so viel Raum gegeben wird, ist im Mainstream immer noch nicht oft gesehen. Gerne wird gewitzelt, dass Mexiko vor allem in Hollywood-Filmen und -Serien immer nur sepiafarben ist; gemeint ist der sogenannte Mexican Movie Filter. Zu sehen gibt es nur Drogenbarone, Migrant*innen und ab und zu eine Día de los Muertos-Party.

Aber mexikanische Filmschaffende sind aktiver denn je – was Hoffnung macht, dass noch mehr Filme und Serien auch einem globalen Publikum zugänglich werden. 2022 hat Mexiko schon das zweite Jahr infolge seinen eigenen Rekord gebrochen: Laut aktuellen Zahlen des Instituto Mexicano de Cinematografía (IMCINE) wurden insgesamt 258 Filmprojekte realisiert – so viele wie noch nie in der mexikanischen Filmbranche. „Nicht mal im Goldenen Zeitalter wurden so viele Filme gedreht“, sagte die IMCINE-Direktorin María Novaro. Damit bezieht sie sich auf den Zeitraum zwischen den 1930ern und 1950ern, in dem der mexikanische Film seinen großen Boom erlebte.

Del Toro warnte letztes Jahr vor Zerstörung des mexikanischen Kinos

Zu den mexikanischen Filmen, die 2022 rauskamen, zählen unter anderem der oscarprämierte Animationsfilm Guillermo del Toros PinocchioVergangenen Dezember hatte der Star-Regisseur (Pans LabyrinthThe Shape of Water) noch vor den desaströsen Folgen der staatlichen Etatkürzungen für den mexikanischen Film gewarnt. „Die systematische Zerstörung des mexikanischen Kinos und seiner Institutionen – deren Aufbau Jahrzehnte gedauert hat –  ist brutal,“ twitterte er damals.

Guillermo del Toro (Pinocchio) sorgt sich um den mexikanischen Film.

Dabei hat der mexikanische Film in den letzten Jahren beachtliche Erfolge gefeiert. Regisseur Alfonso Cuarón nahm 2019 für Roma einen Oscar für die beste Regie nach Hause, weitere goldene Trophäen bekam das Drama in den Kategorien „bester fremdsprachiger Film“ und „beste Kamera“. Sein Kollege Alejandro González Iñarritu wurde 2014 unter anderem für seine Regie von Birdman und The Revenant ausgezeichnet. Auch Bardo, sein erster Film seit langem, den Iñarritu komplett in Mexiko gedreht hat, war dieses Jahr für einen Oscar nominiert. Del Toro, der 2018 für The Shape of Water unter anderem einen Oscar für die beste Regie bekam, macht das Film-Trio komplett. Sein Spitzname? Die drei Amigos.

Mexikos Sparmaßnahmen werden zur Chance

Doch trotz der internationalen Erfolge der letzten zehn Jahre, setzt die mexikanische Regierung an der lokalen Filmindustrie den Rotstift an. Auslöser für Guillermo del Toros drastische Worte im vergangenen Winter war die Absage der Ariel Awards 2023. Die Aussetzung des wichtigsten Filmpreises in Mexiko ist eine der Konsequenzen der Sparmaßnahmen von Präsident López Obrador. Letztes Jahr machten die Förderung von Kunst und Kultur 0,27 Prozent des Bundeshaushalts aus, obwohl zusätzliche Beträge zur Verfügung gestanden hätten, so der mexikanische Think Tank Funbar. Gleichzeitig wurden dem IMCINE-Report zufolge 46 Prozent der mexikanischen Filmprojekte mithilfe von staatlichen Geldern finanziert.

Die Kreativen sind da, das Talent auch. Nur mangelt es an der Finanzierung. Die scheint nun von außen zu kommen. Dem US-Sender NPR zufolge produzieren immer mehr US- und europäische Produktionsfirma sowohl Serien- und Filmprojekte als auch Werbespots in Mexiko. 
„In den letzten Jahren ist Mexiko für Filminvestor*innen aus dem Ausland immer attraktiver geworden“, erklärt Luis García vom Mexikanischen Verband für Filmschaffende gegenüber dem Sender. 2019 stammten 15 Prozent der Projekte der Mitglieder von ausländischen Produktionsfirmen – 2022 habe diese Zahl bereits bei 36 Prozent gelegen.

