Portland (Oregon), April 1994: Es ist früher Nachmittag. Der Kriminalreporter Phil Stanford sitzt an einem Schreibtisch im Redaktionsraum seiner Zeitung, als ihm ein Kollege einen Brief auf den Tisch legt. „Was da drin steht, klingt ganz schön irre“, sagt der Kollege. „Aber vielleicht interessiert dich das.“
Stanford öffnet den Brief. Die Handschrift ist unregelmäßig, fast aggressiv. Manche Wörter sind in Großbuchstaben geschrieben, andere nicht. Dazwischen: lächelnde Smilies.
Stanford liest: „Ich möchte meine Geschichte erzählen. Eigentlich bin ich ein guter Mensch. Aber ich habe mit etwas begonnen, das ich nicht mehr stoppen kann.“ In dem Brief gesteht der Absender fünf Morde. Er beschreibt, wie er junge Frauen geschlagen, vergewaltigt und getötet hat. Und wie ihm das Töten mit jedem neuen Opfer leichter fiel.
Zuerst ist Stanford skeptisch. Der Brief könnte ein geschmackloser Scherz sein. Doch: Was ist, wenn der Absender die Wahrheit sagt?
Diese Geschichte erzählt Phil Stanford selbst. In einer Folge der True-Crime-Serie Catching Killers, die von der Jagd auf den „Happy Face Killer“ Keith Hunter Jesperson erzählt. Ein kanadisch-amerikanischer Serienkiller, der in den 1990er Jahren für den Mord an acht Frauen verurteilt wurde – und nach eigener Aussage 185 Menschen getötet haben will.
True-Crime-Formate wie Catching Killers scheinen vor allem eine Zielgruppe abzuholen: Frauen. In den letzten Jahren sind Studien mit dem Ergebnis erschienen, dass sich deutlich mehr Frauen als Männer für True Crime interessieren. Auch True-Crime-Zeitschriften und -Podcasts werden überdurchschnittlich oft von Frauen konsumiert. So sind etwa 81 Prozent der Leser*innen von Stern Crime weiblich.
Doch ist True Crime wirklich ein Genre für Frauen? Und wenn ja: Was fasziniert Frauen an Geschichten über meist männliche Serienkiller und Mörder, die Frauen töten? Für diesen Text haben wir uns auf eine Spurensuche begeben. Wir haben uns Studien angeschaut, Essays gelesen und mit der Kriminalpsychologin und Autorin Lydia Benecke über das Phänomen True Crime gesprochen, über Groschenromane aus den 1930er Jahren, über Serien wie DAHMER – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer und über die Frage, was Werwölfe und Vampire mit einem FBI-Fragebogen zu tun haben.
True Crime als Ratgeberliteratur für Frauen
Eine der meist zitierten Studien über True Crime und Frauen stammt aus dem Jahr 2010. Darin haben zwei Wissenschaftler*innen aus den USA untersucht, warum True-Crime-Bücher über „Vergewaltigungen, Morde und Serienkiller“ bei Frauen beliebter sind als bei Männern. Sie kamen unter anderem zu dem Ergebnis, dass sich Frauen vor allem für True-Crime-Bücher interessieren, die a) von weiblichen Opfern erzählen und b) die Motive der Täter beleuchten. Die Wissenschaftler*innen stellten deswegen die These auf: Frauen wollen mit Hilfe von True-Crime-Büchern lernen, wie sie sich vor Verbrechen schützen können.
Ein Artikel auf Spiegel Online mit der Überschrift „Warum stehen Frauen so auf True Crime?“ (2019) geht noch auf eine andere Studie ein, die das Bundeskriminalamt und das Max-Planck-Institut 2017 durchgeführt haben: Frauen in Deutschland fühlen sich deutlich unsicherer als Männer und haben mehr Angst, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden. Die Spiegel-Autorin schreibt: „Ein möglicher Grund für das gesteigerte Interesse an True Crime ist, dass Frauen sich ohnehin gedanklich mehr mit Verbrechen beschäftigen – und solche Formate deshalb eher ihr Interesse wecken.“
Auch die New York Times vermutet, dass Frauen True Crime als eine Art Ratgeberliteratur konsumieren. In einem Essay von 2019 (Überschrift: Why Do Women Love True Crime?) zieht die Journalistin Kate Tuttle folgendes Fazit: „Vielleicht faszinieren uns True-Crime-Geschichten auch, weil wir von ihnen lernen wollen und denken: Wenn eine andere Frau einem Angreifer auf eine bestimmte Art entkommen ist, dann schaffe ich das auch.“
„Wir haben nicht genug harte Fakten“
Ein Anruf bei Lydia Benecke. Die Kriminalpsychologin und Autorin reist seit ungefähr zehn Jahren durch Deutschland und hält populärwissenschaftliche Vorträge über Kriminalpsychologie. Darin spricht sie etwa über die Frage, warum Menschen Verbrechen begehen. Über die wissenschaftliche Definition von Psychopathie. Und über sexuellen Sadismus. Sie schätzt, dass zwei Drittel der Menschen im Publikum Frauen sind.
