„Alles was süß ist, Fell hat oder gefährlich ist, läuft“ – warum wir Natur- und Tierdokus lieben

Jens Westphalen ist seit 28 Jahren Natur- und Tierfilmer. Im Interview sagt er, warum wir Natur-Dokus wie Unser Planet 2 so lieben.

Jens Westphalen ist zusammen mit seinem Kollegen Thoralf Grospitz seit 28 Jahren rund um den Globus unterwegs, die beiden Biologen filmen und produzieren Natur- und Tierdokumentationen. Unter anderem liefen ihre Filme auch auf Netflix, etwa in der Reihe Wildes Deutschland. Wir erreichten Jens Westphalen in Namibia für ein Telefon-Interview.

NETFLIXWOCHE: Herr Westphalen, Sie sind getrieben von der Mission, die Natur und Umwelt zu schützen und die Artenvielfalt zu erhalten. Haben Sie nicht furchtbar versagt?

Jens Westphalen (lacht): Sie meinen, weil in dem gleichen Zeitraum die Zerstörung der Natur, das Sterben der Arten so groß war wie nie zuvor seit dem Ende der Dinosaurier? Ja, das stimmt und insofern haben wir Naturfilmer versagt, genauso wie die gesamte Menschheit. Aber für mich ist das kein Grund aufzugeben. Zumal ja auch niemand weiß, ob es ohne unsere Arbeit nicht noch schlimmer aussehen würde.

Wie schlimm ist es denn genau?

Mancherorts zum Verzweifeln. Auf Borneo beispielsweise sind wir über die Jahre immer wieder gewesen, im Lebensraum der letzten Orang Utans. Was da in den letzten Jahren passiert ist, ist Wahnsinn. Wo wir uns vor zehn Jahren noch durch unberührten Dschungel bewegt haben, stehen jetzt nach Brandrodungen quadratkilometerweise nur noch Palmöl-Monokulturen. Da kreucht und fleucht natürlich nicht mehr viel, der Orang Utan schon gar nicht. Aber es ist auch kein Lebensraum mehr für Insekten, Vögel, Kleinstlebewesen. Einfach Tod, obwohl es mit den Palmen grün aussieht.

Trompetengeräusch, Gestampfe im Hintergrund.

Sorry, ich muss jetzt auflegen, die Elefanten kommen.

Jens Westphalen und Thoralf Grospitz filmen Wüstenelefanten in Namibia

Die was??? Hallo, Hallo?

Das Gespräch ist unterbrochen, Jens Westphalen meldet sich ein paar Stunden später wieder telefonisch.

Wo stecken Sie denn, was war da los?

Ach so, hatte ich gar nicht gesagt, dass Sie mich nicht im Hotel, sondern in der Kalahari-Wüste erreicht haben? Wir machen hier zwei Filme: einen über Erdmännchen und einen über die letzten wild lebenden Wüstenelefanten.

Nee, hatten Sie nicht gesagt und wir dummerweise gar nicht dran gedacht, dass ein Natur-Doku-Filmemacher natürlich immer irgendwo into the wild ist. Und was war da für ein Alarm?

Ein Elefantenbulle fand unseren Jeep wohl irgendwie sexy und hat sich ein bisschen dran geschubbert. Der Kotflügel ist eingedrückt, aber das Auto fährt noch. Übrigens, weil wir vorhin darüber sprachen, wie schlimm es um Natur-und Artenvielfalt steht: Es gibt auch mutmachende Entwicklungen. Die Wüstenelefanten waren vor gut hundert Jahren durch Großwildjäger komplett ausgerottet. In den 1990er-Jahren sind Tiere aus dem nördlichen Teil der Namib wieder hierher eingewandert.

Das ist wirklich schön. Aber dennoch: War das gefährlich vorhin?

