Wie realistisch ist Dirty Lines? Eine Frau, die seit über 20 Jahren Telefonsex macht, erzählt

In unserer neuen Rubrik Reality Check stellen wir die ungewöhnlichsten Geschichten aus Netflixserien auf den Prüfstand und fragen Menschen, die es wissen müssen: „Sag mal, wie realistisch ist das eigentlich?“

Heute reisen wir zurück in die 1980er Jahre und schauen uns Dirty Lines an. Eine Serie aus den Niederlanden, in der es um die erste Telefonsexhotline Europas geht. Dafür haben wir uns Nicole Kuhlert (52) eingeladen, die seit über 20 Jahren „auf der Line“ ist, ihr Ausdruck für Telefonsex. Mittlerweile betreibt sie eine Agentur für Telefonsex. Und hat ein Buch über ihr Leben geschrieben: „Die Nummer mit der Nummer: Mein Leben mit der Hotline“.

Ein Gespräch über Scham, Lust und Alufolie.

In der ersten Folge von Dirty Lines macht Hauptfigur Marly eine Probeaufnahme für eine Telefonsexfirma. Sie sitzt vor einem Mikrofon und soll eine erotische Geschichte vorlesen. Doch sie schämt sich so sehr, dass sie kaum ein Wort herausbekommt. Ging Ihnen das am Anfang auch so?

Na, klar. Ganz viel, was passiert, wenn sich zwei Menschen im echten Leben begegnen, passiert auf der Line nicht. Der Anrufer fällt mit der Tür ins Haus. Ein wirkliches Kennenlernen gibt es nicht. Man duzt sich sofort. Man benutzt Kraftausdrücke. Man geht sozusagen sofort miteinander ins Bett. Das ist schwierig, gerade am Anfang.

Wen duzt man da eigentlich? Also: Gibt es einen bestimmten Typ Mann, der sich in Sexhotlines einwählt?

Jedermann. Man kann nicht sagen: Das ist so einer. Es gehört allerdings eine Menge Mut dazu, auf der Line anzurufen. Denn das, was da am Telefon geschieht, ist ja eigentlich etwas, was jeder mit sich selbst macht.

Sie reden von Selbstbefriedigung?

Genau. Normalerweise ist man allein, wenn man sich selbstbefriedigt. Auf der Line ist das anders. Aber es ist auch so, dass der eine oder andere Mann, kurz bevor er kommt, auflegt, weil er dabei mit sich allein sein möchte.

Dass Marly bei der Probeaufnahme kein Wort herausbekommt, ist also ganz normal?

Ja, total. Man muss so ein Gespräch ja auch richtig betonen. Ich kann nicht lustlos sagen: „So, jetzt hole ich dir mal einen runter.“ Gewisse Worte brauchen einfach die entsprechende Betonung. Das ist gerade am Anfang hart. Das Herz schlägt einem bis sonst wohin. Man hat eiskalte Hände und ist klatschnass geschwitzt. Man muss hören, sprechen und denken. Und das alles zugleich. Denn: Ein falsches Wort sorgt dafür, dass der Mann auflegt. Das braucht viele, viele Gespräche, bevor man in der Gesprächsführung sicher ist.

Sie haben Anfang der 2000er Jahre mit Telefonsex angefangen.

Das waren noch andere Zeiten. Ich hatte damals weder ein Handy noch einen Computer. Damals gab es viel weniger Zugang zu Pornografie. Heute sieht ja fast jede Shampoo-Werbung wie ein Porno aus. Als mich der erste Mann anrief und sagte, dass er gerade Frauenunterwäsche trägt, da dachte ich nur: Hä? Der lügt mich doch an! Von solchen Fetischen hatte ich vorher noch nie etwas gehört.

Das klingt überfordernd.

Als ich die Wünsche und echten Fantasien der Männer kennengelernt habe, da habe ich zu mir gesagt: „Sag mal, hast du eigentlich gar nichts gelernt in deinem Leben?“ Das war alles so fremd, so neu. Darum kann ich schon sehr gut verstehen, warum Marly in der Serie schüchtern ist. Das hätte ich sein können. Jedenfalls fast. Ein bisschen mutiger war ich schon. Und ich hatte nicht so ein strenges Elternhaus.

Marly wird von ihren Eltern vor die Tür gesetzt, als herauskommt, dass sie eine Probeaufnahme für die Telefonsexfirma gemacht hat. Gibt es das heute auch noch? Diese gesellschaftliche Ächtung?

Ich denke schon. Hätte ich Kinder, dann hätte ich mein Buch wohl nicht unter meinem echten Namen geschrieben. Denn dann hätten meine Kinder wahrscheinlich keine Freunde mehr gehabt, auf dem Schulhof hätte man mit dem Finger auf sie gezeigt.

Warum ist das auch heute noch so? Wo wir doch eigentlich in aufgeklärten Zeiten leben.

