Romy Hausmann über Liebes Kind: „Die ersten Folgen habe ich nur geheult“

„Man kann ja gar nicht durch das Fenster schauen“, sagt die Krankenschwester Ruth und tippt auf die Kinderzeichnung. „Das muss man auch nicht“, sagt die kleine Hannah. Sie zeichnet ein Bild von ihrem Zuhause. Die Fenster malt sie schwarz aus. „Die Fenster sind abgedichtet,“ erklärt sie, „weil der Zirkulationsapparat die Luft für uns macht.“

In der neuen Netflix-Miniserie Liebes Kind geht es um ein albtraumhaftes Familienleben: Lena (gespielt von Kim Riedle), die Kinder Hannah (Naila Schuberth) und Jonathan (Sammy Schrein) leben in einer Hütte, die mit einem Schloss verriegelt ist. Der Mann, der den Schlüssel hat, entscheidet, wann sie essen und auf die Toilette gehen. Jahrelang. Bis Lena es schafft, zu fliehen.

Liebes Kind basiert auf dem gleichnamigen Thriller-Bestseller der Autorin Romy Hausmann. Das Drehbuch wurde von Isabel Kleefeld als Hauptautorin in Zusammenarbeit mit Julian Pörksen entwickelt – beide führen auch Regie. Im Netflixwoche-Interview erzählt Hausmann, wie es ist, wenn die eigenen Romanfiguren lebendig werden, welche Verantwortung Thriller-Autor*innen tragen und warum Familie auch ein düsteres Thema sein kann.

Netflixwoche: Wie ist es für dich, deine Geschichte verfilmt zu sehen? 

Romy Hausmann: Es war richtig abgefahren. Ich war einen Tag am Set und dachte: Oh mein Gott, das ist nicht wahr! Da waren hunderte von Menschen, diese ganzen Vans und Lichter, die Regieklappe auf der Liebes Kind steht. Als ich die Serie dann gucken durfte, habe ich über die ersten zwei, drei Folgen nur geheult. Ich konnte es nicht fassen: Ich habe das auf meinem kleinen, blöden Laptop in ein Word-Dokument getippt und plötzlich ist das so groß. Und alle, die am Projekt beteiligt waren, haben so viel reingesteckt. Sie sind dabei genauso an ihre Grenzen gegangen wie ich beim Schreiben.

Dein Thriller-Debüt hat sofort einen Nerv getroffen, als es veröffentlicht wurde: Liebes Kind war einer der meistverkauften Romane 2019 und auf Platz 1 der Spiegel Bestsellerliste. Wie war der plötzliche Erfolg für dich?

Ich verstehe das bis heute nicht so richtig. Ich gehe an die Sache ein bisschen ran, wie ein staunendes Kind im Süßwarenladen: Das Buch ist in 26 Ländern erschienen. Viele Menschen haben es in vielen Sprachen gelesen, und die schreiben mir Nachrichten und geben mir Feedback. Das ist einfach das Geschenk meines Lebens. Und ich sehe dadurch, was Geschichten auslösen können und wie sie Menschen verbinden.

Romy Hausmann ist Schriftstellerin und Journalistin. Ihr Thrillerdebüt Liebes Kind landete 2019 auf Platz 1 der Spiegel Bestsellerliste. (Foto: Christian Faustus)

Den Drehbuchautor*innen hast du dein Buch vertrauensvoll in die Hände gegeben. Ist es nicht schwer, das eigene Werk loszulassen?

Mir fiel das sehr leicht. Ich hatte großes Glück mit Menschen wie der Autorin und Regisseurin Isabel Kleefeld und dem Produzenten Tom Spieß. Ich wusste: Die haben den Stoff begriffen. Ich bin sehr froh, dass ich dieses Grundvertrauen hatte, weil einen das sonst auch aufreiben kann. Dass man Änderungen machen muss, war mir klar. Ich habe früher auch fürs Fernsehen gearbeitet. Es gibt Dinge, die nur auf Papier funktionieren, aber als Bewegtbild wird es tricky.

Wie ist es zu sehen, wie die eigenen Figuren lebendig werden? Sind sie so, wie du sie dir beim Schreiben vorgestellt hast?

Die Kinder sind der absolute Knaller! Im Buch habe ich mir Hannah vorgestellt wie in dem Neunziger-Horrorfilm Das Dorf der Verdammten. Da haben die Kinder hellblonde Pagenköpfe und leuchtende Augen. Jetzt in der Serie sind sie viel besser getroffen. Und wer mich richtig umgehauen hat, war Kim Riedle. Ich schwöre, genau so habe ich Lena gesehen.

