Was hilft bei Trauer? Eine Trauerbegleiterin über Good Grief

In einem Moment schaut Marc verliebt und stolz zu seinem Ehemann Oliver herüber, der das Weihnachtssingen von Freund*innen und Familie auf ihrer Weihnachtsparty dirigiert. Im nächsten Moment wacht Marc alleine im Bett auf, die Welt ist grauer geworden. Oliver ist tot.

Im neuen Netflix-Film Good Grief geht es um den Künstler Marc, der plötzlich seinen Ehemann bei einem Unfall verliert. Mit der Unterstützung seiner Freund*innen versucht er, wieder im Leben anzukommen. Dabei stößt Marc auf Geheimnisse und lernt den verstorbenen Oliver sowie sich selbst neu kennen.

Nadine Kistner ist Trauerbegleiterin. Sie unterstützt beruflich Menschen, die um nahestehende Personen trauern. Sie erklärt im Interview mit Netflixwoche, wie realistisch der Trauerprozess in Good Grief dargestellt ist, was dabei helfen kann, Trauer zu verarbeiten und welche alten Traditionen zum Thema Tod allmählich abgeschafft gehören.

Netflixwoche: Was fällt dir als Trauerberaterin zuerst an Good Grief auf?

Ich finde es gut, dass sich der Film mit Trauer beschäftigt. In der Gesellschaft ist das Thema nicht gern gesehen. Und Trauernde haben es wirklich schwer – was ich wiederum schade finde, denn es betrifft  uns alle.

Inwiefern haben Trauernde es in der Gesellschaft schwer? In Good Grief sind Marcs Freund*innen für ihn da, niemand meidet ihn, weil er trauert. 

Schon, aber seine Freunde meinen, sie wüssten besser als er, was er als Trauernder braucht. Ein Beispiel ist die Szene, in der Marcs Freundin ein Dating-Profil für ihn einrichtet. Und sein Kumpel sagt: Aber das ist doch erst ein halbes Jahr her. Marc sitzt daneben und niemand fragt ihn: Was möchte er? Was braucht er? Wie geht es ihm? Das ist tatsächlich auch etwas, das in unserer Gesellschaft stattfindet.

Marcs Freund*innen Sophie (Ruth Negga) und Thomas (Himesh Patel) versuchen, ihm zu helfen.

Du bist sehr früh Witwe geworden. Hast du so etwas auch erlebt, als dein Mann gestorben ist?

Ja, ich habe gemerkt, dass die Menschen gar nicht so richtig wissen, wie sie mit einem trauernden Menschen umgehen sollen – auch innerhalb der Familie. Und das ist der Grund, der mich dazu gebracht hat, diese Arbeit zu machen.

Ist es nicht belastend, sich tagtäglich im Beruf mit Tod und Verlust zu beschäftigen?

Natürlich ist es traurig, sich immer wieder die Geschichten von Menschen anzuhören, die ähnliches durchgemacht haben. Aber meine persönliche Beziehung zum Tod ist dadurch sehr offen geworden. Ich habe mir zum ersten Mal viele Gedanken über das Leben gemacht: Was machen wir Menschen hier eigentlich? Was passiert nach dem Tod? Ich habe mich in dieser ganzen Zeit intensiver mit mir selbst beschäftigt. Und es ist für mich ein Beruf mit Sinn: Menschen an die Hand zu nehmen und für sie einen Weg zu finden, wieder ins Leben zu starten – das ist für mich eine Lebensaufgabe geworden.

Good Grief ist ein Film über Trauer um einen geliebten Menschen, aber es geht darin auch überraschend viel um Marcs Beziehungen zu den Lebenden. Hast du eine Erklärung dafür?

Ja, denn das Umfeld verändert sich mit. Man sieht im Film, dass Marcs Freunde nach dem Tod von Oliver auch anfangen, über ihr Leben nachzudenken. Und das ist tatsächlich etwas, das im realen Leben passiert. Manche Menschen im Umfeld stellen sich dann auch die Fragen: Wie will ich mich entwickeln? Was kommt noch im Leben? Aber es gibt auch Menschen, denen ist das zu viel, die wollen keine Veränderung und schotten sich ab. Ich habe oft den Satz gehört: „Du hast dich so verändert.“ Ja. Aber es ist doch gut, dass man sich verändert. Und ein Schicksalsschlag bringt das nun mal mit sich.

