The Good Doctor: Wie realistisch ist die Darstellung von Autismus in der Serie?

In der Erfolgsserie The Good Doctor spielt Freddie Highmore den jungen brillanten Chirurgen Dr. Shaun Murphy. Das Ungewöhnliche: Murphy ist Autist. Wie realistisch ist die Darstellung von Autismus in der Serie?

In der ersten Folge von The Good Doctor sehen wir Shaun Murphy (Freddie Highmore) am Flughafen von San Jose, wo er versucht, mit der Reizüberflutung um ihn herum fertig zu werden. Die Lichter der Monitore, das Piepen der Gepäckwagen, die Menschenmasse um ihn herum – all das nimmt ihn mit, sein Blick wirkt panisch, er zerknüllt mit den Fingern immer wieder ein Stofftaschentuch. Dann geschieht vor seinen Augen ein Unfall. Ein kleiner Junge wird durch ein herabstürzendes Schild verletzt, blutet am Hals, ist bewusstlos. Ein Arzt ist zur Stelle. Shaun schaut scheinbar emotionslos zu, wie der rasch handelnde Mediziner mit einem T-Shirt eine Blutung an der Halsvene des Jungen zu stoppen versucht. Eine Menschenmenge beobachtet das Geschehen; hoffnungsvoll, dass der Junge gerettet werden kann. Shaun sieht zu und erklärt deutlich Richtung des Arztes: „Sie bringen ihn um.“ Shaun greift ein, korrigiert ruhig und bestimmt die Maßnahmen des Arztes und rettet dem Jungen das Leben.

Es ist eine großartige Szene, eine perfekte Einführung der Figur des Shaun Murphy. Shaun ist ein junger brillanter Assistenzarzt und Autist mit Savant-Syndrom, einer sogenannten Inselbegabung. Die ermöglicht ihm außerordentlichen diagnostischen Scharfsinn – schränkt ihn aber gleichzeitig in der zwischenmenschlichen Kommunikation ein. Emotionen sind Murphy oft unverständlich.

In der Serie geht es darum, ob und wie Murphy es schafft, in seiner neuen Position als Assistenzarzt im Krankenhaus es sich und anderen zu beweisen, dass er trotz und wegen seiner autistischen Störung der richtige Mann für den Job ist.

In der ersten Folge der Serie kann Shaun dank seiner besonderen Fähigkeiten einem kleinen Jungen am Flughafen das Leben retten.

Was ist Autismus?

Der Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus, Autismus Deutschland e.V. definiert Autismus als eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus (bzw. Autismus-Spektrum-Störungen) auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung. Das bedeutet zum Beispiel, dass Menschen mit Autismus keinen Sarkasmus verstehen, Blickkontakt vermeiden, herumlaufen, die Hände und Arme nervös herum flattern lassen oder ähnliches.

Da es eine Vielzahl von Varianten gibt, wird heute der Begriff der „Autismus-Spektrum-Störung“ als Oberbegriff verwendet. Menschen mit Autismus können soziale und emotionale Signale nur schwer einschätzen und haben ebenso Schwierigkeiten, diese auszusenden. Die Reaktionen auf Gefühle anderer Menschen oder Verhaltensanpassungen an soziale Situationen sind selten angemessen.

Die Besonderheiten im Verhalten sind charakterisiert durch eingeschränkte, sich wiederholende und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten. Alltägliche Aufgaben werden starr und routiniert ausgeführt.

Neben diesen Merkmalen neigen Menschen mit Autismus häufig auch noch zu einer Reihe weiterer psychischer Begleitstörungen, wie übergroße Befürchtungen, Phobien, Schlaf- und Essstörungen sowie herausforderndes Verhalten in Form von Wutausbrüchen und fremd- oder selbstverletzenden Verhaltensweisen. Die meisten Menschen mit Autismus lassen Spontanität, Initiative und Kreativität vermissen. Sie haben Schwierigkeiten, Entscheidungen zur Bewältigung einer Aufgabe zu treffen, auch wenn die Aufgabe kognitiv zu bewältigen wäre.

Autismus wurde erst im Jahr 1943 vom US-amerikanischen Psychiater Leo Kanner erstmalig diagnostiziert. Sein Patient Nummer 1, Donald Tripplet, verstarb 89-jährig erst in diesem Jahr.

Was ist das Savant-Syndrom?