Die Geschichte von Lena erinnert ein bisschen an Vertigo von Alfred Hitchcock. Hast du beim Schreiben Vorbilder, die dich inspirieren?

Der Film Noir aus den Vierzigern und Fünfzigern ist teilweise viel origineller erzählt als das, was wir heute haben. Ich liebe es, wenn Figuren sich entwickeln können und du eben nicht in Minute drei gleich mit der Explosion um die Kurve kommen musst. Mich inspirieren auch spanische Filme – zum Beispiel von Oriol Paulo, einem ganz großartigen Regisseur – , die sind extrem mutig. Das denke ich oft bei Vorlagen: Wir haben in Deutschland manchmal ein bisschen Scheu davor, dem Publikum etwas zuzutrauen, eine geistige Eigenleistung zu fordern. Es muss immer sehr mit dem Hammer erzählt sein, immer alles Schlag auf Schlag. Das ist so ein bisschen die deutsche Mentalität. Ich finde deshalb toll, dass die Serie nicht nur spannend, sondern auch anspruchsvoll ist. Dadurch wirkt sie sehr international.

Kim Riedle spielt in Liebes Kind Lena.

Isabel Kleefeld sagt, sie habe Liebes Kind mit großer Begeisterung gelesen. Was glaubst du, macht es so besonders in der Thriller-Landschaft?

Das ist wahrscheinlich die Figur Hannah. Ihre Perspektive ist extrem originell und neu. Ich habe vor Liebes Kind viele Verlagsabsagen für meine Manuskripte kassiert. Die Menschen haben gesagt: Was du machst, ist geil. Aber es ist auch sehr sperrig. Bei Liebes Kind wollte ich das nicht verlieren. Also wurde Hannah die Figur, in der ich meine ganze Sperrigkeit unterbringen konnte. An den Stellen, die aus ihrer Perspektive erzählen, habe ich das Gefühl, das ist komplett meins. Und an anderen Stellen lasse ich mich dafür mehr auf Genrekonventionen ein. Und das ging dann doch ganz gut, weil ich immer meine Hannah hatte.

Du schreibst aus der Perspektive eines Kindes, das schlimme Dinge durchlebt: Hannah ist ihr gesamtes Leben eingesperrt, muss strenge Regeln befolgen und sieht viel Gewalt. Wie hast du dich in sie hineinversetzt?

Die Grundidee war: Kann es eine Figur geben, die sich auf dieser Welt bewegt, wie ein Alien? Nicht, weil sie von einem fremden Planeten kommt, sondern weil sie ihr ganzes Leben in einer Hütte verbracht hat. Man kennt die sozialen Regeln nicht, die wir jeden Tag miteinander leben. Wie würde ich mich fühlen? Wie würde ich mir eine Häuserfront angucken? Wie wäre es, in einem Raum voller Menschen zu sein? Ich stelle mir vor, ich sehe alles zum ersten Mal.

Hannah zählt gerne, misst Entfernungen und sagt neunmalklug Definitionen auf. Wieso tut sie ausgerechnet das, um sich sicher zu fühlen?

Ich habe 2006 Natascha Kampuschs Fernsehinterview mit Günther Jauch gesehen. Das war ein paar Wochen, nachdem sie ihrem Entführer entkommen ist. Ich habe dieses Interview nie vergessen, weil ich so überwältigt war, wie diese junge Frau da sitzt, nach so vielen Jahren, die sie im Keller verbracht hat. Sie war so gebildet und sie konnte sich so toll ausdrücken. Man hat gemerkt: Sie hat gelernt, sie hatte Schulbücher und hat eine Weltsicht entwickelt – trotz dieser Umstände in entscheidenden Lebensphasen. Hannah, die auch in einer isolierten Umgebung ist, studiert intensiv Bücher. Weil sie die Welt nicht kennt, lernt sie die Definitionen darüber aus einem Lexikon auswendig. Ich fand es spannend, sie mit diesen Definitionen auf die Welt loszulassen. Als Leser*in oder jetzt auch Zuschauer*in merkt man, wie dann Theorie und Praxis miteinander crashen.

Jonathan (Sammy Schrein) und Hannah (Naila Schuberth) leben in einer Hütte, die mit einem Schloss verriegelt ist.

Wie du Liebes Kind anlegst, ist unkonventionell: Der Roman und die Serie beginnen mit der Rettung. Warum hast du dich entschieden, die Geschichte so zu erzählen?