Mit seinen Freund*innen Sophie (Ruth Negga) und Thomas (Himesh Patel) versteht sich Marc gut.

Kommen Menschen zu dir, weil sie in ihrer Trauer nicht  richtig aufgefangen werden?

Manche fühlen sich unverstanden von ihrem Umfeld oder brauchen eine neutrale Person zum Reden. Ich habe auch Menschen, die mich sehr schnell nach dem Tod kontaktieren. Die sind total hilflos und wissen nicht, wo vorne und hinten ist. Und dann gibt es Menschen, die nach zwei oder drei Jahren zu mir kommen, weil die Trauer immer noch da ist. Es kommt darauf an, wie viel Raum man der Trauer gibt.

Marc entscheidet am Anfang des Films, dass er nichts fühlen will. Ist das eine guter Plan?

Dieser Verdrängungsmodus ist am Anfang ein Stück weit gut, um erstmal klar zu kommen. Wenn man alle Emotionen direkt spüren würde, wäre es völlig überwältigend. Es gibt aber auch Menschen, die verdrängen die Trauer länger. Die stürzen sich in so einen Funktionsmodus: Machen, machen, machen. Wenn ich verdränge, tut es ja nicht weh. Das ist aber der falsche Weg. Und ein halbes Jahr oder Jahr später merken sie, dass sie total ausgebrannt sind.

„Es ist gut, dass man sich verändert – ein Schicksalsschlag bringt das nun mal mit sich.“

Nadine Kistner, Trauerbegleiterin

Was sollte man stattdessen machen?

Ich muss durch die Trauer hindurch, um Heilung zu erfahren. Ich sage immer Augen auf und durch – nicht Augen zu und durch. Es geht nicht anders, um die Trauer zu verarbeiten.

Marc erfährt nach Olivers Tod Dinge über ihn, die sein Bild von ihm verändern. Ist es ok, auf einen Verstorbenen sauer zu sein?

Da wäre erstmals die Frage: Wer sagt, dass diese Gefühle nicht okay sind? Auch Wut gegenüber einem Verstorbenen darf sein. Und die Wut ist berechtigt. Wenn man nach einem Jahr Trauer von einer geheimen Affäre erfährt, darf man wütend sein. Manche nennen das egoistisch. Aber ein gewisser Egoismus ist gut. Man muss für sich selbst sorgen.

Thomas (Himesh Patel) hilft Marc (Daniel Levy) bei der Trauer – trauert aber auch.

Marcs Idee, nach Paris zu fliegen und auf Olivers Kosten zu saufen, ist also gar nicht so fragwürdig, wie es klingt?

Ich sage mal: Alles, was dir guttut, darfst du machen. Aber ich finde es interessanter, was hinter dieser Idee steht. Marc will Olivers Welt sehen. Er schaut im geheim gehaltenen Apartment in den Kleiderschrank und findet das Geschenk für den Liebhaber. Ich fand es richtig cool, dass er es umtauscht. Hätte ich wahrscheinlich genauso gemacht.

Trotz der unangenehmen Überraschungen hat Marc immer wieder plötzliche Erinnerungen an Oliver und durchlebt gemeinsame Momente. Erleben Trauernde das in der Realität auch?

Ja, das passiert wirklich. Man erlebt das sogar ständig. In jeder Alltagssituation verbindet man etwas mit dem Verstorbenen. Und das ist nicht nur im ersten Jahr so, das bleibt für immer. Bei mir ist es jetzt – drei Jahre später – noch so, dass ich gewisse Bilder ganz präsent habe. Manchmal sind sie so stark, das sie mich  emotional richtig einholen.

„Es ist wie ein Schmerz, wie ein Geschwür, das nie weg geht“, sagt Marc an einer Stelle von Good Grief. Würdest du Trauer so beschreiben?

Ich fand das ein bisschen hart gesagt. Trauer ist auch Erinnerung – und Erinnerung ist Liebe. Ja: Trauer bleibt. Aber sie verändert sich. Sie wird etwas leichter. Mein Mann hat immer einen Platz in meinem Herzen. Ich finde, das ist etwas Schönes. Man weiß, der bleibt irgendwie für immer da.

Marc (Daniel Levy) denkt oft an die Zeit mit Oliver (Luke Evans).

