„Jede Katastrophe hat einen Anfang“ – Die wahre Geschichte hinter der Drama-Serie Painkiller

Die neue Netflix-Serie Painkiller ist eine fiktionalisierte Nacherzählung von einer der verheerendsten Krisen in der Geschichte der USA: der Opioid-Epidemie. Zum Start der Serie schauen wir uns an, wie die Epidemie entstanden ist und was das Schmerzmittel OxyContin damit zu tun hat.

Glen Kryger hat einen Wutanfall. Er steht auf dem Parkplatz seiner Autowerkstatt in North Carolina und schreit seinen Stiefsohn Tyler an: „Mir reicht’s jetzt! Steig aus!“ Statt in der Werkstatt zu helfen, sitzt Tyler in einem Bagger und hebt mit der Schaufel ausrangierte Motorenteile auf, nur um sie aus zwei, drei Metern Höhe wieder auf den Boden krachen zu lassen. Wohl aus Langeweile.

„Schalt endlich das Ding aus“, ruft Kryger und springt in die Fahrerkabine. Tyler hebt seine Arme: „Ich mach doch nur Quatsch!“ Dabei berührt er aus Versehen einen Schalthebel. Der Bagger dreht sich ruckartig nach links. Kryger verliert das Gleichgewicht und stürzt mit dem Rücken zuerst auf den Boden. Irgendetwas knackt in seiner Wirbelsäule.

Kurz danach liegt Kryger in einem OP-Saal und wird notoperiert. Zuerst sieht es so aus, als habe er Glück gehabt. Als er aus der Narkose aufwacht, sagt man ihm, dass er sich bald wieder erholen wird. Doch das passiert nicht. Auch Wochen nach der OP hat Kryger immer noch starke Rückenschmerzen. Er kann nicht durchschlafen. Jede Bewegung tut weh.

Painkiller: Glen Kryger (Taylor Kitsch) liegt nach seinem Unfall auf dem Boden, kann sich nicht bewegen.

Irgendwann geht Kryger zu seinem Hausarzt und bittet um ein stärkeres Schmerzmittel. Der Arzt überlegt kurz und verschreibt Kryger ein neues Medikament, das angeblich so sicher sein soll wie alle anderen Schmerzmittel auf dem Markt. Der Name des Mittels: OxyContin. Es wird aus Kryger in wenigen Monaten eine Junkie machen.

Diese Szene stammt aus Painkiller: Einer neuen Drama-Serie auf Netflix, die davon erzählt, wie die Opioid-Krise in den USA entstanden ist und welche Folgen sie bis heute hat. Painkiller basiert auf wahren Begebenheiten. Allerdings wurden aus dramaturgischen Gründen einige Figuren, Namen, Ereignisse, Orte und Dialoge fiktionalisiert.

Glen Kryger hat es zum Beispiel nie gegeben. Aber seine Geschichte steht beispielhaft für die von ungezählten US-Amerikaner*innen, die angeblich harmlose Medikamente wie OxyContin verschrieben bekommen haben und plötzlich drogenabhängig waren.

Zum Start von Painkiller haben wir uns Studien des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums angeschaut und Sachbücher über Pharmakonzerne gelesen, um Euch die drei wichtigsten Fragen zur Serie zu beantworten: Wie verheerend ist die Opioid-Krise in den USA wirklich? Wie ist sie entstanden? Und was hat das alles mit dem Unternehmen einer Milliardärsfamilie zu tun, die lange Zeit vor allem für ihre Philanthropie berühmt war?

„Es gibt in West Virginia keine Familie, die nicht massiv davon betroffen wäre“: Die Opioid-Krise in den USA

2021 meldete das US-Gesundheitsministerium eine schockierende Zahl: Zwischen April 2020 und April 2021 sind in den USA über 100.000 Menschen an einer Drogenüberdosis gestorben. Ein Rekordwert, der etwa der Einwohner*innenzahl von Städten wie Salzgitter, Hanau oder Jena entspricht.

Die Opioid-Krise begann allerdings nicht erst 2021. Seit 1999 steigt die Zahl der Drogentoten in den USA. So stark, dass viele nicht mehr von einer Krise, sondern von einer Epidemie sprechen. Allein von 1999 bis März 2021 starben laut dem US-Gesundheitsministerium fast 841.000 Menschen an einer Überdosis.

