Seit die Serie Sandman erschienen ist, gab es im Netz nicht nur begeistertes Lob, sondern auch einige kritische Kommentare: Die Serie sei „zu divers“, „zu queer“, mit „zu vielen“ Figuren, die in den Comics weiß oder männlich sind, und in der Serie von Schwarzen Frauen gespielt werden.
Vor allem die Besetzung von Death – in den Comics ein weißes Goth Girl, in der Serie gespielt von Kirby Howell-Baptiste – löste Diskussionen aus. In diesem Gastkommentar geht die bekannte Kulturjournalistin Samira El Ouassil der Frage nach, warum die Verkörperung eines abstrakten Konzepts wie des Todes so emotional diskutiert wird – und warum die Besetzung absolut Sinn ergibt.
Death ist in Sandman – anders als ihr grimmiger Bruder Dream – warmherzig und lebensbejahend.
Über das Sterben in der Popkultur lässt sich offenbar gut wütend sein. Der Drehbuchautor und Regisseur Max Landis produzierte 2012 ein fantastisches viertelstündiges Video über den Tod und die Auferstehung von Superman nach seinem Kampf gegen Doomsday in den DC Comics, also über den Kampf, der später auch zur motivischen Vorlage für die Warner Brothers-Umsetzung in Batman v Superman: Dawn of Justice (2016) wurde.
Es handelt sich dabei um einen vermeintlich leicht angetrunkenen rant, in welchem er sich über die narrativen Inkohärenzen aufregt, die entstehen, wenn Superhelden, die eigentlich unsterblich sind, sterben sollen. Landis ist frustriert, dass der Tod eines Superhelden keinerlei erzählerische Bedeutsamkeit hat, keine Spannung aufrechterhält und auch keinen Klimax erzeugt, wenn vor dem Ableben einer Figur klar ist, dass sie zu wichtig ist, um wirklich zu sterben. Und dabei erwähnt er auch ein Gespräch mit seinem Vater, dem Regisseur der Blues Brothers-Reihe, John Landis:
„Als ich klein war und mich über Regeln in Filmen aufregte, fragte er mich: ‚Wie tötet man einen Vampir?‘
Und ich so: ‚Mit einem Pfahl durch das Herz, oder... du weißt schon...‘
Und mein Vater: ‚Nein! Du kannst einen Vampir töten, wie immer du willst, denn Vampire existieren gar nicht! Man kann Regeln für alles Mögliche erfinden, was man will.‘“
Für fantastischen Wesen gelten keine Naturgesetze
Neben der Feststellung, dass es dramaturgisch wirklich etwas öde ist, wenn man in einem Comic oder einer Verfilmung so tut, als könne einer der größten Superhelden wirklich sterben, ist das eine vielleicht beiläufige, aber doch sehr entscheidende Erkenntnis: Alle mystischen Wesen und Monster der Literatur und Popkultur sind Erfindungen des Geistes, die unseren Gefühlen, Ängsten und Sehnsüchten eine für uns nachvollziehbare Form verleihen. Ihr Aussehen unterliegt allein den Regeln und der Kreativität ihrer Schöpfer*innen und folglich auch der Logik, die sich diese für eine fiktionale Welt ausgedacht haben.
Deshalb kann es einerseits Vampire geben, die in einem Werk die Sonne meiden müssen, weil sie sonst verbrennen würden, und andererseits solche, die nicht in die Sonne gehen dürfen, weil sie sonst glitzern.
Diese Wandelbarkeit muss man sich bei Darstellungen von Mythen und Märchen, bei all unseren Erzählungen und ihren filmischen Umsetzung immer wieder ins Gedächtnis rufen: Es gibt bei fantastischen Wesen keine Naturgesetze.
Warum stören sich Menschen an Schwarzen Elfen?
In den derzeitigen Debatten über die schauspielerische Besetzung, vor allem von großen Blockbustern, wird viel über Konventionen diskutiert und über mutmaßlich kanonische Ausgestaltungen gerungen. Über Ästhetiken, an die man sich gewöhnt hat und die zumeist reproduziert werden, weil sie den eingeübten Sehgewohnheiten entsprechen. So ist unser Blick beispielsweise in großem Maße von einer mitteleuropäischen, mediävistisch anmutenden Fantasywelten geprägt, mit Bezügen aus der nordischen und keltischen Mythologie, weshalb sich einige Kritiker*innen aktuell an Schwarzen Elfen stören oder an Schwarzen Protagonist*innen in Serien über Königshäuser, die Politik mit Drachen machen.
Der Rat von Vater Landis an seinen Sohn erscheint banal wie wichtig: „Vampire existieren nicht!“ Deswegen kann man jegliche Darstellungstradition dekonstruieren (Sogar die Bibel!) und Leseerwartungen untergraben, um aus einer Adaption bestenfalls ein wirklich neues, eigenständiges Werk zu machen – und das führt mich zu einer meiner Lieblingsfiguren des Comic-Universums: Neil Gaimans Death aus seinem legendären Comic The Sandman.
