Alles, was die Nazis hassen: Regisseur Benjamin Cantu über Berlins erste queere Community

Berlin, 1930: Du stolperst die Motzstraße hinunter, durch eine Tür unter einer verlockenden Leuchtreklame, in einen Club. Das Eldorado empfängt dich mit feuchtfröhlichem Exzess. Hier vermischen sich Künstler*innen mit Politikern, Banker mit Travestie-Stars. Claire Waldoff stimmt ein Lied an: „Raus mit den Männern aus dem Reichstag!“

Doch in einer anderen Ecke sitzt auch SA Chef Ernst Röhm. Noch genießt er diesen Zufluchtsort der queeren Community. In wenigen Jahren werden er und seine Nazi-Kumpanen den Club schließen, die Künstler*innen verfolgen und ermorden, queere Literatur und Forschung verbrennen.

Aber noch nicht jetzt. Heute Abend führt dich ein Tanzknabe in Kleid, Perücke und Make-up auf die Tanzfläche. Und das nächste Lied wird angestimmt.

Am 28. Juni 2023 erscheint auf Netflix ein Dokumentationsfilm über diesen besonderen Club: Eldorado – Alles, was die Nazis hassen. Vor der Premiere hat sich Regisseur Benjamin Cantu mit Netflixwoche zum Interview getroffen. Ein Gespräch über Berliner Clubkultur, schwule Nazis, die erste queere Community und seine Suche nach der Jugendliebe eines über 100-jährigen Zeitzeugen.

Netflixwoche: Über dem Eingang des Eldorado stand: „Hier ist's richtig!“ Wo stimmt dieser Satz denn heute noch? Wo ist’s heute richtig?

Benjamin Cantu: Du meinst, wo man heute queer ausgehen kann? Ich glaube an vielen Orten in Berlin finden wir die Offenheit und Inklusivität, die wir heute mit dem Begriff queer verbinden. Für viele sind es der KitKatClub oder das Berghain. Ich beziehe mich jetzt mal nur auf Berlin. (lacht)

Was bedeuten solche Orte für dich?

Cantu: Ich war eigentlich nie ein intensiver Club-Besucher. Aber ich finde, solche Orte brauchen wir, um Energien auszuleben, die wir sonst unterdrücken würden. Tanzen ist das beste Mittel dafür. Wir leben in einer ziemlich kontrollierten Zeit und solche Orte sind da, um mit unserem Potenzial von Freiheit verbunden zu bleiben.

Wie hast du selbst vom Eldorado erfahren? Wo hat diese Geschichte, dieser Film für dich angefangen?

Cantu: Die Ursprungsidee zu diesem Projekt kam von meinem Produzenten, Nils Bökamp. Er hat sich schon vor kanpp zehn Jahren mit der Verfolgungsgeschichte schwuler Männer ab 1920 beschäftigt. Wir haben lange versucht, das Projekt bei Sendern unterzubringen. Erst mit Netflix hat es endlich geklappt.

Ich selbst bin in Berlin aufgewachsen. Die Geschichte vom Aufblühen und Untergang der ersten sichtbaren queeren Community der Welt war für mich immer schon Teil dieser Stadt, aber eben im Verborgenen. Mit diesem Film bringen wir diese Geschichte hoffentlich und endlich ins Bewusstsein von sehr vielen Menschen, auch außerhalb Deutschlands.

Magnus Hirschfeld (rechts), der mit seinem Institut für Sexualwissenschaft die frühe queere Bewegung definierte.

Der Film führt viele Geschichten um das Eldorado zusammen. Auf der einen Seite sind es die Nazis, auf der anderen Seite gibt es viele Held*innen: Magnus Hirschfeld, Toni Ebel, Charlotte Charlaque, Gottfried von Cramm, Lisa von Dobeneck – die Liste ist lang. Wer hat dich am meisten fasziniert?

Cantu: Obwohl das jetzt bisschen offensichtlich klingt: Es wäre wahnsinnig interessant, Magnus Hirschfeld kennengelernt zu haben. Er hatte Beziehungen zu den unterschiedlichsten Menschen – nicht nur in der queeren Community, sondern in der Politik, in der Forschung und Kultur. Er hat sehr früh schon große Weltreisen gemacht und war mit seinen Vorträgen ein internationaler Star. Aber ich finde auch die vielen Leben, die Charlotte Charlaque gelebt hat, sehr beeindruckend.

Charlotte Charlaque, trans Frau, Schauspielerin und die „Königin der Brooklyn Heights“.