Ich glaube: Die Menschen sind nicht ehrlich. Jeder Mensch hat Lust und jeder Mensch hat so seine Fantasien. Warum kann man nicht darüber reden? Interessant ist übrigens: Im Süden von Deutschland scheinen die Menschen ja prüder zu sein als im Norden. Auf der Line sieht das ganz anders aus. Je weiter wir nach Süden gehen, desto versauter werden die Fantasien.

Bei Dirty Lines glühen die Leitung regelrecht. Ständig ruft jemand an. Gibt es heute auch noch so eine riesige Nachfrage nach Telefonsex?

Die Gespräche laufen Tag und Nacht, sieben Tage die Woche. Natürlich ist es zu manchen Tageszeiten auch schwierig. Zum Beispiel morgens. Ich sage mal so: Die Morgenlatte ist schnell wieder unten. Wie es halt so ist in der Welt. Morgens geht’s schneller als abends.

Gibt es auch eine tote Zeit? Wo gar nichts geht?

Man merkt schon, dass weniger los ist, wenn am Sonntag der Tatort läuft und wenn Fußballspiele anstehen. Und früher hat man auch gemerkt, wenn Michael Schuhmacher Formel 1 gefahren ist. Dann haben einen plötzlich die Männer gut erreicht, die sonst nie durchgekommen sind. Auch die Corona-Zeit hat man gespürt: Die Familien waren alle zu Hause und die Männer konnten nicht auf die Line.

Die Männer konnten nicht anrufen, weil ihre Frauen zu Hause waren? Also stimmt das Klischee, dass viele verheiratete Männer heimlich anrufen?

Manche Männer rufen sogar an, wenn die Frau neben ihnen im Bett schläft. Manchmal frage ich einen Kunden: „Sag mal, du sprichst so leise. Ich kann dich nicht verstehen. Rede mal lauter.“ Und er sagt dann: „Das geht nicht. Meine Frau schläft neben mir.“ Das ist schon krass. Dann merke ich, wie ich selbst plötzlich leiser spreche. Und mir denke: Oh Gott, hoffentlich wacht die Frau nicht auf. So als wäre ich wirklich zusammen mit dem Mann im Schlafzimmer.

Joy Delima als geschäftstüchtige Studentin Marly in Dirty Lines.

Sie betreiben auch eine Agentur für Telefonsex. Was für Frauen wollen für Sie arbeiten?

Quer durch die Bank: Das kann die Pastorenfrau sein, die Lehrerin, die Erzieherin, die Gärtnerin, die Büroangestellte, die Hartz-IV-Empfängerin. Die älteste Mitarbeiterin, die ich je hatte, war 86 Jahre alt.

Oha.

Bei dieser Frau wusste niemand in der Familie, dass sie Telefonsex macht. Weder die Kinder noch die Enkelkinder.

Wie lange war die Frau dabei?

Lange, sehr lange. Sie hat das wirklich mit großer Leidenschaft gemacht. Am Telefon hat sie natürlich nicht ihr wahres Alter gesagt. Sie klang auch nicht wie eine 86-Jährige. Aber ab und an dachte man sich schon: Wenn der Mann jetzt wüsste, dass er mit so einer reifen Frau spricht, die vielleicht sogar älter als seine Oma ist. Aber das ist ja das Schöne an der Line: Es geht nicht darum, wie alt ich bin, wo ich wohne, wie ich aussehe.

Wenn sich eine neue Frau bei Ihnen vorstellt, erkennen Sie dann auf den ersten Blick, ob Sie Talent für Telefonsex hat?

Ich habe keinen Blick. Ich habe das Gehör und das Gespür dafür. Ich sehe die Frauen ja nicht. Alle meine Mitarbeiterinnen habe ich noch nie gesehen.

Echt?

Die Frauen sitzen bei sich zu Hause und telefonieren mit mir. Ich merke dann schon, ob es passen könnte. Eine hundertprozentige Trefferquote gibt es natürlich nicht. Bei mir hat sich einmal eine Prostituierte gemeldet. Eine Frau, die als Domina gearbeitet hat und irgendwann gesagt hat: „Ich habe keinen Bock mehr, weil ich als Domina immer 24 Stunden pro Tag bereitstehen muss. Wenn ein Kunde sich bei mir meldet und ich gerade bei der Gartenarbeit bin, dann muss ich mir über meine dreckigen Hände die Lederhandschuhe ziehen und ins Studio fahren.“ Ich dachte natürlich: Die Frau muss gut sein. Die weiß, wovon sie spricht.

Aber das war nicht so?

Die Frau hat es am Telefon nicht hingekriegt, obwohl sie jahrelang als Domina gearbeitet hat. Umgekehrt sagen die Männer zu mir, wenn ich auf der SM-Line bin, dass ich sie den Kalk von den Wänden kratzen lassen würde. Und ich habe in der echten Welt null Erfahrung als Domina. Es ist total verrückt.

Haben Sie eine Vermutung, woran das liegen könnte?