Doch: Dass Frauen True Crime als eine Art Ratgeberliteratur konsumieren, glaubt Benecke nicht. Sie sagt: „Wir haben nicht genug harte Fakten.“ Die Studienlage sei zu dünn. „Deswegen haben wir gerade nicht viel mehr als Hypothesen.“
Benecke erzählt, dass sie nach ihren Vorträgen manchmal mit Menschen aus dem Publikum ins Gespräch kommt. Dann fragt sie oft: „Warum sind Sie hier? Was interessiert Sie an meinem Vortrag?“ Die häufigste Antwort: „Ich möchte verstehen, warum Menschen Verbrechen begehen.“ Dass jemand sagt „Ich will lernen, wie ich mich vor Gewaltverbrecher*innen schütze“ sei in fast zehn Jahren noch nie vorgekommen.
Es gebe allerdings einige Hinweise darauf, dass sich Frauen stärker mit den Schicksalen und dem Erleben anderer Menschen auseinandersetzen als Männer, sagt Benecke. Frauen lesen etwa häufiger Erfahrungsbücher, die von ungewöhnlichen Biografien erzählen, von überstandenen Krankheiten und überwundenen Krisen. Auch für das Studienfach Psychologie schreiben sich deutlich mehr Frauen als Männer ein; die Wissenschaft also, die untersucht, wie Menschen fühlen, denken und handeln.
„True Crime könnte das verbreitete Interesse von Frauen an Menschen und ihren Erlebnissen ansprechen“, sagt Benecke. Die Betonung liegt dabei allerdings auf „könnte“. Denn auch hier sei die Informationslage zu dünn, um eine verbindliche Aussage zu treffen.
Unschuldig im Gefängnis: „Serial“ und „Making a Murderer“
Der True Crime-Boom begann vor über acht Jahren mit einem Podcast in den USA. In Serial sprach die Journalistin Sarah Koenig über einen Mord an einer High-School-Schülerin, für den ein junger Mann vermutlich zu Unrecht verurteilt wurde – und 23 Jahre lang im Gefängnis saß. In zwei Jahren wurde Serial über 80 Millionen Mal heruntergeladen.
Ungefähr ein Jahr später, 2015, erschien auf Netflix die True Crime-Serie Making a Murderer. Auch hier ging es um einen mutmaßlichen Justizirrtum. Making a Murderer ist das Langzeitporträt eines Mannes, der 18 Jahre unschuldig im Gefängnis saß und kurz nach seiner Haftentlassung erneut verurteilt wurde, für den Mord an einer anderen jungen Frau.
Seitdem dominieren True Crime-Formate regelmäßig die Netflix Top 10. Serien wie Don’t F**k with Cats – Die Jagd nach einem Internet-Killer und The Keepers schauen Millionen von Menschen. Tiger King löste im ersten Corona-Jahr 2020 sogar einen weltweiten Hype aus.
Doch True Crime ist kein neues Genre.
Fragt man Lydia Benecke, was uns an True Crime fasziniert, dann erzählt sie von ihrer Großmutter. Jahrgang 1923. Geboren und aufgewachsen in einem katholischen Wallfahrtsort in Oberschlesien. „Als meine Oma ein Kind war, Anfang der 1930er Jahre, hat meine Uroma der ganzen Familie abends Gruselgeschichten vorgelesen“, sagt Benecke. Genauer gesagt: Groschenromane über Geister und Vampire, aber auch über echte Mörder*innen und ihre Verbrechen. Wie die ungarische „Blutgräfin“ Elisabeth Báthory, die auf ihren Burgen junge Mädchen zu Tode gefoltert haben soll und dafür 1611 als Serienkillerin verurteilt wurde. „Für mich sind diese Groschenromane die Vorgänger der heutigen True-Crime-Formaten“, erklärt Benecke.
