Juan Antonio Bayona über Die Schneegesellschaft: „Wir stellen eine Verbindung zu den Zurückgebliebenen her“

Der Film Die Schneegesellschaft zeigt die wahre Geschichte der Überlebenden eines Flugzeugabsturzes 1972 in den Anden. Der spanische Regisseur Juan Antonio Bayona erzählt im Interview, wie er mit den Überlebenden zusammenarbeitete. Und warum sein Film trotz der dunklen Themen voller Licht ist.

Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Film gekommen?

Ich habe das Buch Society of the Snow vor mehr als zehn Jahren gelesen und es hat mich sehr inspiriert. Zu dieser Zeit bereitete ich mich gerade auf die Dreharbeiten zu The Impossible vor. Der Titel von The Impossible kam mir in den Sinn, als ich eine Aussage von Roberto Canessa las, einem der Überlebenden von Flug 571. Sowohl The Impossible (Anm. d. Red.: Der Film mit Naomi Watts und Ewan MacGregor handelt von der Tsunamikatastrophe 2004) als auch Die Schneegesellschaft erzählen die Geschichte zweier menschlicher Tragödien, in denen es ums Überleben geht – nicht nur physisch, auch emotional.

Was hat Sie an diesem Buch am meisten interessiert?

Der Autor Pablo Vierci schafft es, dass man sich in die Gedanken der einzelnen Charaktere versetzt. Man erlebt etwas Extremes, das einen mit dem Tod konfrontiert – und von da an liegt der Fokus auf dem Leben. Es ist eine faszinierende und komplexe Geschichte. Sein Buch ist voll von starken Kontrasten zwischen Licht und Dunkelheit, und es ist sehr menschlich. Besonders interessiert hat mich das Gefühl der Schuld, das sich durch die ganze Geschichte zieht, das die klassische Heldengeschichte auflöst. In dem Buch wendet sich Roberto Canessa, einer der Überlebenden, 40 Jahre nach dem Unfall an die Toten und bittet sie, friedlich zu akzeptieren, dass er und die anderen Geretteten das Leben erfahren, das die Verstorbenen nicht hatten. Eines der Themen des Films entspringt dieser Idee: Die Notwendigkeit, einen Kontakt zwischen den Lebenden und den Toten herzustellen, um eine Geschichte zu schreiben, die die fundamentale Rolle eines jeden hervorhebt. Auch derer, die zurückblieben.

Wie unterscheiden sich die beiden Überlebensgeschichten in The Impossible und in Die Schneegesellschaft voneinander?

Es gibt einen wichtigen Unterschied in Bezug auf den Zeitrahmen: Von den 72 Stunden, die die Überlebenden in The Impossible bis zu ihrer Rettung hatten, zu den 72 Tagen in Die Schneegesellschaft. Die Erfahrungen sind sehr unterschiedlich. Auch der Kontext ist ein ganz anderer. In Die Schneegesellschaft geht es um das Leben an einem Ort, an dem Leben nicht möglich ist. Die Überlebenden müssen Beziehungen, Bräuche und Bindungen neu erfinden.

Welche Rolle spielten die echten Überlebenden der Katastrophe bei der Produktion des Films?

Eine enorm wichtige Rolle. Wir haben von Anfang an mit ihnen zusammengearbeitet. Wir haben mehr als hundert Stunden mit den Überlebenden verbracht und es war ein Privileg, direkt mit ihnen zu sprechen. Wir haben sogar vom Set aus mit ihnen telefoniert. Ihr Enthusiasmus beflügelte den Film und meine Perspektive. Und für die Schauspieler war dieser Kontakt genauso wichtig. Ich gebe ihnen immer den Raum und das Vertrauen, um zu improvisieren. Aber dafür sind Informationen notwendig. Deshalb war es wichtig, dass sie mit den Überlebenden sprachen. Während der Dreharbeiten waren die Jungs mit Leib und Seele bei der Sache. Ich bin sehr stolz auf das Ergebnis.

Welche Rolle hat Buchautor Pablo Vierci für den Film gespielt?

Er war der Hüter der Geschichte und der Figuren, aber ich hatte nie das Gefühl, dass er meine Vision einschränkte. Im Gegenteil, ich fühlte mich mit ihm an meiner Seite unterstützt und sicher.

Die Schneegesellschaft behandelt das sehr heikle Thema der Anthropophagie (Anm. d. Red.: von griech. anthrōpophagia = das Essen von Menschenfleisch. Den Begriff Kannibalismus lehnen die Überlebenden ab, da er einschließt, dass man tötet, um zu essen). Wie schwierig war es, zu entscheiden, wie man das Thema angeht?

