Warum das deutsche Publikum Krimis liebt – Drehbuchautor Christoph Darnstädt über seine Serie Schlafende Hunde

Zum Start der neuen deutschen Thriller-Serie Schlafende Hunde auf Netflix haben wir ein Gespräch mit Drehbuchautor Christoph Darnstädt geführt: über Verschwörungstheorien, die RAF und die Frage, warum das deutsche Publikum so gerne Krimis schaut.

Mike Atlas sieht fertig aus. Er trägt eine zerschlissene Jacke und geht langsam auf einen Wohnwagen zu, der auf einem verwilderten Feld irgendwo im Berliner C-Bereich steht. Der Wohnwagen, platte Reifen, eingeschlagenes Fenster, vergilbte Wandfarbe, ist Atlas neues Zuhause.

Vor acht Monaten hat Altlas noch das geführt, was man ein bürgerliches Leben nennt: Er war Polizist und lebte mit seiner Frau und seiner Tochter in einem Reihenhaus. Doch nach einem Schicksalsschlag ist er abgestürzt und in den Wohnwagen gezogen.

Doch jetzt holt ihn seine Vergangenheit als Polizist ein. Als Atlas die Wohnwagentür aufziehen will, wird er geschubst. So heftig, dass er sich den Kopf anschlägt. „Drecksbulle“, schreit ein Mann in schwarzer Lederjacke und kickt Atlas sofort danach in die Magengrube. Dann hält er ihm eine Pistole an den Kopf und sagt: „Mein Bruder hat sich umgebracht. Das ist deine Schuld.“ Atlas schließt die Augen. Er hat Angst.

Mit dieser Szene beginnt Schlafende Hunde: Die deutsche Thriller-Serie ist eine Adaption des israelischen TV-Hits The Exchange Principle und erzählt die Geschichte von Mike Atlas (gespielt von Max Riemelt) und einer jungen Staatsanwältin (Luise von Finckh), die eine Verschwörung aufdecken, die bis in die Justiz und den Polizeiapparat reicht.

Zum Start der Serie haben wir ein Interview mit Christoph Darnstädt geführt, der die Drehbücher für Schlafende Hunde geschrieben hat. Ein Gespräch über die gefährliche Faszination von Verschwörungstheorien, die Baader-Meinhof-Bande und die Frage, warum das deutsche Publikum so gerne Krimis schaut.

Drehbuchautor Christoph Darnstädt im Porträt. © Christoph Darnstädt

Netflixwoche: In Schlafende Hunde geht es um eine Verschwörung, die bis in die Justiz und den Polizeiapparat hineinreicht. Wenn man die Drehbücher für so einen Stoff schreibt, wird man dann irgendwann paranoid?

Christoph Darnstädt: Nein, eigentlich nicht. Aber gerade in den letzten Jahren sind ja viele Verschwörungstheorien aufgekommen und viele Leute scheinen darauf zu stehen. Deswegen tut es ganz gut, mal mit einer Serie wie Schlafende Hunde zu erzählen: Die Dinge sind in Wirklichkeit viel banaler.

Während der Corona-Pandemie wurde unter Impfgegnern in Deutschland die QAnon-Verschwörungstheorie populär: Eine geheime Elite würde Kinder töten und ihr Blut als Verjüngungsmittel trinken. Warum fallen Menschen auf so etwas herein?

Das hängt viel mit Ängsten zusammen. Wenn man die Welt nicht mehr versteht, wird man anfälliger für einfache und spektakuläre Erklärungen. „Die da oben sind Schuld.“ „Wir werden angelogen.“ Solche Narrative funktionieren hervorragend und sind deswegen so gefährlich. Außerdem bieten Verschwörungstheorien Halt: Wenn man daran glaubt, gehört man selbst zu einer verschworenen Gemeinschaft.

Sind Sie schon einmal auf eine Verschwörungstheorie hereingefallen?

Bis zu einem gewissen Alter habe ich geglaubt, dass Ulrike Meinhof und ihre RAF-Kolleginnen und Kollegen sich nicht selbst umgebracht haben, sondern vom Staat getötet wurden. Aber das glaube ich heute nicht mehr.

Keine schöne Situation: Mike Atlas wird mit dem Tod bedroht

Über Eltern sagt man oft, dass Sie ein heimliches Lieblingskind haben. Hat man als Drehbuchautor auch heimliche Lieblingsfiguren?