Cantu: Charlotte hat sich immer wieder neu erfinden müssen. Auch nach dem Krieg in den USA, wo sie nach ihrer Flucht komplett als Frau wahrgenommen wurde. Ihre Geschichte und die ihrer langjährigen Lebensgefährtin und trans Frau, Toni Ebel, erzählen wir in dem Film.

In der Doku kommt auch ein Zeitzeuge zu Wort, der Komponist und Holocaust-Überlebende, Walter Arlen.

Cantu: Walter Arlen ist Jahrgang 1920 und lebt noch heute in Los Angeles. Als mich mein Produzent, Nils Bökamp in einer Zeitung auf ihn aufmerksam gemacht hat, war er gerade 100 Jahre alt geworden. Ich wusste aus dem Interview, dass Walter mit Howard Myers verheiratet ist. Ich wollte ihn unbedingt einladen, in unserem Film aus seiner Vergangenheit zu erzählen. Walter ist in Wien aufgewachsen und war 18, als sich Österreich dem Deutschen Reich unter Hitler angeschlossen hat. Walter und seine Familie sind bzw. waren jüdisch und er musste mit ansehen, wie sein Vater deportiert wurde. Es war aber auch jene Zeit, in der Walter seine ersten Gefühle für Männer entwickelt hat. Auf einen Schlag verlor er seine Jugend.

Als er in unserem ersten Telefonat erfuhr, dass ich ursprünglich aus Budapest komme, hat er mich sofort gebeten, seine große Jugendliebe namens Lumpi für ihn zu finden. Er hatte seit 1938 nichts mehr von ihm gehört. Wir haben für Walter Nachforschungen erstellt und die traurige Wahrheit ans Licht gebracht. Lumpi wurde bereits 1944 mit 25 Jahren in einem ungarischen Arbeitslager von den Faschisten ermordet. Es war vielleicht die schwerste Aufgabe an diesem Film, Walter diese traurige Nachricht zu überbringen.

Und wie seid ihr an die Interviews mit ihm herangegangen?

Cantu: Es war unserer Editorin Barbara Gies und unseren Produzenten Nils Bökamp und Felix Kriegsheim wahnsinnig wichtig, dass wir Walter den Raum geben, seine Geschichte im Film erzählen zu lassen. Es hat uns alle sehr berührt, dass jemand mit so einer langen und bewegten Biografie noch so nah an seinen Gefühlen aus seiner Jugend sein kann.

Walter wird Ende Juli 103 Jahre alt! Die Begegnung mit ihm war für mich eine lebensverändernde Erfahrung. Ich hatte das erste Mal das Gefühl, durch ihn mit diesem Teil unserer Geschichte wirklich in Berührung zu kommen. Ich bin seitdem mit Walter und seinem Mann, Howard, befreundet.

Eine nachgestellte Szene für Eldorado - Alles, was die Nazis hassen

Die nachgestellten Szenen im Club hat dein Regie-Kollege Matt Lambert geschaffen. Wie kam es zu der Zusammenarbeit?

Cantu: Das war ein totaler Glücksfall. Wir haben den Film unter COVID-Zeiten und ziemlichem Zeitdruck gemacht. Mein ausführender Produzent, Felix Kriegsheim, mit dem ich auch das Buch geschrieben habe und ich hatten einen sehr hohen Anspruch an den dokumentarischen Teil des Films. Ich kannte Matt Lamberts Arbeit und habe ihn immer schon für seine intensive Bildsprache bewundert. Ich habe ihm das Projekt vorgestellt und zum Glück voll ins Schwarze getroffen.

Und, wie lief’s? 

Cantu: Es hat sofort gepasst. Auch für ihn, weil es eine Epoche ist, die er schon immer künstlerisch bearbeiten wollte. Es war eine sehr respektvolle Zusammenarbeit, in der wir unsere Verantwortung im Umgang mit den historischen Protagonist*innen dieser Zeit immer in den Vordergrund gestellt haben.

Was war euch für die nachgestellten Szenen im Club denn am wichtigsten?

Cantu: Es war uns wichtig, dass wir an historischen Orten drehen. Sowohl die Interviews als auch die Reenactmens. Der Ort, an dem wir die Eldorado Clubszenen gedreht haben, ist das Ballhaus Mitte aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Mit wenigen, gezielten Interventionen in diesen Raum haben Matt Lambert und sein Team es geschafft, die Größe und die Atmosphäre von damals auszudrücken. Clubs sahen damals einfach anders aus als heute.

Wie anders?