Nein. Eine objektiv gefährliche Situation hatte ich mal in Australien. Ich habe da eine Gwardar, eine sehr giftige Schlange gefilmt. Ihr Gift tötet innerhalb von 30 Minuten einen Menschen. Meine Kamera und ich haben den einzigen Schatten weit und breit geworfen und in diesen meinen Schatten ist die Schlange gekrochen. Ich saß einfach da und hab weiter gefilmt. Sie ist dann mein Bein hoch auf meinen Schoß. Da hab ich schon mal gedacht, hm, wäre jetzt nicht so cool, wenn die in mein Hosenbein kriecht weil sie denkt, das ist ne prima Höhle. Der Elefant vorhin war nur neugierig. Der Verkehr in Deutschland ist sicherlich gefährlicher als unser Job. Und da hält man ja auch Abstand, wenn ein LKW vorbei donnert.

Aber genau den Eindruck hat man ja bei den tollen Aufnahmen in den Natur-und Tier-Dokus nicht. Es wirkt immer so, als seien Sie da wahnsinnig nah dran. Oder sind das einfach nur gute Kameras?

Beides. Wir sind schon so nah dran, wie es geht, ohne die Tiere in ihren natürlichen Abläufen zu stören. Da geht es weniger darum, Gefahren für uns zu vermeiden, als darum nicht einzugreifen, die Tiere nicht aufzuschrecken. Aber natürlich ist auch die gesamte Technik sehr viel besser geworden. Wir haben Highspeed-Kameras die jeden einzelnen Flügelschlag eines Kolibri erfassen und ein scharfes Bild auch bei schnellsten Bewegungen liefern. Und vor allem müssen wir viel weniger Gewicht schleppen als früher. Das erlaubt einem schon näher ranzukommen als das bei Sielmann oder Grzimek, den Naturfilm-Großvätern, der Fall war. Darüber hinaus gibt es natürlich Produktionsfirmen mit einem gigantischen Budget, meist britische oder amerikanische. Die haben sehr viele Kameras im Einsatz – das erhöht natürlich die Wahrscheinlichkeit auf spektakuläre Bilder.

Viele Deutsche liebe Tierfilme seit Jahrzehnten. Die von Ihnen genannten Heinz Sielmann und Bernhard Grzimek hatten Rekord-Einschaltquoten. Was mögen die Menschen an den Natur- und Tier-Dokus, wie Unser Planet 2?

Es gibt wohl kaum etwas Natürlicheres als die Natur zu mögen. Die Frage ist doch eher, warum wir sie so zerstören. Dass die Menschen gleichzeitig ein Interesse an der Natur und an Filmen über die Natur haben, lässt hoffen. Und wahrscheinlich ist auch eine gute Portion Sehnsucht dabei. Sehnsucht nach Ursprünglichkeit. Natur ist für viele auch mit Erlebnissen aus der Kindheit verbunden, viele hatten mal ein Haustier und hatten in der Kindheit mehr Bezug zur Natur und vermissen das. Das Interesse der Zuschauer ist für mich aber auch gleichzeitig immer ein Problem. Natürlich wollen wir, dass unsere Filme geguckt werden. Gleichzeitig bedeutet das aber, dass wir dadurch auch das Interesse wecken, selber in diese Region zu fahren. Und mal ganz abgesehen vom CO2-Ausstoß bei Flugreisen, ist das etwas, was mir Kopfschmerzen bereitet: Wenn unsere Filme dazu führen, dass Regionen bereist werden, für die das nicht gut ist.

Ist das Zuschauer*innen-Interesse für alle Natur-Dokus gleich?

Nein. Alles was süß ist und Fell hat oder gefährlich ist, läuft.

Deshalb also ein Film über die putzigen Erdmännchen in der Kalahari und nicht über den Großen Schwarzkäfer, der dort auch beheimatet ist?

Jo, kann man so sagen. Die Erdmännchen machen wir aber auch, weil wir das Glück hatten, ein schwangeres Erdmännchen-Weibchen – sagt man das so? (lacht) – zu entdecken und nun wollen wir die Geburt und ersten Wochen der Jungen natürlich filmen. Filme über Käfer und Insekten ziehen sicher weniger. Es sei denn, sie sind giftig oder sonst wie gefährlich, das hat dann wieder so einen Horror-Effekt und wird auch geguckt.

Netflixwoche Redaktion

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