Death ist eine der sieben Ewigen, eine der anthropomorphisierten Verkörperungen elementarer, existenzieller Konzepte der Wirklichkeit, die Gaiman als Familie auftreten lässt. Ihre Geschwister sind Destiny, Dream, Destruction, Desire, Despair und Delirium (die mal Delight war).
So webt Gaiman u.a. eine Geschichte über die liebevolle Beziehung zwischen dem Sandman (alias Dream) und Death, zwischen dem Traum und dem Tod. Denn jedes Einschlafen ist wie ein tägliches Sterben und ein erneutes Wiederauferstehen. In dieser Familiendynamik geht es auch um die Frage, wer mächtiger ist und wessen Reich größer.
So beispielsweise zwischen Desire und Dream, zwischen Begehren und Traum: Entsteht aus den Träumen der Menschen ihr Begehren oder aus dem Begehren das, wovon sie träumen? Und am ältesten und mächtigsten bleibt das Schicksal alias Destiny, der große stoische Bruder, der über den ordnungsgemäßen Lauf der Dinge wacht.
Schädel, Umhang und Sense
Von allen Verkörperungen dieser abstrakten Konzepte ist der Tod sicherlich die bekannteste. Die Angst vor dem Tod und der Wunsch, die eigene Ohnmacht in Anbetracht der eigenen Endlichkeit zu überwinden, bedingen, dass ihm in Theaterstücken, Romanen, Opern, Serien, Videospielen oder Animationsfilmen oftmals die Rolle eines Verhandlungspartners gegeben wurde.
Der Tod ist einer, mit dem man über das eigene Ableben vielleicht noch diskutieren, den man bestenfalls noch austricksen kann. In Die G'schicht' von' Brandner Kasper erspielt sich der Protagonist beim bairischen Tod, dem Boandlkramer, noch ein paar Lebensjahre, nachdem er ihn ziemlich betrunken gemacht hat. Mit einem Trick brachte König Sisyphos den griechischen Tod namens Thanatos dazu, sich selbst in Ketten zu legen, weshalb eine zeitlang keiner mehr starb – ähnlich wie es mit Dream alias Morpheus in Gaimans Serie passiert, wo die Menschen beim Versuch, den Tod einzufangen, stattdessen ihren Bruder erwischen, wodurch weltweit Menschen nicht mehr aus ihre Träumen erwachen können.
In der christlichen Tradition, laut dem Buch der Offenbarung, war der Tod neben drei anderen apokalyptischen Reitern ein Mann auf einem Pferd. Das Skelett oder der fahle Mensch in schwarzer Kutte als Totenfigur sind von angelsächsischen Traditionen beeinflusst, die bis heute unsere Vorstellungen von diesem Wesen prägen. Ob in Ingrid Bergmanns Das siebente Siegel (1957), im Roman Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, wo die drei Brüder den Tod austricksen, in Comics von Ralph Ruthe oder als Gevatter Tod namens Mort in Terry Pratchetts Scheibenwelt – immer wieder ist dabei mindestens eines der drei Elemente zu sehen: Schädel, Umhang und Sense.
Gelegentlich gibt es auch weibliche Versionen. In den Marvel-Comics verliebt sich beispielsweise Thanos in Lady Death, eine Gestalt mit Frauenkörper, Schädel und Umhang. Er vergöttert sie so sehr, dass er das halbe Universum vernichtet, nur um ihr zu imponieren. Das war Disney im Avengers-Franchise vielleicht dann doch zu radikalromantisch, wo sein Genozid in eine Tötung aus Ressourcengründen umgedeutet wurde.
Death aus den Sandman-Geschichten, eine lebensbejahende, warmherzige Frau im Goth-Look, die einem zum Abschied noch zulächelt, ist vielleicht auch deshalb so beliebt, weil sie der vollkommene Gegenentwurf zum Tod ist: Ihre Fürsorglichkeit konterkariert die furcheinflössende Unbarmherzigkeit des klassischen Skeletts. Sie ist eine Subversion dessen, wie der Tod für gewöhnlich in Mythologie und Popkultur zu sehen ist.
Ihre Ausgestaltung als Tod ist auch deswegen so bemerkenswert, da sie in der Geschwisterdynamik Dream ergänzt und ihm Erdung abverlangt. Der König der Träume ist zu Beginn seiner Entwicklung ein leicht kränkbarer Narzisst, der Menschen abschätzig behandelt. Zugleich ist er schwermütig und in seine eigene Gravitas verliebt. Death hält mit ihrer Begeisterung für die Menschheit dagegen, fasziniert von ihrem Lebenswillen, ohne sich als Ewige selbst zu ernst zu nehmen.
Mit schwarzer Jeans, Tanktop und einer existenziellen Unbekümmertheit wirkt sie wie jemand, mit dem man befreundet sein könnte. Gaiman sagt, er habe versucht, sich vorzustellen, wen er als letztes sehen wollen würde, wenn er stirbt: eine freundliche und nahbare Gestalt.
Netflixwoche Redaktion