„Weg von der Schuljungen-Romanze“ – Joe Locke im Interview

Joe Locke hat vor kurzem etwas gelernt, wofür Schauspieler*innen oft Jahrzehnte brauchen: die Kunst, den Rummel auszublenden. „Ich glaube, wir sind alle sehr gut darin geworden, nicht über den unglaublichen Erfolg der Show nachzudenken“, sagt Locke über das Team von Heartstopper. „Denn wenn du das tust, explodiert dein Gehirn. Wir sind alle sehr gut darin, nicht daran zu denken.“

Den Anschein zu wahren, nicht zu sehr darüber nachzudenken, ist zu einem Markenzeichen von Locke geworden. Für ihn ist das entscheidend, um die Integrität seiner Arbeit zu bewahren, während er mit dem unerwarteten Star-Leben umgeht.

In Heartstopper spielt der 20-jährige Schauspieler einen unbeholfenen Teenager: Charlie Spring verliebt sich an seiner Highschool im Südosten Englands in den Rugbyspieler Nick Nelson (Kit Connor). Ganz natürlich und sensibel verkörpert Locke die nervöse Unruhe einer Figur, die mit dem Erwachsenwerden unter Vorurteilen zu kämpfen hat. Gleichzeitig verleiht er Charlie in seinen entschlossenen Momenten Biss und Schärfe.

„Charlie hatte in Staffel 1 dieses stille Selbstvertrauen. Er ist in der Lage, Nick um ein Date zu bitten und all diese Dinge zu tun, die viel Mut erfordern“, sagt Locke. „In Staffel 2 sehen wir dann einen kämpferischen Charlie. Er steht für das ein, woran er glaubt.“

Nach der Premiere im April 2022 schoss Heartstopper sofort in die Netflix Top 10 und gewann im gleichen Jahr noch vier Children's & Family Emmy Awards, darunter den Emmy für die beste Teen Series. Die Serie wurde für einen BAFTA für das adaptierte Drehbuch von Alice Oseman nominiert. Oseman hat auch die auch die Graphic Novels verfasst, auf denen die Serie basiert.

Heartstopper ist unwiderstehlich optimistisch. Die Serie feiert die junge queere Liebe, zeigt sie als wertvoll und greifbar zugleich. Die gemalten Herzchen- und Blumen-Animationen bieten einen Gegenpol zum düsteren Hedonismus vieler heutiger Teen-Serien.

„Es stellt sich heraus, dass das, was viele Leute jetzt wollen, nicht ein Gedenken an den Schmerz von Schwulen ist, sondern eine unschuldige Jugendliebe“, schrieb die New York Times.

Heartstopper hatte durch die Fans von Osemans Graphic Novels schon einen Vorsprung. Oseman, die auch als leitende Produzentin beteiligt ist, war Mitte der 2010er-Jahre eine Tumblr-Sensation durch ihren Heartstopper-Webcomic. Mit der Veröffentlichung des ersten Bands als Buch machte sie 2019 aus dem Tumblr-Projekt einen Bestseller.

Ein unbestreitbarer Indikator für den Einfluss der Serie auf junge Erwachsene ist TikTok. Auf TikTok posten Fans Analysen und Theorien, sie vertonen ihre Lieblingsclips mit Balladen von Lana Del Rey und Billie Eilish. Der Heartstopper-Hashtag zählt mittlerweile über 14 Milliarden Views – das sind fast doppelt so viele Views wie es Menschen auf der Welt gibt. „Es ist so toll, Teil einer Show zu sein, die so vielen Menschen so viel bedeutet“, sagt Locke.

Queerness ist nicht nur binär.

Joe Locke

Die erste Staffel von Heartstopper zeigt die queere Jugendliebe mit einer rosaroten Brille. Doch was passiert nach dem Kennenlernen? Wie geht man mit Depressionen, Essstörungen und homophoben Familienmitgliedern um? Die zweite Staffel stellt Charlie und Nick vor größere Herausforderungen, während sie noch versuchen, sich als Menschen zu finden.