Cantu: Jeder Club war ein Mikrokosmos für sich. Das Eldorado war eine Art Schaufenster für Berlins queere Community, in dem auch viel Prominenz verkehrt hat. Marlene Dietrich, Greta Garbo und Charles Chaplin waren dort. Deswegen wollten wir auch einen sehr eleganten Ort finden.

Der Film verknüpft viele Schicksale, wir haben über einige Namen gesprochen. Aber es gab wahrscheinlich noch viel mehr zu erzählen. Was musstet ihr streichen?

Cantu: Die Geschichte des Eldorado selbst ist sehr spannend. Das geht bis hinein in Verstrickungen des Besitzers, Ludwig Konjetschni, mit den Nazis und der SA. Konjetschni war nämlich alles andere als queer, sondern ein heterosexueller Geschäftsmann.

Was wir auch nicht im Film verarbeiten konnten, ist das viel besagte Bild des so genannten „homosexuellen Nazis“, das es bis in unsere Gegenwart geschafft hat. Diese Trope des homosexuellen Nazis ist sehr aufgeladen. Sie ist auf Kosten der eigentlichen Opfer der homosexuellen Verfolgung geschaffen worden. Wir versuchen zwischen der breiten Nazi-Bewegung und dem kleinen Kreis von Nazis um SA Chef Ernst Röhm, die tatsächlich homosexuell waren, zu differenzieren.

Gibt es denn da schon einen Film oder ein Buch, was du empfehlen kannst?

Cantu: Der Kulturhistoriker, Andreas Pretzel von der Magnus Hirschfeld Gesellschaft hat spannende Texte dazu veröffentlicht. Auch der Historiker Alexander Zinn hat sich mit den Wechselwirkungen von Homosexualität und Männerbünden, wie der SA beschäftigt. Sein Buch, „Aus dem Volkskörper entfernt? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus“ ist  sehr aufschlussreich.

Seit der Schließung des Eldorado ist viel passiert. Es gab viele Schritte nach vorne: Man denkt an die Streichung des Paragraph 175, an die Homoehe, an Fortschritte im Adoptionsrecht. Aber gerade erleben wir auch einige Schritte zurück. Studien zeigen, dass homo- und transfeindliche Gewalt steigt. Wie sollten wir solcher Gewalt begegnen?

Cantu: Ich glaube, wir müssen immer wieder diese Geschichten erzählen. Auch aktuelle Geschichten, ob das hier in Europa ist, in den USA oder jüngst in Uganda, mit den brutalen Gesetzen gegen Homosexuelle.

Wir haben diesen Film in dem Bewusstsein gemacht, dass es ein Thema ist, das leider immer wieder aktuell sein wird. Totalitäre Regime sahen und sehen queere Menschen immer als eines ihrer ersten Feindbilder an. Es funktioniert immer, diese Minderheit gegenüber der Mehrheit auszugrenzen und zu verfolgen. Machthaber wie Vladimir Putin, Viktor Orbán und Ron DeSantis agieren so.

Ein historisches Bild von Magnus Hirschfeld und den Menschen um das Institut für Sexualwissenschaft.

Was wünschst du dir?

Cantu: Wir brauchen mehr Mitgefühl und Respekt. Dafür ist der Pride Month da. Manche Menschen nervt es, dass das jedes Jahr so viel Aufmerksamkeit bekommt. Aber wenn wir hier aufhören würden, uns breit und laut in der Öffentlichkeit zu zeigen, wäre das ein willkommenes Einfallstor an anderen Orten der Welt lauter gegen uns zu halten.

Ich wünsche mir, dass wir LGBTQIA+ Menschenrechte mit allen unseren Möglichkeiten einfordern: politisch, gesellschaftlich, kulturell. Und zwar nicht nur hier für uns, sondern für alle.

Euer Film erscheint zum Pride Month auf Netflix. Wie feierst du selbst Pride? 

Cantu: Ich weiß noch nicht, ob ich auf die große Christopher-Street-Day-Parade gehe. Das ist einfach sehr kommerziell geworden – ich sehne mich wieder nach dem alternativen Pride Protest hier in Berlin, in Kreuzberg.

Aber auf eine Sache freue ich mich: Wir feiern den Film im Netflix Pride Hub und wir machen eine Team-Premiere. Wir haben ein sehr großes Team – über 300 Leute haben mitgearbeitet. Es ist toll, diesen Menschen jetzt nochmal etwas zurückzugeben und den Film gemeinsam auf der Leinwand zu sehen.

Netflixwoche Redaktion

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