Wieso berühren uns Tode in Serien so sehr?

Sabrina, Eddie, Ali: In Serien haben uns schon einige Lieblingsfiguren verlassen. Ihr Ende schmerzt viele Zuschauer*innen fast so sehr, als hätten sie einen Freund verloren. Warum?

Achtung: Dieser Artikel enthält Spoiler zu Stranger ThingsSquid GameChilling Adventures of Sabrina und Sex and the City.

Er liegt mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Boden. An seinem Hals klafft eine große Wunde. Blut fließt. Auch aus seinem Mund. Daneben: tote fledermausartige Wesen.

„Oh Gott, Eddie!“, schreit Dustin, als er ihn sieht und zu ihm humpelt. „Nein, nein!“

Doch Eddie ist nicht so leicht hoch zu heben. „Dieses Mal bin ich nicht weggelaufen“, schluchzt Eddie.

Die Szene, in der Eddie Munson in den Armen seines Freundes Dustin Henderson stirbt, gehört zu den traurigsten Momenten in den vier Staffeln von Stranger Things. Gerade erst hatte der Teenager in Dustin, Lucas Sinclair und Mike Wheeler Freunde gefunden. Sich vom nerdigen Schulaußenseiter zum E-Gitarre spielenden Retter entwickelt. Aber der Versuch, im Upside Down die bösen Demobats wegzulocken, endete für Eddie mit dem Tod.

Ein Held mit Gitarre: Eddie im Upside Down.

Eddies Tod löste Unruhe aus, Sabrinas eine Petition

Nachdem die finale Folge der vierten Staffel am 01. Juli 2022 auf Netflix online ging, empörten sich einige Zuschauer*innen im Internet. Sie fanden seinen Tod entweder nicht gerechtfertigt oder besonders tragisch. Etliche trauerten, einigen glaubten sogar an seine Wiederauferstehung. Obwohl die Stranger Things-Macher Matt und Ross Duffer Eddies Tod bestätigten, quilten Online-Plattformen wie Reddit und X (ehemals Twitter) mit Spekulationen über. So, als wäre Eddie Munson eine echte Person und nicht eine fiktive Serienfigur.

Reaktionen wie diese gibt es immer wieder zu Film- und Serien-Charakteren. Über die Erschießung des gutherzigen Pakistaners Ali in der ersten Staffel von Squid Game wurde fast genauso viel gepostet wie über Eddie. Als Sabrina Spellman in Chilling Adventures of Sabrina starb und klar wurde, dass damit die Serie wirklich ihr Finale erreicht hat, forderte eine Online-Petition die Wiederbelebung. Und nachdem Mr. Big nach sechs Staffeln und zwei Filmen auf einem Hometrainer in der Sex and the City-Fortsetzung And just Like That starb, sank sogar die Aktie des Sportherstellers Peloton.

Ein Himmel für Hexen: Sabrina und ihr Freund treffen sich am Ende der Serie wieder.

Die Macht, die fiktive Tote über unsere Gefühle und Handlungen haben, ist nahezu erschreckend. Wenn auch nicht neu: So löste Goethes Werther bereits eine Welle von Selbstmorden aus, als der Roman 1774 veröffentlicht wurde. Und auch die ZDF-Serie Tod eines Schülers soll um 1981 den sogenannten Werther-Effekt ausgelöst haben. Doch warum ist das so? Wieso treffen uns fiktive Tode? Treiben uns zu Postings, Petitionen, echter Trauer?

Das Gehirn kann schwer zwischen Fiktion und echter Freundschaft unterscheiden

Das Phänomen nennt sich parasoziale Beziehung. Der Begriff stammt aus der Medienpsychologie und bedeutet, dass Rezeptient*innen eine einseitige Bindung zu einer Person in den Medien aufgebaut haben, wozu Filme, das Internet oder auch Bücher zählen können. Der Medienpsychologen Prof. Dr. Frank Schwab von der Universität Würzburg sagte dem Bayerischen Rundfunk, dass Teile des Gehirns die fiktive Person mit nahestehenden Menschen verwechseln würde.