Ja, eindeutig. In Schlafende Hunde ist die Staatsanwältin meine Lieblingsfigur. Weil sie böse zu sein scheint. Weil sie vieles falsch macht. Und weil sie eine Härte hat, mit der sie selbst nicht zurechtkommt. So was gefällt mir.

Angenommen, Sie würden Mike Atlas heute Abend in einer Berliner Kneipe treffen: Würden Sie ein Bier mit ihm trinken?

Klar, warum nicht. Allerdings muss ich zugeben, dass ich Mike Atlas mittlerweile nur noch schwer von Max Riemelt trennen kann, der ihn in der Serie spielt. Aber allgemein gesagt: Ich habe keine Scheu vor Menschen. Während meiner Studienzeit habe ich lange in einer Kneipe gearbeitet und stand selbst hinter dem Tresen. Solche Leute wie Mike kenne ich deswegen gut. Sehr gut sogar.

Sie haben in Ihrem Leben schon viele Tatort-Drehbücher geschrieben: Schauen Sie nach dem  Feierabend auch privat Krimis — oder haben Sie dann genug von Mord und Totschlag?

Den Tatort schaue ich ab und zu. Aber nicht, weil ich mir sage: Du musst auf dem Laufenden bleiben. Es interessiert mich auch so. Aber gerade bei Ermittler-Krimis ist bei mir eine bestimmte Erschöpfung eingetreten. Auch, weil ich so viele davon selbst geschrieben habe.

Was genau ist denn ein Ermittler-Krimi?

Das ist ein Krimi, bei dem am Anfang eine Leiche gefunden wird. Dann taucht ein Team von Polizisten auf und fragt: „Wo waren Sie von neun bis 18 Uhr?“ Dann gibt es drei Fehlfährten und am Ende ist der Mörder der, von dem man es am wenigsten geglaubt hat. Das ist ein klassischer Ermittler-Krimi. Den sieht man etwa 30 Mal pro Woche bei den Öffentlich-Rechtlichen. Ich persönlich schaue mir lieber Thriller an.

Luise von Finckh spielt in Schlafende Hunde die junge Staatsanwältin Jule Andergast.

Gibt es einen Thriller, der Sie besonders geprägt hat? Über den Sie sagen: Das ist ein Meisterwerk!

Ich bin Handwerker. Mich interessiert nicht die große Kunst. Sondern gutes Entertainment. Und da gibt es viele Sachen, die ich gut finde.

Zum Beispiel?

Auf der Flucht mit Harrison Ford. Auch, wenn man den Film schonmal gesehen hat und weiß, was passiert, ist er immer noch extrem spannend. Auch die Figuren sind großartig erzählt. Vor allem Tommy Lee Jones Rolle.

Jones spielt den Antagonisten: einen US-Marshall, der Harrison Ford jagt. Er hat dafür einen Oscar bekommen. 

Heute wird von Drehbuchautoren immer verlangt, dass sie wissen, warum ihre Figuren so sind, wie sie sind: Wo kommen sie her? Welche Kindheitstraumata hatte sie? Bei Auf der Flucht ist das anders. Über den US-Marshall wissen wir fast gar nichts. Jones macht die Figur lebendig. Das bewundere ich.

Carlo Ljubek und Antonio Wannek spielen in Schlafende Hunde zwei Polizisten.

Auf der Flucht ist 30 Jahre alt. Schauen Sie auch neue Produktionen?

Unbelievable auf Netflix ist eine der besten Thriller-Serien, die ich je gesehen habe. Darin geht es um zwei Polizistinnen, die hinter einem Serienvergewaltiger her sind. Als ich mit dem Drehbuchschreiben angefangen habe, waren solche horizontal erzählten Serien nicht möglich. Die Handlung durfte sich nicht über mehrere Folgen erstrecken. Jede Folge musste in sich abgeschlossen sein: der Kriminalfall der Woche.

Haben Sie eigentlich eine Erklärung dafür, warum das Krimi-Genre in Deutschland so beliebt ist?

Eine Erklärung nicht. Ich habe Vermutungen. Aber die treffen auch auf viele andere Länder zu.

Bitte.

Gerade Ermittler-Krimis sind eine Versicherung, dass alles gut wird. Am Ende wird der Mörder überführt und die Opfer werden getröstet. Das Recht hat gesiegt. Die Ordnung ist wiederhergestellt. Das ist etwas, das die meisten Menschen in der Realität nicht oder nur sehr selten erleben.

Lennardt Loss, Netflixwoche