Wenn wir mehr als 50 Jahre später immer noch über diese Geschichte sprechen, dann vor allem deshalb, weil sich die Hauptfiguren von den Leichen ihrer Freunde ernähren mussten, um zu überleben. Ich bin sehr interessiert an der symbolischen Natur dieses Aktes - sich einem anderen zu überlassen, damit dieser überleben kann. Im Mittelpunkt des Films steht der Geist der Freundschaft, die mit immer größeren Widrigkeiten konfrontiert wird. Diese Selbsthingabe an andere ist mystisch und humanistisch. Obwohl meine Filme dunkle Themen behandeln, sind sie voller Licht – sie sprechen vom Tod, um das Leben zu betonen. Beim Dreh dieser Szenen haben wir die Privatsphäre und die Intimität der Menschen gewahrt. Wir zogen es vor, Emotionen zu wecken, anstatt explizite Bilder zu zeigen.

 Es war eine reine Männergruppe, die den Absturz überlebt hat.

Ja, und wir sprechen über Männer in einem sehr spezifischen Kontext – Lateinamerika in den siebziger Jahren. Sie alle landen auf dem Berg mit einer Reihe von männlichen Rollen, die stark von der Gesellschaft definiert wurden. Aber der Berg zwingt sie, aus diesen Rollen auszubrechen. Sie sind Männer, die lernen müssen, sich gegenseitig zu lieben und zu pflegen, sowohl körperlich als auch emotional - sie schlafen in den Armen des anderen, sie massieren sich nachts gegenseitig, sie heilen ihre Wunden. Ich war sehr daran interessiert, eine Art von Männlichkeit darzustellen, die nichts mit dem klischeehaft Heroischen oder der spektakulärsten Aktion zu tun hat, sondern die in den Körpern, Gesten und kleinen Interaktionen zwischen den Männern entsteht. Für mich bringt in diesem Sinne der Berg die Figuren dazu, ihre vorgefassten Vorstellungen von Männlichkeit hinter sich zu lassen – so wie er sie auch dazu bringt, ihr Verhältnis zur Spiritualität zu überdenken.

 Ein weiteres Thema in Die Schneegesellschaft ist der Glaube.

An einem entscheidenden Punkt in dieser Geschichte machen sich die Figuren auf, blindlings den Berg hinunter, ohne klares Ziel und in den sicheren Tod. Für mich ist das kein Akt des Glaubens, sondern ein Akt der Würde. Die Würde kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Verstorbenen ihren Gefährten Mut zusprachen. Diese Verhaltensweisen sind das Ergebnis einer tiefgreifenden Transfusion. In einer Situation der völligen Verlassenheit, wenn einem alles genommen wird, hat man die Möglichkeit zu wählen, wie man sterben will. Und sie taten es, indem sie sich ihren Freunden hingaben. Ich bin mir sicher, dass es für viele von ihnen eine transzendente Erfahrung war. Für mich ist es kein religiöser Film, sondern ein spiritueller Film.

Sie haben nicht nur Regie geführt, sondern zum ersten Mal – gemeinsam mit ihren Co-Autoren – auch das Drehbuch geschrieben.

Bei diesem Film wollte ich nicht strikt einem Drehbuch folgen. Die Geschichte war bekannt, also war ich mehr daran interessiert, kraftvolle Ausdrücke und Bilder einzufangen. Der direkte Zugang zu den Überlebenden zu haben, war eine außergewöhnliche Informationsquelle. Und so beschloss ich, das Geschehen mit ihrer Hilfe nachzustellen. Wir versammelten eine Gruppe von mehr als 20 jungen Schauspielern und haben zwei Monate lang geprobt. Dabei kamen eine Menge neuer Ideen heraus. Während der Dreharbeiten entstanden weitere Bilder und Situationen, die wir in das Drehbuch eingearbeitet haben. Diese Geschichte konnte nicht aus der Ferne erzählt werden - wir mussten wir uns voll und ganz hineinversetzen und die Kälte, den Hunger und die Abgeschiedenheit des Berges spüren. Der Film stammt nicht nur aus einem Drehbuch, sondern auch aus den Erfahrungen und Ideen, die wir bei den Proben und Dreharbeiten machten.

Sie waren auch im Tal der Tränen, an dem Ort, an dem das Flugzeug abgestürzt ist. Wie haben Sie sich dort gefühlt?

Es ist ein faszinierender und erschreckender Ort. Die erste Nacht, die ich dort verbrachte, war eine der schlimmsten in meinem Leben. Ich hatte die Höhenkrankheit, verlor das Zeitgefühl und die Kopfschmerzen waren unerträglich. Aber die Erfahrung der extremen Kälte, des Sauerstoffmangels und die Erschöpfung halfen uns, zu verstehen, was die Menschen durchgemacht haben.

Hatten die Überlebenden die Möglichkeit, den Film zu sehen?

Ja, alle Überlebenden haben den Film gemeinsam in einem Kino in Montevideo gesehen. Sie waren nervös, aber ihnen gefiel die realistische und authentische Art und Weise, wie ihre Geschichte erzählt wurde. Für mich als Regisseur war das ein sehr wichtiger Moment. Sie zu sehen und ihre Reaktionen zu hören, gab mir ein Gefühl der Beruhigung und Dankbarkeit. Ich werde diesen Tag nie vergessen.

Netflixwoche Redaktion

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