In der echten Welt begegnen sich Körper. Auf der Line begegnen sich Seelen. Manchmal denke ich mir: Eigentlich müsstest du einmal eine Kamera aufstellen, wenn du telefonierst. Deine Hände greifen nach jemandem, der gar nicht da ist.

Das klingt auch sehr anstrengend. Ist man nach den Gesprächen nicht total erledigt?

Ja, total. Manchmal reicht ein langes Gespräch. Man hat auch so gewisse Kunden, die einen regelrecht aussaugen. Danach muss ich mich erstmal aus dem System wählen, um mich zu erholen. Darum ist auch dieses Klischee Quatsch, dass die Frauen beim Telefonsex kochen oder bügeln würden.

Weil man sich beim Telefonsex auf nichts anderes konzentrieren kann?

Die Männer sind ja nicht doof. Sie haben ihre Ansprüche, ihre Lust, ihre Fantasien. Für mich sind diese Fantasien neu. Ich habe bei jedem Gespräch die Augen geschlossen und stelle mir den Menschen am anderen Ende der Leitung vor. Ich muss ihn begreifen, obwohl er nicht da ist. Und mir gleichzeitig überlegen: Was erzähle ich einem fremden Mann, den ich nicht sehe? Von dem ich keine Mimik und Gestik habe. Sondern nur die Stimme. Meine Worte müssen Bilder malen. Natürlich gibt es auch den einen oder anderen Anrufer, der sagt: „Komm stöhn für mich!“ Oder so einen Quatsch. Aber darauf habe ich keinen Bock. Ich bin ja keine Maschine. Auf Knopfdruck kann ich nicht stöhnen. Außerdem ist Stöhnen auch echt nicht gut für die Stimmbänder.

Stöhnen ist verpönt auf der Line?

Stöhnen ist krass anstrengend. Und es ist ja auch nicht so, dass der Anrufer glaubt, dass ich mich befriedige bei dem Gespräch. Ich verkaufe sexuelle Fantasien. Dabei geht es nicht um mich. Sondern ich führe den Anrufer dahin, wo er hinwill. Wenn ich erzählen würde, dass ich gerade frisch geduscht aus der Dusche komme und nur einen Bademantel trage, würde mir das doch kein Mann glauben. Ich will, dass der Mann auch nach dem Gespräch noch an mich denkt. Logisch, er soll ja auch wieder anrufen. Irgendwann habe ich deshalb die Sache mit der Alufolie ins Spiel gebracht.

Die Alufolie?

Ich wollte wissen, ob die Männer auch wirklich gekommen sind. Also habe ich gefragt: „Hast du Alufolie?“ Die Männer haben die Folie dann vor ihre Füße gelegt. Und wenn sie gekommen sind, hat es geknistert. Das konnte ich durchs Telefon hören. Kennen Sie noch Wetten, dass...?

Berauscht von ihrem eigenen Erfolg: Die Geschäfte der Telefonsex-Hotline florieren.

Na klar.

Wenn Deutschland nicht so prüde wäre, hätte ich da mitmachen können: Ich wette, dass ich jede Alufolie, die hierzulande verkauft wird, nur an dem Geräusch erkennen kann, das entsteht, wenn ein Mann darauf kommt.

Bei Dirty Lines dreht sich die Welt der Figuren irgendwann nur noch um Telefonsex. Es ist alles, worüber sie nachdenken. Dabei vernachlässigen sie auch ihr Privatleben. Kennen Sie diese Erfahrung?

Ja, die kenne ich. Ich war zwar jahrelang körperlich anwesend, aber geistig überhaupt nicht. Ich hatte keine Lust essen zu gehen oder mich mit Bekannten zu treffen. Warum soll ich mich zu denen an den Tisch setzen und irgendwelche Nichtigkeiten besprechen, wenn das, was ich am Telefon erlebe, viel interessanter ist? Ich war wie besessen davon, was in den Köpfen der Anrufer für Fantasien stecken.

Haben Sie eine Erklärung dafür? Was genau macht Telefonsex so faszinierend?

Das, was auf der Line passiert, macht doch das Leben aus. Eigentlich geht es doch im Leben darum, sich fortzupflanzen und die Menschheit zu erhalten. Lust, Geilheit, Triebe: Genau diese Gefühle liegen auf der Line ganz offen dar. Das macht es so faszinierend.

Man lebt in einem Orgasmus-Wunderland?

Wir alle denken doch ständig an Sex. Und auf der Line geht es nur darum. Alle Alltagsprobleme, alle Schwierigkeiten verschwinden und es gibt nur noch dieses schöne Gefühl. Wenn man die richtige Einstellung hat und natürlich auch den richtigen Kunden, kann es durchaus passieren, dass man am Ende des Gesprächs selbst befriedigt ist. Es ist eine völlig andere Welt, wo nur Trieb und Lust ist. Und wo jeder so sein kann, wie er ist.

Lennardt Loss, Netflixwoche

Drücke ESC, um die Suche zu schließen.