Bei manchen autistischen Menschen liegt darüber hinaus das Savant-Syndrom vor. In der amerikanischen Fachzeitschrift Scientific American schreibt der Psychiater und Autismus-Forscher Darold A. Treffert , dass bei 75 Prozent der Menschen mit Savant-Fähigkeiten – wie bei der Figur des Dr. Shaun Murphy in The Good Doctor – eine Autismus-Spektrum-Störung zugrunde liegt. Treffert war auch der Berater für den Film Rain Man, in dem 1988 Dustin Hoffman einen Autisten spielte und einen Oscar gewann.

Die Faszination des Savant-Syndroms liegt in dem verblüffenden Vorhandensein von außergewöhnlichen Fähigkeiten und erheblichen Störungen bei ein und derselben Person. Meist sind es außerordentliche Begabungen in den Bereichen Kunst, Musik und Mathematik.

Unabhängig von der Art der Fähigkeit geht sie immer mit einem erstaunlichen Gedächtnis einher. So ist es auch bei Dr. Shaun Murphy in The Good Doctor: Er hat ein fotografisches Gedächtnis, kennt zum Beispiel alle Blutgefäße im Körper auswendig, und hiermit einen Vorteil gegenüber seinen medizinischen Mitbewohnern. Dr. Murphys Nachteil: Blickkontakt und Patientengespräche fallen ihm schwer.

Das Savant-Syndrom ist nicht IQ-abhängig. Ungefähr 25 Prozent der Savants haben einen überdurchschnittlichen IQ. Es tritt bei Männern fünfmal so häufig auf wie bei Frauen. Der Zustand kann angeboren oder bei Erwachsenen nach einer Kopfverletzung, Demenz, einem Schlaganfall oder einem anderen Vorfall im zentralen Nervensystem eingetreten sein.

Dr. Shaun Murphy hat das Savant-Syndrom, eine Inselbegabung die bei ihm mit einem fotografischen Gedächtnis einhergeht und ihm als Arzt außergewöhnliche diagnostische Fähigkeiten beschert.

Nicht alle Autisten sind Savants, und nicht alle Savants haben Autismus

In der Darstellung von Autismus in Filmen und Serien überwiegen oft die Savants. Natürlich faszinieren uns Menschen mit einer Inselbegabung und deshalb ist es verständlich, dass sie häufiger – wie in The Good Doctor oder in Rain Man – Protagonist*innen in Geschichten sind.

Dies verschiebt die Wahrnehmung von Autismus allerdings: Oft wird angenommen, jeder Autist sei ein nerdiges Genie. Dabei sind Autisten vor allem eines: unterschiedlich. In der britischen Tageszeitung The Guardian schreibt ein Vater einer autistischer Tochter: „Das den Blickkontakt-meidende, roboterhaft klingende Genie ist für Hollywood immer noch der Autist der Wahl.“

Oft wird, so heißt es im Guardian weiter, „in Filmen eine falsche Version von Autismus verkauft, die dazu führt, dass die Leute erwarten, dass alle Autisten eine besondere Fähigkeit haben.“ Dabei sind eben nicht alle Autisten Savants, und nicht alle Savants haben Autismus.

Ist es möglich, dass ein Savant Chirurg werden kann?

Darold A. Treffert hat eine Liste über Savants auf der ganzen Welt angelegt und hier finden sich Menschen mit Savant-Syndrom, die einen Abschluss in Musik, Kunst und Mathematik von angesehenen Universitäten oder Konservatorien haben und ihr Handwerk mit Auszeichnung ausüben. So erwähnt Treffert beispielsweise Temple Grandin, eine renommierte Doktorin der Tierwissenschaften, die weltweit Vorträge hält.

Treffert: „Der einschränkende Faktor für den Abschluss des Medizinstudiums und der Facharztausbildung sowie die anschließende Tätigkeit als Arzt ist das Ausmaß der zugrunde liegenden Störung. Bei Autismus kann dies von einer geringen bis hohen Funktionsfähigkeit reichen. Jede anwendbare Begabung wäre ein Pluspunkt, aber nicht der einzige Faktor für den Erfolg.“

Menschen mit Savant-Syndrom können - wie in The Good Doctor – durchaus als Arzt arbeiten, das Ausmaß der Funktionsfähigkeit ist dabei entscheidend.

Wie gut ist Freddie Highmores Darstellung eines Autisten?