Auf Entzug: Taylor Kitsch als Glen Kryger in der neuen Netflix-Serie Painkiller.

Einer der ersten Journalisten, der über die Opioid-Krise berichtet hat, war Barry Meier. Sein Sachbuch Pain Killer (Erstausgabe: 2003) war auch eine wichtige Quelle für die Netflix-Serie. Im Vorwort der Neuauflage (2018) beschreibt Meier, wie die Epidemie mittlerweile zum Alltag in den USA gehört. Es sind harte, oft grauenerregende Beobachtungen.

Meier erzählt etwa, dass in vielen Krankenhäusern Neugeborene zur Welt kommen, die in den ersten Wochen ihres Lebens einen Entzug durchlaufen müssen, weil ihre Mütter opioidabhängig sind. Und dass es in manchen Regionen so viele Drogentote gibt, dass die Leichenschauhäuser überfüllt sind und man Kühlanhänger mieten muss, um die Leichen zwischenzulagern. „Die Auswirkungen der Epidemie“, schreibt Meiers, „waren so weitreichend, dass die Lebenserwartung von weißen Männern in den USA zum ersten Mal seit über 20 Jahren gesunken ist.“

Besonders hart hat die Krise einen ohnehin schon armen und strukturschwachen US-Bundesstaat getroffen: West Virginia. Die Pharmazeutische Zeitung beschreibt den Staat als das Epizentrum der Epidemie und zitiert einen ehemaligen Bezirksstaatsanwalt aus Charleston, der Bundeshauptstadt von West Virginia: „Es gibt keine Familie, keine Straße, keine Kirche, keine Schule, kein Dorf, keine Stadt, die nicht massiv davon betroffen wären“.

OxyContin, die angebliche Wunderpille

„Jede Katastrophe, egal ob natur- oder menschengemacht, hat einen Anfang“, schreibt Barry Meier in Pain Killer. „Und für die Opioid-Krise war das ein Medikament mit dem Namen OxyContin.“ OxyContin kam 1995 auf den Markt und wurde laut Meier als ein Wunder-Medikament angekündigt, dass die Art, wie Schmerzen behandelt werden, für immer verändern sollte.

West Duchovny spielt in Painkiller eine junge Pharmareferentin, die mit OxyContin hohe Boni verdient.

Purdue Pharma, das mittlerweile insolvente US-amerikanische Pharmaunternehmen hinter OxyContin, bewarb ihr neues Medikament mit aggressiven Marketing-Kampagnen und Lobbyarbeit. Der Journalist Patrick Radden Keefe, der Painkiller mitproduziert hat, schreibt in einem Artikel für das Magazin The New Yorker dazu: „Ein Hauptanliegen der Kampagne [von Purdue Pharma] bestand darin, dass OxyContin nicht nur bei starken, kurzfristigen Schmerzen verschrieben werden sollte, etwa nach einer Operation oder bei einer Krebserkrankung. Sondern auch bei weniger akuten, länger anhaltenden Schmerzen: bei Arthritis, Rückenschmerzen oder Sportverletzungen.“

Diese Strategie ging auf. OxyContin und entwickelte sich zu einem Blockbuster-Medikament und wurde massenhaft verschrieben. Die Neue Züricher Zeitung berichtet: „Gefördert von den verlockenden Werbebotschaften von Purdue, wurde Oxycontin schnell zum Allheilmittel für fast jedermann. Ein gebrochener Arm, eine Berufsverletzung oder durch Abnutzung verursachte Gelenkschmerzen, und schon gab es ein entsprechendes Rezept. Viele dieser Patienten rutschten in die Sucht.“ Denn der Wirkstoff von OxyContin ist alles andere als harmlos.

OxyContin enthält Oxycodon. Ein Opioid mit hohem Suchtpotenzial, das ungefähr doppelt so stark wirkt wie Morphin. In einem Interview mit dem Schweizer Magazin Republik sagt ein Arzt: „[Oxycodon] ist der Zwillingsbruder von Heroin.“ Die Substanz löse ein High aus, eine Art Euphorie. Und wirke auf das Belohnungszentrum im Gehirn. „Deshalb treten sofort starke Entzugs­symptome auf, wenn man sie absetzen möchte.“

Matthew Broderick spielt in Painkiller Richard Sackler, den Vorsitzenden und Präsidenten von Purdue Pharma.