Hollywood-Entertainment „Made in Mexiko”

Der Grund: geringere Produktionskosten und erfahrene Filmcrews. „Die Kosten belaufen sich oft auf ein Drittel vergleichbarer Produktionen in Los Angeles, ob gewerkschaftlich oder nicht“, sagte  Avelino Rodríguez im Gespräch mit NPR. Er ist CEO der mexikanischen Produktionsfirma The Lift und Präsident von Mexikos Filmkommission. Gleichzeitig betont er, dass der Schlüssel nicht nur Kostenersparnisse sind, sondern auch die fundierte Ausbildung mexikanischer Produzent*innen. „Wir haben den Nachwuchs ausgebildet, was sich sowohl für unsere Firma gelohnt hat als auch für die anderen Firmen, für die die Leute nach uns arbeiten.“

Salma Hayek in Black Mirror, Staffel 6.

Der mexikanische Film wird nicht nur von preisgekrönten Regisseur*innen wie den Drei Amigos vorangetrieben. Hinter den vieleb Filmprojekten, die im vergangenen Jahr umgesetzt wurden, stehen Hunderte versierte Crews. Hinzu kommen die Schauspieltalente: Salma Hayek war zuletzt im Black Mirror-Staffelauftakt  „Joan Is Awful“ zu sehen. Diego Calva , bekannt aus Narcos: Mexico, hat mit seiner Rolle in Babylon für Aufmerksamkeit gesorgt und wurde sogar für eine Golden Globe nominiert. Und Eiza González (I Care A Lot) aus Mexiko-Stadt gehört zu den bestbezahlten Schauspielerinnen Hollywoods.

Die Starpower gepaart mit der Expertise der erfahrenen Filmcrews und den günstigen Produktionsbedingungen ist eine vielversprechende Konstellation, für alle, die sich nach mehr Produktionen aus Mexiko sehnen – mit authentischem Storytelling und Repräsentation über Drogenbosse und Famer*innen hinaus.

Hier eine Auswahl an mexikanischen Titeln, die für Abwechslung sorgen:

Blumige Aussichten (La casa de las flores)

Die düstere Comedyserie dreht sich um die wohlhabende Familie de la Mora, die Inhaber eines Blumengeschäfts sind. Nach dem Tod der Geliebten von Patriarch Ernesto stellt sich jedoch raus, dass den de la Moras auch ein erfolgloses Varieté-Theater gehört.

Control Z

Die introvertierte Sofía mag nicht viele Freund*innen haben – dafür besitzt sie eine besondere Beobachtungsgabe. Die braucht sie auch, wenn sie herausfinden möchte, wer der mysteriöse Hacker ist, der plötzlich die Schule terrorisiert und damit droht, die Geheimnisse der Schüler*innen zu veröffentlichen.

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten (Bardo, falsa crónica de unas cuantas verdades)

In dieser Komödie wird ein mexikanischer Journalist und Filmemacher mit einem prestigeträchtigen Award ausgezeichnet, um diplomatische Wogen zu glätten. Zu diesem Anlass kehrt er in sein Heimatland zurück und stolpert so in eine existenzielle Krise.

I’m No Longer Here (Ya no estoy aquí)

Die Gang „Los Terkos“ verbringt ihre Tage vor allem mit Musik. Nach einem Missverständnis mit einem örtlichen Drogenkartell muss ihr Anführer Ulises Samperio in die USA nach Jackson Heights in Queens auswandern – doch er will so schnell wie möglich zurück.

Noise (Ruido)

Julia ist eine von vielen Müttern, deren Leben durch die landesweit verbreitete Gewalt gegen Frauen auf den Kopf gestellt wurde. Auf der Suche nach ihrer verschollenen Tochter begegnet sie verschiedenen Frauen, zu denen sie eine ein unzertrennliches Band knüpft.

Netflixwoche Redaktion

Drücke ESC, um die Suche zu schließen.