Vergilbte Wände, ein schmaler Flur, zwielichtige Gestalten, die erst in der Dämmerung die Köpfe aus ihren Wohnungstüren strecken. Crack-City wird es in der Serie Dahmer auch genannt: Das Viertel von Milwaukee, in dem sich die Oxford Apartments befinden. Hinter der rotbraunen Tür mit der Nummer 213 lebt Jeffrey Dahmer, einer der wenigen weißen Männer dieser Gegend. Direkt daneben, Wohnung 215, Glenda Cleveland. Die Frau, die ahnte, was hinter Jeffreys Dahmer Tür vor sich ging, lange bevor die Polizei in Dahmers Wohnung die Überreste seiner Opfer entdeckte.
Glenda Cleveland roch die Leichen durch den Lüftungsschacht – so die Erzählung. Ganz der Wahrheit entspricht das nicht: Tatsächlich wohnte die echte Cleveland nicht direkt neben Dahmer, sondern im Gebäudekomplex nebenan. Doch die Heldin, als die sie Niecy Nash in der Serie spielt, war Glenda Cleveland in der Realität allemal.
Schwarz, alleinerziehend – „unglaubwürdig“
Glenda Cleveland wuchs mit ihren neun Geschwistern auf einer Farm in Mississippi auf. Ein Grundsatz der Erziehung ihrer Eltern war, dass die Kinder immer die Wahrheit sagen sollten und für andere einstehen, wenn jemand Hilfe benötigte.
Mit 18 Jahren wurde Cleveland selbst Mutter einer Tochter, zog mit der kleinen Sandra nach Milwaukee und begann dort als Sekretärin für Datenerfassung zu arbeiten.
Als sie 1991 auf die seltsamen Vorgänge in Jeffrey Dahmers Wohnung aufmerksam wurde, war Cleveland Mitte 30. Junge Männer, meist Schwarz und aus der Schwulenszene, gingen bei Dahmer ein – aber nicht mehr aus. Für Cleveland war das zunächst noch kein Grund, die Polizei zu verständigen. Doch sie blieb aufmerksam.
Erst als ihre Tochter und ihre Nichte dann eines Abends einen völlig weggetretenen und blutenden Jungen auf der Straße aufsammelten, der scheinbar aus Dahmers Wohnung geflohen war, begann für Cleveland ein Telefonmarathon bei der Polizei. Und sie musste der bitteren Gewissheit ins Auge sehen: Einer Schwarzen Frau, die in einer üblen Gegend lebt, wird bei der Polizei keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Zwei Polizisten schickten den Jungen zurück zu seinem Mörder
Es war der 27. Mai 1991, als Cleveland zum ersten Mal den Notruf wählte, um ein Verbrechen bei Jeffrey Dahmer zu melden. Ein Junge, sichtlich nicht mal volljährig, hatte auf dem Treppenabsatz der Oxford Apartments gesessen, nackt, blutend und nicht ansprechbar.
Doch als die Polizei eintraf, überzeugte Dahmer selbst sie davon, der Junge sei sein Freund, 19 Jahre alt, und zu betrunken, um jetzt von ihm allein gelassen zu werden. „Sind Sie sich sicher?“, hat Cleveland die Beamten am Telefon immer wieder gefragt, erzählte sie Jahre später den Zeitungen. Doch es stand die Stimme eines weißen Mannes gegen die einer Schwarzen Frau. Und so überließen die Beamten Dahmer das (in Wahrheit 14-jährige) Kind. Noch in derselben Nacht tötete er sein Opfer.
Noch unzählige Male wählte Cleveland nach diesem Vorfall den Notruf. Nachdem sie die Vermisstenanzeige des laotischen Jungen in einer Zeitung sah, verständigte sie sogar das FBI. Doch sie wurde vertröstet, immer und immer wieder.
Erst als es ein weiteres Opfer Monate später schaffte, aus Dahmers Wohnung zu fliehen und die Polizei zu verständigen, wurden die Beamten erstmals wirklich auf Dahmer aufmerksam. Und fanden in seiner Wohnung ein Horrorkabinett, wie es sich selbst Cleveland nicht hätte vorstellen können.
„Sie hat viel mehr verdient als eine kleine kitschige Plakette in irgendeinem Festsaal“
In der Serie Dahmer wird Cleveland von Niecy Nash gespielt, die gegenüber Queue erklärte, dass Cleveland auf eine Art selbst eines der Opfer von Dahmer war – oder eines der Opfer dieses Skandals. Deshalb sei es auch so wichtig, dass ihre Geschichte erzählt wird. „Sie hat viel mehr verdient als eine kleine kitschige Plakette in irgendeinem Festsaal“, sagt Nash.
Tatsächlich wurde Cleveland nach der Inhaftierung Dahmers vom Common Council und dem County Board offiziell geehrt, der Bürgermeister nannte sie eine vorbildliche Bürgerin. Sie erhielt Auszeichnungen für Zivilcourage von lokalen Frauengruppen und von der Polizei von Milwaukee. Doch eine viel größere Tat wäre es gewesen, ihre Hinweise direkt ernst zu nehmen. Denn dann hätte der Tod von fünf weiteren Opfern verhindert werden können.
Sie ließ sich nicht vertreiben
„Ich will einfach zurück zur Normalität“, hat Cleveland nach den Vorfällen einem Reporter gegenüber gesagt. Und tatsächlich schaffte sie es, ihr Leben so normal es ging und ohne größere Veränderungen weiterzuleben. Wie in der Serie Dahmer sträubte sich Cleveland deshalb auch dagegen, umzuziehen. Sie sah es nicht ein, diesem Monster ihr altes Leben zu überlassen.
Und da das Gebäude, in dem sie wohnte, in Wahrheit nicht abgerissen werden sollte, konnte sie das auch. Noch bis 2009 lebte sie in ihrem kleinen Apartment, danach zog sie nur ein paar Blöcke weiter in eine neue Wohnung. Dort starb Cleveland dann im Jahr 2011 mit 56 Jahren an natürlichen Umständen.
Netflixwoche Redaktion