„Die Beziehung entwickelt sich immer mehr zu einer richtigen Beziehung, weg von der Schuljungen-Romanze“, sagt Locke. „Charlie kämpft damit, sich mit Nick als Paar zu outen, und auch mit dem Druck, der damit einhergeht.“

In Staffel 2 hilft Charlie Nick dabei, sich bei Freund*innen und Familie als bisexuell zu outen. Aber seine selbstlose Art ist ihm auch eine Herausforderung. „Charlie kümmert sich so sehr um alle anderen in seinem Leben. Nicks Coming-out hat Charlie wahrscheinlich mehr gestresst als Nick selbst“, sagt Locke. „So ist Charlie eben.“

Die Hauptrollen setzen eine tiefe Verbundenheit und gegenseitigen Respekt zwischen den Schauspielern voraus. „Kit und Joe kennen Nick und Charlie jetzt so gut, und sie haben eine so vertrauensvolle und starke Schauspielpartnerschaft“, sagt Oseman. „Ich schätze mich wirklich glücklich, dass diese beiden unglaublichen Schauspieler zwei meiner liebsten Figuren spielen.“

Locke hat schon früh Bühnenluft geschnuppert. Er wuchs in der abgelegenen Stadt Douglas auf der Isle of Man auf. Die nächste Stadt, Liverpool, liegt eine dreistündige Fährfahrt entfernt.

Locke war ruhig und introvertiert – entdeckte aber, dass er sich auf der Bühne gut ausdrücken kann. Er überredete seine Mutter, ihn zu fünf Schauspielkursen auf einmal anzumelden. Das gleiche Engagement zeigte er auch, um die Rolle von Charlie zu bekommen. Für das Casting reiste Locke während der COVID-Pandemie von zu Hause auf das britische Festland. Nach der zweiwöchigen Isolationszeit überzeugte sein Vorsprechen das Casting-Team, und der damals noch unbekannte Locke wurde aus 10.000 potenziellen Schauspielern für die Rolle ausgewählt.

Wenn wir nur Medien sehen und konsumieren, in denen alle sterben und alle traurig sind, dann werden wir nie eine Welt haben, in der die Menschen glücklich sind, weil die Menschen nicht wissen, wie das aussieht.

Joe Locke

Die zweite Staffel von Heartstopper ist auch eine berührende Darstellung einer Wahlfamilie: den Freund*innen, die Charlie und Nicks zur Seite stehen. Die Beziehung des jungen lesbischen Paares Tara und Darcy wird auf die Probe gestellt. Isaac outet sich als asexuell. Und Tao und trans Mädchen Elle machen zaghafte Schritte aufeinander zu.

Locke weiß, wie wichtig es ist, das ganze Spektrum der LGBTQIA*-Community zu zeigen. „Queerness ist nicht nur binär“, sagt Locke. „Wir sehen in den Medien sehr viele schwule Männerbeziehungen im Vergleich zu anderen Beziehungen. Deshalb finde ich es toll, dass wir auch anderen queere Beziehungen zeigen können.“

Heartstopper wird für die unschuldige, liebevolle Geschichte gefeiert. Aber es wird auch immer Zyniker geben, gibt Locke zu. „Ich habe erlebt, dass einige Leute die positive Seite von Heartstopper als negativ ansehen, und das verwundert mich“, sagt er. „Wollt ihr nur deprimierende, traurige Sachen sehen, in denen alle schrecklich sind und die Welt schrecklich ist? Man kann keine Welt der Freude erschaffen, ohne etwas Freude hineinzupumpen. Wenn wir nur Medien sehen und konsumieren, in denen alle sterben und alle traurig sind, dann werden wir nie eine Welt schaffen können, in der die Menschen glücklich sind, weil die Menschen nicht wissen, wie das aussieht.“

Der nuancierte Optimismus der Show hat im heutigen gesellschaftlichen Klima eine besondere Kraft, sagt Locke. „Angesichts der wachsenden Anti-Trans-Bewegung, die immer weiter voranschreitet, ist es so wichtig, dass wir zeigen, dass trans Menschen nicht gefährlich sind“, sagt er. „Sie leben und existieren einfach, und ihre Existenz hindert dich nicht daran, zu existieren.“

Auch abseits der Kamera lebt Locke seinen Aktivismus immer stärker aus. Mit greifbaren Ergebnissen für die LGBTQIA*-Community: Nachdem der Schauspieler das Blutspende-Verbot für schwule Männer auf einer Pride-Veranstaltung auf der Isle of Man angeprangert hatte, änderte die Insel ihre diskriminierenden Vorschriften.

Und diesen Sommer schloss sich Locke seinen Schauspielkolleg*innen bei der Londoner Pride an, um zu demonstrieren und zu feiern. „Wenn man zweieinhalb Jahre lang eine Show zusammen macht, entsteht eine Bindung, die wohl niemand so recht verstehen kann“, sagt Locke. „Egal, wohin die Zukunft uns führt, wir werden ein Leben lang verbunden sein. Und das ist mir das Liebste.“

Owen Myers, Queue

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