„Normalerweise stehen Menschen wie wir nie im Mittelpunkt“ – Colman Domingo über Rustin

Colman Domingo war gerade in seinem ersten Studienjahr an der Universität, als er zum ersten Mal von Bürgerrechts-Pionier Bayard Rustin hörte. Rustin – der Vordenker des historischen Marsches auf Washington von 1963, bei dem Dr. Martin Luther King Jr. seine berühmte „I have a dream“-Rede hielt – war nur eine Fußnote in seinem Lehrbuch. Ein kaum beachtetes Flüstern. Manchmal vernachlässigt die Geschichtsschreibung wichtige Stimmen. Oder verschweigt sie bewusst.

Erst Jahre später, in den 90er Jahren, erfuhr Domingo beim Lesen des Drehbuchs für Brian Freemans Theaterstück Civil Sex, wie einflussreich der Organisator Rustin war. „Ich dachte: Moment mal, wie bitte?! Dieser offen schwule Mann hat also den Marsch auf Washington organisiert und Dr. King zum gewaltlosen Widerstand inspiriert und die Lehren Gandhis nahe gebracht… Warum weiß ich davon nichts?“

Der in Philadelphia geborene Schauspieler Colman Domingo (bekannt für u.a. Euphoria), erinnert sich an seine Reaktion: „Ich fühlte mich einfach von meiner ganzen Schul- und Universitätsbildung betrogen.“

Das geht vielen so. Aber mit der Veröffentlichung des neuen Netflix-Films Rustin unter der Regie von George C. Wolfe wird nun die Geschichtsschreibung korrigiert.

Colman Domingo im Porträt. Foto: Sharif Hamza

Rustin lässt die Hochphase der Bürgerrechtsbewegung im Vorfeld des Marsches auf Washington wieder lebendig werden. Der Marsch war entscheidend für die Verabschiedung des bahnbrechenden Civil Rights Act von 1964. Das Gesetz verbietet Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationaler Herkunft.

Der Film schildert die Kämpfe, die der Wegbereiter Bayard Rustin überwinden musste, um den Lauf der Geschichte zu verändern – insbesondere als schwuler Schwarzer Mann in einer Zeit, in der Homosexualität ein Tabu war. Der Film beleuchtet auch die komplizierten Beziehungen zwischen Rustin und Dr. King (Aml Ameen) und anderen führenden Persönlichkeiten der damaligen Zeit.

„Ich habe alles, was ich brauche, um diesen Mann mit seiner ganzen Menschlichkeit zu verkörpern, mit seinem Humor, seiner Sexualität, seiner Freude. Ich habe keine Angst, irgendeinen seiner Räume zu betreten.“

Colman Domingo

Das Drehbuch schrieben Julian Breece (When They See Us) und Oscar-Preisträger Dustin Lance Black (Milk). Die Produktionsleitung lag bei Oscar-Preisträger Bruce Cohen, Wolfe und Tonia Davis. Und die Produktion wurde von Higher Ground übernommen – der Produktionsfirma von Barack und Michelle Obama.

Foto: Sharif Hamza

Hauptdarsteller Colman Domingo fühlte sich persönlich verpflichtet, Rustin authentisch zu porträtieren – er glaubt, dass das Schicksal ihm diese Rolle bescherte. „Ich habe das Gefühl, dass Bayard seit Jahren auf meiner Schulter sitzt und sagt: Du bist derjenige, der meine Geschichte erzählen soll“, erzählt er.

Dieses Gefühl haben ihm im Laufe seiner jahrzehntelangen Karriere schon viele Menschen gespiegelt. Vielleicht weil Rustin und Domingo so viel gemeinsam haben: Schwarz, schwul, Linkshänder, gleiche Größe, gleiches Gewicht, aus Städten, die eine Stunde voneinander entfernt in Pennsylvania liegen.

Aber der Schauspieler fühlt auch eine tiefere Verbindung zu dem Organisator: Er habe Rustin zu verdanken, dass er ihn auf den Weg der Authentizität gebracht hat, erzählt Colman. Der Auslöser war seine Rolle in dem Theaterstück Civil Sex: „Das hat etwas in mir ausgelöst, das sagte: Ich kann der Welt zeigen, wer ich bin. Wirklich mein eigener Mensch sein und Raum einnehmen. Mich nicht in eine Kiste stecken lassen.“

Foto: Sharif Hamza

Domingo glaubte so fest daran, dass er den Filmemacher*innen sagte, er wisse, dass er der Einzige sei, der Bayard Rustin spielen könnte, erinnert sich Domingo. „Ich sagte: Ich habe alles, was ich brauche, um diesen Mann mit seiner ganzen Menschlichkeit zu verkörpern, mit seinem Humor, seiner Sexualität, seiner Freude. Ich habe keine Angst, irgendeinen seiner Räume zu betreten.“

Cohen und die anderen Produzent*innen sahen das genauso: „Sobald Colmans Name für die Rolle genannt wurde, dachten wir, er könnte der perfekte Rustin sein. Wir waren große Fans seiner Arbeit und hatten das Gefühl, dass er viele der Qualitäten hatte, die wir suchten. Einschließlich der Tatsache, dass er schwul ist, was sich für uns richtig anfühlte, da das ein so großer Teil von Bayards persönlicher Geschichte und der Geschichte des Films ist.“

Foto: Sharif Hamza

Wolfe erzählt, dass sein Vertrauen in Domingo „sozusagen absolut“ war. „Es macht wirklich viel Spaß, mit jemandem zu arbeiten, der furchtlos ist und den Witz, die Souveränität, das Charisma und die Ausstrahlung hat, die auch die Hauptfigur hat“, sagt der Regisseur.

„Colmans Geist ist in jeder Einstellung zu spüren – auch in den wenigen, in denen er nicht auf dem Bildschirm zu sehen ist“, fügt Davis hinzu. „Colman spiegelt Bayards Führungsqualitäten auch abseits der Leinwand wider. Er wurde zum großen Bruder, Vertrauten und Coach für so viele der jüngeren Schauspieler und führte sie mit dem Herzen.“

Foto: Sharif Hamza

Domingo wusste, dass es wichtig war, dass Rustin im Mittelpunkt der Erzählung stehen würde, nicht am Rande.

„Normalerweise stehen Menschen wie wir nie im Mittelpunkt einer Geschichte. Aber hier ist Martin Luther King Jr. eine Nebenfigur“, sagt Domingo. „Bayard Rustin bekommt die Bühne, und das bedeutet all meinen queeren Brüdern und Schwestern sehr viel. Ich weiß, dass viele Leute mir die Daumen drücken und in gewisser Weise auch sagen: Colman, du musst das richtig machen, sonst werden unsere Geschichten nicht mehr erzählt.“

„Ich wollte sicherstellen, dass ich diese Verantwortung liebevoll übernehme“, fügt er hinzu. Domingos Ziel bestand nicht nur darin, Rustins Vermächtnis zu würdigen, sondern auch seine Menschlichkeit. „Ich wollte all die komplexen Facetten von Bayard zeigen und seine Sexualität nicht außen vor lassen. Ich glaube, viele Filme würden das tun. Sie würden sich auf seine Ideen und seine Politik konzentrieren. Aber ich finde es toll, dass George C. Wolfe Regie geführt hat, ein weiterer queerer Mann, der sicherstellen wollte, dass wir all unsere Komplexität sehen. Und dass Rustin überhaupt nicht heldenhaft ist, um ehrlich zu sein. Er ist einfach ein Mann, der das tut, was er in dem Moment tun kann, und der das tut, was vor ihm liegt.“

Von Tre’vell Anderson, Queue

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