Hinter den Kulissen von Liebes Kind: Santaolalla und die Macht der Stille

Nein, Noten hat er nie gelernt. Der 72-jährige Gustavo Santaolalla lächelt in seinen grauen Rauschebart. Die lange Haarmähne ist in zwei neckischen geflochtenen Zöpfen gebändigt. Zusammen mit dem ebenfalls aus Argentinien stammenden Juan Luqui (32) hat Santaolalla den Soundtrack zur neuen deutschen Netflix-Miniserie Liebes Kind produziert.

Gustavo Santaolalla ist eine Legende in seinem Heimatland Argentinien, ach was – in ganz Lateinamerika und der riesigen Latino-Community in den USA. Das amerikanische Time Magazin listet ihn unter den 25 einflussreichsten Lateinamerikanern in den USA. Hierzulande kennen nur wenige seinen Namen. Seine Musik aber haben fast alle schon gehört. Zwei Oscars hat er gewonnen – für die Soundtracks zu Brokeback Mountain und Babel. Und Zocker*innen kennen seine Klänge aus den Endzeit-Games The Last Of Us und The Last Of Us 2. Seit über 50 Jahren macht Santaolalla Musik.

„Schon als 16-Jähriger, als ich meine erste Band gründete, haben wir Altes mit Neuem kombiniert. Ich habe mich immer auch mit den traditionellen Genres beschäftigt und die alten Instrumente bewundert. Nicht nur die aus Argentinien, sondern auch die aus anderen Ländern Lateinamerikas“, sagte er in einem Interview mit dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel.

Genau dieses Vermischen von Tradition und Moderne erregte das Missfallen der faschistischen Militärjunta Argentiniens. „1978, ich war gerade 26 Jahre alt, musste ich aus Argentinien flüchten, weil ich auf den schwarzen Listen der Diktatur stand.“ Santaolalla ging in die USA nach Los Angeles, machte weiter und immer erfolgreicher Musik, ohne dabei seine Wurzeln zu vergessen. Zu seinen zahlreichen Arbeiten als Komponist, Produzent und Musiker gehören Kooperationen mit Juanes, Cafe Tacuba und Molotov. Für Juanes und Cafe Tacuba erhielt er 2001 und 2003 den Latin Grammy als Produzent.

Die Zusammenarbeit mit der Produktion von Liebes Kind rührt auch daher, dass Santaolalla ein besonderes Verhältnis zu Deutschland hat. In einem Interview mit dem deutschen Teufel-Blog sagt er: „Ich habe eine Schwäche für Deutschland. Auch weil ich in einer kleinen Stadt am Rande von Buenos Aires aufgewachsen bin, die von Deutschen gegründet wurde. Ich bin sogar in der deutschen Gartenstadtschule zur Schule gegangen. Hatte deutsche Freunde mit deutschen Nachnamen. Daher verstehe ich noch ein bisschen und kann auch Deutsch lesen. Wir haben damals sogar das Sportabzeichen gemacht. Ich war natürlich auch schon viele Male in Berlin. Eine tolle Stadt, ein großartiger Ort für Künstler. Und das gefällt mir.“

Den Wunsch, einmal wieder an einem deutschen Projekt mitzuarbeiten, hatte Santaolalla, seit er 2010 die Musik für Joseph Vilsmaiers Film Nanga Parbat komponierte.

Bei Liebes Kind reizte ihn der Plot: „Es ist sehr gewalttätig und hat harte und grobe Momente, doch gleichzeitig hat es etwas sehr Zerbrechliches. Menschen stehen am Abgrund, sind kurz vorm Zerbrechen. Es boten sich tolle Möglichkeiten, verschiedene Dinge auszuprobieren. Etwa den Mix aus elektronischer mit akustischer Musik. Liebes Kind war dafür perfekt“, sagt Santaolalla im Gespräch mit Netflix. Dabei sei es eine große Herausforderung gewesen, „Spannung musikalisch zu erzeugen, die nicht nur aus dun dun dun dun dun dun besteht.“

Nicht ohne meine Kinder – in Liebes Kind flieht eine Familie.

Auf der Suche nach neuen Wegen war und ist Santaolalla sein Leben lang. Dabei entwickelt er seine Filmkompositionen vom Drehbuch aus. Oft inspiriert seine Musik die Regisseur*innen bei ihrer Inszenierung. Als wichtigste Komponente seiner Arbeit nennt Santaolalla gegenüber Teufel-Blog die Suche und das Finden der eigenen Stimme, der eigenen Identität. Dabei darf man sich durchaus einmal verlieren. „Das ist, als würde man falsch von der Autobahn abfahren. Du musst dann zurückfahren, um die richtige Ausfahrt zu finden."

Santaolalla ureigene Identität besteht immer auch im Mut zur Lücke, zur Pause, zur Stille. „Der bewusste Einsatz von Stille ist ein beredtes Schweigen. Diese Stille hat dann eine Aussage. Es ist eine Stille, die weiterführt. Wie ein Schweben in der Luft, darauf wartend, dass die nächste Note einsetzt.“ Denn auch wenn Gustavo Santaolalla nie Notenlesen gelernt hat – er fühlt sie.

Darum geht es in Liebes Kind:

Lena (Kim Riedle) und die beiden Kinder Hannah (Naila Schubert) und Jonathan (Sammy Schrein) werden in einem fensterlosen Haus gefangen gehalten. Für alles gibt es einen festen Ablauf und Regeln: Essen, Toilettengänge, Gutenachtgeschichten, Sauberkeitskontrollen.

Eines Nachts gelingt Lena mit der kleinen Hannah die Flucht. Lena wird dabei von einem Auto angefahren und in ein Krankenhaus gebracht. Noch in der gleichen Nacht reisen Lenas Eltern Matthias (Justus von Dohnányi) und Karin (Julika Jenkins) an, ihre Tochter wird seit 13 Jahren vermisst. Am Krankenbett erleben Matthias und Karin eine schockierende Überraschung.

Netflixwoche Redaktion

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