David Shore, der schon die Idee zu Dr. House hatte, und sein Team hatten natürlich fachkundige Beratung. Und speziell Hauptdarsteller Freddie Highmore hat sich intensiv mit Autismus auseinandergesetzt.

So arbeitet Highmore eng mit der Organisation Autism Speaks zusammen. Im Interview mit der Onlineseite dwdl sagt er: „Ich habe mich bereits vor dem Dreh mit autistischen Menschen beschäftigt und dadurch ein Verständnis dafür bekommen, wie sie ticken. So habe ich verstanden, dass sie nicht emotionslos sind, sondern einfach anders auf Situationen reagieren. Es war mir ein Anliegen, mit einem gewissen Respekt an die Rolle zu treten, aber auch keine Angst zu haben, die dunkleren Seiten des Autismus zu zeigen, wenn es nötig ist.“

Und so gab es auch viel Lob aus den Reihen der Autisten-Community für Highmores Spiel und die Serie, auch außerhalb der (teilweise in der Community umstrittenen) Organisation Autism Speaks. Kerry Magro, Autist und Bestsellerautor, schreibt in seinem Blog: „Freddie Highmore macht es gut und zeigt verschiedene Merkmale, die mit Autismus einhergehen können. Dinge wie soziale Unbeholfenheit, mangelnder Augenkontakt, das Spielen mit den Händen in Stresssituationen … immer noch etwas, was ich bis heute mache.“

Die Autismus-Spektrum-Störung weist – wie die Bezeichnung „Spektrum“ schon sagt – eine Variationsbreite auf, mit unterschiedlichsten Ausprägungen und Verhaltensweisen. Den Autismus gibt es also nicht. Bei einer so differenzierten psychischen Störung gibt es natürlich auch kritische Stimmen.

So äußerte Dr. Arshya Vahabzadeh, Psychiater und Autismus-Spezialist auch einige Kritikpunkte: „Autismus ist ein riesiges Spektrum. Die übermäßig roboterhafte Natur des Charakters Dr. Murphy gilt nicht für viele Menschen, die ich mit Autismus kenne.“

Highmore selbst merkt an, dass es „unmöglich sei, dass dieser einzelne Charakter alle autistischen Menschen repräsentieren könne.“

Keir Gilchrist spielt in der hochgelobten Netflix-Comedy-Drama Serie Atypical den autistischen Teenager Sam Gardener.

Die besten Filme und Serien mit autistischen Charakteren

Diese unterschiedlichen Autismus-Ausprägungen werden auch von verschiedenen Charakteren in mittlerweile diversen Filmen und Serienformaten repräsentiert, wie Kerry Magro anmerkt: „Es gibt keine Einheitsformel, wenn es darum geht, Charaktere aus dem Autismus-Spektrum darzustellen. In den letzten Jahren sind eine Reihe von Filmen und Serien mit autistischen Charakteren gedreht worden. Diese sind sehr unterschiedlich und das ist auch gut und richtig so. Etwa Figuren wie Walter Hill in Joyful Noise, Jane in Jane Wants a Boyfriend und Sam Gardener, ein hochfunktionaler Teenager mit Autismus in der Netflix-Serie Atypical.“

Neben diesen Beispielen hat auch die bei Netflix abrufbare Serie Die Brücke mit Kommissarin Saga Norén (Sofia Helin) eine Autistin als Protagonistin. Das großartige hier: Autismus wird kein einziges Mal erwähnt.

Sofia Helin spielt in der Netflix-Serie Die Brücke eine Kommissarin mit autistischen Zügen. Hier mit ihrem Partner Kommissar Martin Rohde (Kim Bodnia).

Eine Entwicklung, die auch Fabian Diekmann, Fachreferent vom Bundesverband Autismus Deutschland e.V begrüßt. Der Verband hat eine tolle Liste mit vielen Filmen und Serien zum Thema Autismus zusammengestellt. Gegenüber dem Onlinemagazin rainbowworld sagt Diekmann: „Trotz aller Kritik wollen wir den Serien-Trend um das Thema Autismus absolut nicht verteufeln. Er hilft der Entstigmatisierung und kann dabei helfen, Menschen mit Autismus aus dem Abseits in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Filme und Serien können Ängste nehmen und mehr Verständnis und Toleranz für Betroffene bringen. Man sollte nur eben wissen, dass in fast all diesen Serien ein bisschen Wahrheit und auch ein bisschen Quatsch steckt.“

Netflixwoche Redaktion

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