Auf Olivers Beerdigung hält eine Schauspielerin eine etwas schräge Rede, das Ganze wirkt wirklich komisch und passt nicht zum Ernst der Situation.

Diese Szene fand ich ganz interessant. Einerseits etwas überzogen, weil es viel um sie selbst ging. Zum Schluss spricht sie davon, was er aus ihr gemacht hat, das war wirklich sehr schön, denn das zeigte seinen Charakter. Ich glaube, was einen daran irritiert, ist dieses Typische: Was kann man auf einer Beerdigung sagen oder machen? Ich finde Trauer und Humor darf zusammengehören. Man macht diese Feier schließlich, um einem Menschen zu gedenken. Und dieser Mensch war nicht nur Trauer, sondern man hat viele tolle Momente mit diesem Menschen erlebt.

Marc lernt im Film einen neuen Mann kennen, während er noch um Oliver trauert. Ist so etwas in Ordnung?

Da spielt wieder so eine gesellschaftliche Vorstellung mit rein. Es gibt dieses Trauerjahr, also den Zeitraum, in dem man traditionell um die Person trauern soll. Damit wurde ich auch konfrontiert. Ich habe in meinem Trauerjahr meinen neuen Partner kennengelernt und das war für viele ein totaler Schock. Und andersherum: Wer entscheidet denn, dass ich mir genau ein Jahr Zeit nehmen darf und dann hat die Trauer vorbei zu sein? Die Liebe zu diesem Menschen bleibt – solange die Liebe da ist, ist auch die Trauer da.

Das Trauerjahr, ernste Beerdigungen: Gibt es zu viele strenge Bräuche in Verbindung mit Trauer?

Diese Beispiele sind noch ganz alte Konventionen. Wenn ich mich an frühere Beerdigungen erinnere, war das dort so erdrückendNiemand hat miteinander geredet und beim Leichenschmaus hat keiner etwas gesagt. Ich möchte meine Beerdigung bitte nicht so haben. Ich möchte am besten eine Party. Wenn man sich heute umschaut, gibt es neue Alternativen zu den klassischen Trauerfeiern und Friedhöfen, wie zum Beispiel Friedwälder. Da passiert aktuell sehr viel. Trauer wird bunter und das nimmt ein bisschen die Schwere da raus.

Marc (Daniel Levy) entdeckt die Kunst wieder für sich.

In einer Szene des Films sieht man, wie Marc wieder mit dem Malen anfängt. In einer anderen, wie er das gemeinsame Haus verkauft. Sind das gute Wege, um Trauer zu verarbeiten?

Das ist sogar etwas, was ich bei meinen Begleitungen frage: Was hast du früher gerne gemacht? Warum hast du damit aufgehört? Und wäre das vielleicht auch etwas, wo du wieder anknüpfen könntest? Gerade malen ist etwas, was sehr helfen kann in der Trauerverarbeitung. Und ein Hausverkauf kann dazu beitragen, wirklich das neue Leben anzutreten. Man muss schauen, dass man eine neue Identität entwickelt.

Braucht es denn wirklich eine neue Identität?

Vorher ist man, zumindest in dem Fall, dass der Partner stirbt, ein Wir. Es geht darum, seine eigene Identität wiederzufinden. Oft ist es so, dass man in einer Partnerschaft gemeinsame Ziele und Hobbys hat. Und dadurch die eigenen Interessen etwas in den Hintergrund rücken. Das ist etwas völlig Normales, allerdings muss man sich nach dem Tod des Partners damit auseinandersetzen, wer man selber ist und werden möchte.

Kann ein Trauerfall also auch eine Chance sein?

Ja, auf jeden Fall. Das, was mir passiert ist, hat mir zumindest ein neues Leben geschenkt. Ich wäre nicht der Mensch, der ich jetzt bin, wenn ich das nicht erlebt hätte. Und das ist für mich das Wertvolle, was ich daraus mitnehme. Und ich bin sehr dankbar für das Leben, das ich jetzt führen darf.

Zur Person

Nadine Kistner ist Trauerbegleiterin. 2020 ist sie mit 31 Jahren Witwe geworden. Sie selbst hat die Hilfe von einem Trauercoach in Anspruch genommen und im Anschluss eine Ausbildung zur Trauerberaterin gemacht. Seitdem macht sie es sich zur Aufgabe, Menschen durch ihre Trauer zu begleiten.

Emeli Glaser, Netflixwoche

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