Aus echten Verbrechen werden Märchen
„Wenn man noch weiter in der Geschichte zurückgeht“, sagt Lydia Benecke, „sieht man, dass aus echten Kriminalgeschichten manchmal Märchen geworden sind.“ Wie das Märchen vom Ritter Blaubart, der seine Ehefrauen köpft und ihre Leichen in einem Kellerverlies versteckt. Als historisches Vorbild für Blaubart diente vermutlich Gilles de Rais: Ein französischer Marschall, der im 15. Jahrhundert ein berüchtigter Kindermörder war. Bei seiner Verurteilung konnte das Gericht Gilles de Rais 140 Morde nachweisen. Doch vermutlich tötete er mindestens 400 Kinder.
Aber warum wird aus dem historischen Kinderserienmörder Gilles de Rais über die Jahrhunderte die Sagengestalt Blaubart?
„Manche Verbrechen“, sagt Benecke, „erzeugen ein solches Entsetzen, dass viele Menschen sich nicht vorstellen können, dass ein Mensch wie du und ich diese begangen haben könnte.“ Deswegen nennen wir solche Taten oft „unmenschlich“. Wir sprechen den Täter*innen ihr Menschsein ab und machen aus ihnen Monster, Grusel- und Märchengestalten. Einige Legenden und Geschichten über Werwölfe und Vampire, sagt Benecke, könnten besonders aufsehenerregende Verbrechen zurückgehen.
Die These mit den Werwölfen und Vampiren vertritt auch der kanadische Serienkiller-Experte Peter Vronsky. In seinem Buch American Serial Killers: The Deadliest Years 1950-2000 schreibt er an einer Stelle: „In vormodernen Zeiten hat man sich Serienkiller als übernatürliche Monster vorgestellt, als Vampire, Werwölfe und Ghule.“ Vampire und Werwölfe erinnern sogar an die FBI-Klassifikation von organisierten und desorganisierten Serienkillern.
„Wie ein Vampir“, schreibt Vronsky, „sucht sich der organisierte Serienkiller seine Opfer sorgfältig aus. Er stalkt sie, schmeichelt ihnen und täuscht sie.“ Organisierte Serienkiller töten kaltblütig und berechnend. Desorganisierte Serienkiller verhalten sich hingegen wie Werwölfe: „Sie suchen sich ihre Opfer zufällig und impulsiv aus“, sagt Vronsky. „Es gibt kein Stalking, keine Planung.“ Nur blinde Wut.
„True Crime ist wie Achterbahnfahren“: Warum wir süchtig nach Geschichten über Mord sind
Vom Blaubart-Märchen über Groschenromane bis zu DAHMER – Monster: True-Crime-Stories faszinieren uns schon seit Jahrhunderten – und vermutlich ist es dabei egal, ob wir männlich, weiblich oder divers sind. Denn die Gefühle, die True Crime bei uns auslöst, sind universell.
„Wenn wir True-Crime-Formate schauen, haben wir keine Angst, sondern gruseln uns“, sagte Benecke. Ein wichtiger Unterschied: „Angst ist ein aversives, also unangenehmes Gefühl. Ausgelöst wird es, wenn wir eine mögliche oder tatsächliche Gefahr wahrnehmen. Grusel empfinden wir dagegen als angenehm.“ Es ist ein bisschen so wie bei einer Achterbahnfahrt. Wir werden mit hoher Geschwindigkeit durch die Luft geschleudert, unser Adrenalin-Level im Blut steigt, Endorphine werden ausgeschüttet und wir erleben einen intensiven, emotionalen Kick. Doch obwohl unser Notfallsystem aktiviert wird, wissen wir gleichzeitig: Uns kann nichts passieren.
Aber es gibt noch eine zweite Erklärung für die Faszination von True Crime. „Menschen“, sagt Benecke, „wenden sich Gefahrenquellen zu.“ Deswegen entstehen nach Unfällen auf Autobahnen oft Staus. Obwohl es irrational ist, fahren viele Menschen unwillkürlich langsamer und gaffen. Dabei ist es egal, ob die Gefahr real ist, wie bei einem Feuer, das sich mit hoher Geschwindigkeit ausbreitet. Oder nicht real, wie bei einer True-Crime-Show über Serienkiller.
Vermutlich, sagt Benecke zum Schluss, gebe es viele Antworten auf die Frage, warum Menschen True Crime schauen. „Manche interessieren sich vielleicht für die Ermittlungsarbeit der Polizei. Andere für die Hintergründe der Tat. Und wieder andere für die Art, wie Täter*innen ihre Opfer ausgewählt hat.“ Einem echten Serienkiller zum Opfer zu fallen: Davor brauche man sich allerdings nicht zu fürchten. „Das ist extrem unwahrscheinlich“, sagt Benecke.
Lennardt Loss, Netflixwoche