Für viele Menschen in den USA begann damit eine Abwärtsspirale. Wer nach der Behandlung kein Oxycodon mehr verschrieben bekommen hat, hat es sich laut der Pharmazeutischen Zeitung oft auf dem Schwarzmarkt besorgt. Mit der Zeit seien dann viele Menschen auf eine billigere Alternative umgestiegen: auf Heroin. Das Heroin wiederum wurde oft mit Fentanyl gestreckt. Ein Opioid, das deutlich stärker ist als Heroin – und dass man viel leichter überdosieren kann.

Für Expert*innen wie Barry Meier steht deswegen fest: „OxyContin war kein Wundermittel. Es war die Einstiegsdroge zur verheerendsten Gesundheitskatastrophe des 21. Jahrhunderts.“

„Sie sprechen fast nie öffentlich über ihr Familienunternehmen“: die Sacklers

Der Journalist Patrick Radden Keefe recherchiert gerade über Drogenkartelle in Mexiko, als ihm etwas auffällt: 2010 schmuggelt das Sinaloa-Kartell plötzlich viel mehr Heroin in die USA als zuvor. Zuerst wundert er sich. Doch dann findet Keefe heraus, dass die Heroin-Lieferungen mit der Opioid-Krise zusammenhängen. Im Netflix-Gespräch sagt Keefe dazu: „Eine ganze Generation von Amerikanern hat angefangen, Heroin zu konsumieren, nachdem sie Schmerzmittel wie OxyContin verschrieben bekommen hat.“

Uzo Aduba spielt in Painkiller eine Ermittlerin der US-Staatsanwaltschaft, die es mit Purdue Pharma aufnehmen will.

Keefe recherchiert weiter. Er stößt auf den Namen Purdue Pharma und beschließt, einen Artikel zu schreiben, der von der Familiendynastie hinter dem Unternehmen erzählt: den Sacklers.

Mit einem geschätzten Vermögen von über 13 Milliarden US-Dollar (Stand: 2017) gelten die Sacklers als eine der reichsten Familien der USA. Als Keefe seinen Artikel 2017 schreibt, sind die Sacklers vor allem für ihre Philanthropie bekannt. Sie spenden hohe Geldsumme an Universitäten, Museen und Krankenhäuser auf der ganzen Welt: Sowohl im Metropolitan Museum of Art in New York City als auch im Louvre in Paris gibt es einen Sackler-Flügel.

Was viele zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Den Sacklers gehört Purdue Pharma, das Unternehmen hinter OxyContin. Keefe schreibt in seinem Artikel: „Während die Sacklers regelmäßig wegen ihrer Großzügigkeit interviewt werden, sprechen sie fast nie öffentlich über ihr Familienunternehmen Purdue Pharma“.

Matthew Broderick als Richard Sackler auf einer Firmenfeier in Painkiller.

Doch bald ändert sich das Bild der Sacklers in der Öffentlichkeit. Es gibt tausende Klagen gegen Purdue Pharma, hohe Vergleichssummen werden gezahlt. Protestierende versammeln sich vor dem Metropolitan Museum of Art, schütten Tabletten ins Wasserbecken eines altägyptischen Tempel im Sackler-Flügel und fordern: „Streicht ihren Namen!“ 2019 meldet Purdue Pharma schließlich Insolvenz an. 2020 bekennt sich das Unternehmen wegen Verstößen gegen mehrere amerikanische Bundesgesetze schuldig, darunter wegen Verschwörung zum Betrug.

Die Sacklers selbst bestreiten jede Schuld. 2022 stimmen sie einem Vergleich zu, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet hat: „Sechs Milliarden Dollar sollen in die Suchthilfe fließen, dafür bekommt die Familie Immunität vor zukünftigen zivilrechtlichen Forderungen.“ Gleichzeitig beenden immer mehr Museen und Universitäten ihre Zusammenarbeit mit den Sacklers. Heute, ungefähr sechs Jahre nachdem Keefes Artikel erschienen ist, gibt es die Sackler-Flügel im Metropolitan Museum of Art und im Louvre nicht mehr. Wohlhabend sind die Sacklers aber immer noch. Forbes hat ihr Familienvermögen 2020 auf über 10 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Lennardt Loss, Netflixwoche

Drücke ESC, um die Suche zu schließen.