Regisseur Sam Hargrave: „Ich hätte Extraction beinahe nicht gemacht“

Er lässt sich anschießen, schlagen und stürzt sich aus  Helikoptern – doch er weiß auch, wie er all das in spektakulären Bildern einfangen kann: Sam Hargrave hat als Stuntman angefangen und ist inzwischen ein gefragter Schauspieler, Action-Coordinator und Regisseur in Hollywood. Zu seinen Aushängeschildern gehören Avengers, Atomic Blond und Suicide Squad. Seine neueste Regiearbeit ist der Action-Blockbuster Tyler Rake: Extraction 2 mit Chris Hemsworth als kämpfender Söldner Tyler Rake in der Hauptrolle.

Zum Start von Extraction 2 hat Hargrave im Netflixwoche-Interview verraten, wie er Actionszenen komponiert, ob es einen dritten Teil geben wird und ob er jemals am Set Angst hatte.

Netflixwoche: Sie haben in zahlreichen Action-Filmen vor und hinter der Kamera gestanden. Welche Bedeutung hat da noch der Begriff Action für Sie?

Sam Hargrave: Für mich ist Action ein kreativer Ausdruck in einer Szene – und eine Möglichkeit, eine Geschichte zu erzählen. Es ist eine universelle Sprache. Egal, ob jemand deutsch, englisch oder koreanisch spricht: Action lässt sich in all diese verschiedenen Sprachen übersetzen, weil es nicht gesprochen werden muss, sondern visuell ist. Man spürt es wie Musik.

Wie Musik?

Ja, Action ist sehr musikalisch! Man erzählt eine Geschichte durch die Musikalität der körperlichen Bewegung. Letztendlich geht es beim Erzählen darum, den Zuschauern ein Gefühl zu vermitteln. Das ist es auch, wonach Zuschauer suchen: Man hört sich ein großartiges Musikstück an, bekommt Gänsehaut und es entsteht eine Erfahrung, an die man sich halten kann, wenn man durch das Leben geht. Ein großartiger Actionfilm oder eine großartige Actionsequenz tut für mich genau das.

Wie kommen Sie in diese Musikalität rein? 

Das hängt wirklich von der Geschichte ab, die man zu erzählen versucht – und von der Figur, die diese Geschichte verkörpert. Wenn man sich zum Beispiel die Marvel-Filme anschaut, hat jede Figur eine einzigartige Art, sich zu bewegen. Es ist wichtig, dass das Action-Design das einfängt – den Hintergrund der Figur, ihre Bedürfnisse, ihre Motivation. Ihre Bewegungen sollten dem entsprechen.

Wie haben Sie die Bewegungen bei Extraction 2 komponiert?

Bei diesem Film sieht man das am besten daran, wie Tyler Rake in der Gefängnis-Sequenz kämpft. Er wurde mit einem neuen Familienmitglied konfrontiert, jemandem, den wir vorher nicht kannten. Und jetzt ist er damit beauftragt, diese Person zu beschützen. Sein Grad an Verzweiflung hat dadurch zugenommen. Durch seine Bewegungen zeigt er diese Sensibilität. Er kämpft nicht mehr nur, um sich selbst zu schützen. Er kämpft, um jemanden zu schützen, der ihm wichtig ist.

Haben Sie noch ein Beispiel?

Ich will nichts spoilern, aber am Ende kämpfen der Gute und der Böse miteinander. Doch wenn sie kämpfen, fühlt sich das ganz anders an, weil diese beiden Figuren so viel durchgemacht haben. Sie sind erschöpft, sie sind müde, sie sind verwundet. Und das muss sich in der Körperlichkeit widerspiegeln.

Was ist denn auf Ihrer Action-Bucket-List?

Action-Bucket-List? Ich habe noch keine. Jede neue Geschichte, jede neue Ebene erfordert eine kreative Problemlösung. Ich denke also nicht so sehr darüber nach, was das Verrückteste ist, was ich tun könnte. Denn ich weiß nicht, ob das zur Geschichte passt. Ich will nicht versuchen, einen eckigen Pflock in ein rundes Loch zu stecken. Wenn ich zum Beispiel eine dreiminütige Fallschirmspringer-Sequenz machen will, aber der Film handelt von U-Booten – nun, das funktioniert nicht. Ich möchte also sicherstellen, dass ich diese Ideen habe, aber ich möchte sie auch offen genug halten, damit wenn man auf diese Geschichte stößt, innerhalb dieser Geschichte spontan sein kann.

Regisseur Sam Hargrave und Kameramann Greg Baldi bei den Dreharbeiten zu Extraction 2.

In Extraction 1 haben Sie spontan das Ende geändert. Gab es so etwas auch in Teil 2?