Weil das ein Punkt ist, der in vielen Fällen vernachlässigt wird. Du erzählst ein Verbrechen. Zack, bumm: Das Verbrechen ist erledigt. Das Opfer ist entkommen. Ja, schönes Leben noch. Das ist nicht so in der Realität. Genau da fängt das richtige Grauen für das Opfer erst an: Ein Trauma, das es zu bewältigen gibt. Ich finde es toll, wenn Literatur auch das echte Leben bedient. Es passiert oft, dass Opfer mir schreiben: Ich habe mich in deinem Buch gefunden. Das ist für mich das größte Kompliment.

Du hast auch ein Buch mit True Crime-Geschichten geschrieben und du moderierst den Tatort-Podcast beim SWR. Trägt man eine besondere Verantwortung, wenn man über Verbrechen spricht?

Die meisten von uns können sich glücklich schätzen, dass wir nicht wissen, wie es sich anfühlt, Opfer geworden zu sein. Gerade diese Podcasts, Bücher oder Dokumentationen über True Crime konsumieren wir inzwischen wie Unterhaltung. Und das, glaube ich, ist eine ganz gefährliche Kiste. Wir dürfen nicht vergessen, dass das echt ist. Ich war an einem Punkt, an dem ich dachte: Ich denke mir Verbrechen aus. Im Grunde zum Spaß. Ist das richtig? Also wo ist meine Moral?

In Liebes Kind gibt es auch Gewalt: Lena wird von ihrem Entführer geschlagen und erniedrigt. Hast du als Autorin eine Antwort darauf gefunden, wie du so etwas zeigen willst?

Ich habe mich bewusst entschieden, dass es in Liebes Kind keine Vergewaltigungsszene geben soll. Es gibt eine Szene im Buch, in der auf Lena uriniert wird – was ich wirklich schlimm finde. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass Autor*innen in meiner Position, die ein gutes Leben haben und gar nicht wissen, wie sich so eine Scheiße anfühlt, sich bequem vom heimischen Sofa aus solche Dinge ausdenken und ausweiden. Ich finde so etwas respektlos. Deswegen möchte ich es anders machen. So ein Thriller ist ja auch eine super Möglichkeit, Themen in die Gesellschaft zu bringen, die noch gar nicht beachtet werden.

Der Täter in Liebes Kind baut sich mit Gewalt wie besessen eine eigene Fantasiewelt auf. Wie hast du dich der Psyche so eines Menschen angenähert?

Ich glaube sehr stark an das Gute in uns. Ich kann nicht glauben, dass Menschen böse geboren werden. Deshalb interessiert mich: Was muss passieren, damit normale Menschen kippen? Wie kommen sie dahin, andere zu quälen? Bei Serienkillern weiß man: Die haben in der Kindheit überdurchschnittlich lange ins Bett gemacht oder Katzen gequält. Da gibt es oft ein Thema mit den Eltern. Vielleicht eine Mutter, die emotional abwesend war. Ein Vater, der geprügelt hat. Es gibt gewisse Muster, die sich wiederholen. Und danach ist auch die Figur des Täters gestrickt. Er hat etwas verloren und verkraftet den Verlust nicht.

Familie ist ein wiederkehrendes Thema in deinen Büchern. Liegt das daran, dass man damit besonders abgründige Geschichten erzählen kann?

Ich glaube, es sind genau die Geschichten, die in einem möglichst kleinen Kreis spielen, die richtig fies auf einen wirken, weil man sie nachvollziehen kann. Wenn in irgendeinem anonymen Hochhaus in Tokio eine Bombe explodiert, kann man das nicht nachfühlen. Wenn ich aber eine Geschichte über Familie erzähle, denkt man als Leser*in automatisch an das eigene Leben. Familie macht uns verletzlich. Im Grunde sind wir diesen Menschen ausgeliefert, weil wir sie lieben. Bei mir geht es viel um Liebe. Und ich zeige, wie das Bedürfnis zu beschützen, in eine ganz gefährliche Richtung ausarten kann.

Zur Person

Romy Hausmann ist Schriftstellerin und Journalistin. Ihr Thriller-Debüt Liebes Kind landete  2019 auf Platz 1 der Spiegel Bestsellerliste, wurde mit dem Cologne Crime Award prämiert und in 26 Sprachen übersetzt. 2020 folgte der Thriller Marta schläftUnd 2022 veröffentlichte Hausmann den Roman Perfect Day sowie das Sachbuch True Crime. Der Abgrund in Dir. (Foto: Christian Faustus)

Emeli Glaser, Netflixwoche

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