Besonders intensiv sind die Gefühle bei realen Gesichtern. Sehen Zuschauer*innen beispielsweise mehrere Staffeln einer Serie, fühlen sie sich laut Schwab automatisch mit der dort zu sehenden Personen verbunden. Zudem haben menschliche Figuren, zu denen besonders Stars gehören, auch eine Vorbildfunktion. „Als Fans streben wir oft insgeheim danach, so zu sein wie unser Idol. Man stellt sich vielleicht vor, wie es wäre, selbst auf der Bühne zu stehen und zu singen oder zu schauspielern, bei Konzerten fühlen wir mit. Stirbt dieser Mensch dann, trifft uns das umso tiefer.“

In der ersten Staffel von Squid Game lernen Zuschauer*innen Ali kennen.

Es gibt mehrere Studien und wissenschaftliche Abhandlungen, die sich mit dem Wechselspiel Emotionen und Filmen beziehungsweise. Serien auseinandersetzen. Ein wichtiges Instrument für Autor*innen und Filmemacher*innen ist dabei Empathie. „Sie versuchen durch Erzählstrategien gezielt Mitgefühl für bestimmte Protagonisten zu wecken“, schreibt Alexa Weik von Mossner von der Universität Klagenfurt. „Wir sehen beispielsweise, dass es im Film regnet, und fühlen zugleich, wie der Regen sich anfühlt oder wie er riecht. Der Neurowissenschaftler Vittorio Gallese nennt das die Multimodalität visueller Wahrnehmung.“

Die größte Gefahr bei Erzählungen ist jedoch, dass bei negativen Emotionen ein begleitendes Gefühl der Machtlosigkeit entstehen kann. „Wut und Angst haben eine starke Handlungsdimension“, erklärt Weik von Mossner. Forscher*nnen plädieren dafür, beim Hervorrufen von negativen Gefühlen zeitnah Handlungsoptionen zu geben.

Bei Horrorfilmen lernt man zu überleben

Besonders gut darin sind laut der Fachzeitschrift Psychologie Heute Horrorfilme. Zuschauer*innen hätten hier das Gefühl, Kontrolle über ihre Angst zu haben, könnten zudem lernen, wie man im Ernstfall überlebt. Wobei letzteres wieder zur Aussage von Dr. Schwab passt: Lernen am Vorbild. Auch zu Krimis und Thriller finden sich solche Aussagen.

Dustin (l.) und Eddie wurden letztlich gute Freunde.

Blickt man auf die Serie Stranger Things und den Tod von Eddie, trifft er Zuschauer*innen natürlich sehr, da sie ihn bereits eine Weile kennenlernen durften. Wir wissen, wie der einstige Aussenseiter lebt, wie er denkt und fühlt. Und wir lernen, kurz vor seinem Tod, dass, wenn man Freund*innen helfen will, eine Abwehrtaktik zwar gut ist – man sich aber genau überlegen sollte, wie man wieder rauskommt. Auf ein offenes Feld Demobats zu locken? Weniger klug. Denn es gibt keine Möglichkeit, sich zu verstecken.

Zuschauer*innen erfahren außerdem, dass Sterben in den Armen eines Freundes etwas Beruhigendes sein kann. Eddie sah sich zuvor als Versager, der nicht mal seinen Schulabschluss schafft. Als Feigling, der immer nur wegläuft. In den Armen von Dustin stellt er am Ende fest: „Ich glaube, das ist mein Jahr, Henderson. Ich glaube, es ist endlich mein Jahr. Ich liebe dich, Mann.“

Bingen als seelische Reinigung

Die Wissenschaftlerin und Autorin Wiebke Schwelgengräber sieht in dem Bingen von Serien und Filmreihen letztlich eine seelische Reinigung und liefert damit eine Erklärung, warum wir uns letztlich Todesszene wie diese immer wieder anschauen.

In ihrem Buch Wer sehen will, muss spüren schreibt sie: „Im kathartischen Sinne kann eine leiblich gespürte Atmosphäre medizinisch wirksam sein, wenn sie mir hilft, gebündelt Emotionen anzustauen und sie dann abzuladen.“

Wenn Sie darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen oder mit jemandem reden möchten - hier finden Sie Hilfe: Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern lauten 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

Nadja Dilger, Netflixwoche

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