Ja, es gab tatsächlich eine späte Änderung und zwar in der Struktur des Films. Das Drehbuch beginnt mit dem Gefängnisausbruch. Wir dachten, was für eine coole Art, den Film mit einer crazy Actionszene zu eröffnen. Aber als wir dann mit dem Schnitt begannen, haben wir festgestellt, dass bei einer so langen Actionsequenz eine gewisse Distanz entsteht. Ohne zu verstehen, wer all diese Figuren sind und in welcher Beziehung sie zueinander stehen, ist das Publikum nicht stark involviert. Man fragt sich: „Wer sind diese Leute und warum sehe ich mir das 21 Minuten lang an?!“

Also haben Sie umgebaut.

Ja, wir haben ein bisschen umstrukturiert und die Personen vorher vorgestellt. Und anstatt später eine Rückblende zu machen, haben wir im Voraus erklärt, warum man sich darauf einlässt.Man baut diese diese Erwartung auf, der Zuschauer ist mittendrin: Wir wissen, wer die Figuren sind. Wir kennen die Gefahr. Und jetzt heißt es nur noch durchhalten, während Tyler Rake es tatsächlich schafft.

Der zweite Teil endet mit einem kleinen Cliffhanger. Können Sie schon mehr über die Zukunft von Tyler Rake verraten? 

Zum Glück kann ich nichts verraten, denn ich weiß es nicht. (lacht) Es gibt Gerüchte über einen dritten Film, alle hoffen, die Tyler-Rake-Saga fortzusetzen. Und wenn die Zuschauer so positiv darauf reagieren wie auf den ersten, kann man wahrscheinlich einen dritten Film erwarten.

Herr Hargrave, Action ist für Sie wie Musik, Extraction Ihr Stück. Doch was hat Sie überhaupt zu diesem Genre gebracht?

Ich war fünf, sechs Jahre alt als mein Großvater mir VHS-Kassetten mit aufgezeichneten Episoden von The Lone RangerZorro und The Roy Rogers Show schickte. Diese Western- und Action-Genres beeinflussten mich sehr. Mit meinem Bruder und meiner Schwester habe ich versucht, die Szenen nachzuspielen. Wir hatten kleine Videokameras und drehten unsere eigenen Filme. Ich las viele Bücher von Louis L'Amour, einem Western-Autor. Er hatte eine Schießerei und einen Faustkampf in jedem seiner Romane. Und diese Romane waren für mich wie kleine Drehbücher: Ich habe versucht, diese Szenen nachzustellen. Ich weiß nicht genau warum, denn niemand in meiner Familie oder in meinem Bekanntenkreis hat Filme gemacht. Es schien einfach das Richtige zu sein. Ich habe einfach diese Szenen aufgenommen, damit ich mit meinen Geschwistern beim Zugucken lachen kann. Das war also die früheste Action in meinem Leben.

Wie ging es danach weiter?

Als ich ein junger Teenager war, wurde Kampfsport zu einer Besessenheit – von da an war es vorbei. Ich habe mir jeden Tag Jackie Chan und Jet Li-Filme angesehen!

Sie haben einmal gesagt, dass Sie wie Jackie Chan Filme drehen.

Ja, das war mein Ziel: So zu sein wie Jackie Chan! Ich wollte schreiben, Regie führen, die Hauptrolle spielen, Stunts machen und alles schneiden. Und dann habe ich einen kleinen Umweg gemacht, um nach Hollywood zu gehen und als Stuntman zu arbeiten. Aber jetzt arbeite ich an Filmen und führe Regie – und zwar bei Action-Filmen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass es so kommt, wie es gekommen ist. Aber ich wusste immer, dass ich das tun wollte: Geschichten durch Action erzählen und das Publikum unterhalten.

Ein Team: Chris Hemsworth und Sam Hargrave bei der New Yorker Premiere von Extraction 2.

Haben Sie vor dieser Action nie Angst gehabt?

Angst? Ja! Aber das ist Teil des Lebens: Dinge zu tun, vor denen man Angst hat. Wenn man sich nicht in die Angst hinein begibt, dann wächst man nicht, denn Wachstum ist per Definition unbequem. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich mich selbst herausfordern und schwierigere Stunts machen sollte, weil es zwar beängstigend war, aber ich dadurch mehr Selbstvertrauen in meine Fähigkeiten hatte – und in der Lage war, beim nächsten Mal noch größere Stunts zu machen. Das Gleiche gilt für den Film.

Inwiefern?

Ich hätte beinahe Extraction nicht gemacht, weil es so beängstigend war! Die Vorstellung, bei einem Film Regie zu führen und für all diese Menschen verantwortlich zu sein, war überwältigend. Aber es war eine fantastische Gelegenheit. Und ein guter Freund von mir sagte: „Hey, das ist wahrscheinlich ein guter Indikator dafür, dass du es tun solltest – weil es dir Angst macht.“ Und so tat ich es und die Leute haben positiv darauf reagiert. Dann waren Netflix und AGBO, das Filmstudio der Russo-Brüder, so freundlich, mir eine Chance für den zweiten Film zu geben. Das hat mir wiederum Angst gemacht, denn der Erfolg des ersten Films war sehr einschüchternd. Wie können wir versuchen, einen Film zu machen, der besser ist als der erste? Das ist eine Herausforderung! Aber genau darin liegt auch das Wachstum.

Netflixwoche Redaktion

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