Morden Frauen anders? Ein Strafverteidiger im Interview

Auf Netflix erscheinen immer wieder True-Crime-Formate, die von mordenden Frauen erzählen. Doch stimmt es, dass Frauen anders töten als Männer? Diese Frage haben wir dem Ex-Strafverteidiger und Autor Veikko Bartel gestellt.

Als die Bodybuilderin Sally Dempsey ihren späteren Ehemann Ray McNeil zum ersten Mal trifft, denkt sie: Er sieht aus wie Adonis. Ray hat eine ausdefinierte Muskulatur, fast kein Gramm Eigenfett und gilt wie Sally als Nachwuchstalent in der Bodybuilding-Szene.

Ray und Sally daten zwei Monate lang. Dann heirateten sie im Juni 1987 und ziehen zusammen nach Oceanside, Kalifornien. Ein Traumpaar, könnte man denken. Doch ungefähr acht Jahre später – am Valentinstag 1995 – wird Sally den Notruf wählen und sagen: »Ich habe gerade meinen Mann erschossen, weil er mich verprügelt hat.«

Die Netflix-Serie Killer Sally arbeitet den Fall Sally McNeil auf und stellt dabei eine Frage in den Mittelpunkt: Wie wurde aus einer jungen Frau eine Mörderin? Doch Killer Sally ist nicht das einzige True-Crime-Format, das von mordenden Frauen erzählt. Auf Netflix erscheinen immer wieder Serien und Filme über Killerinnen. Zuletzt etwa die True-Crime-Doku Die Dame der Stille: Die Mataviejitas-Morde über die mexikanische Serienkiller Juana Barraza.

Zusammen mit dem ehemaligen Strafverteidiger und Autor Veikko Bartel haben wir uns einige dieser True Crime-Formate genauer angeschaut und mit ihm über Mörderinnen, Motive und Waffen gesprochen.

Netflixwoche: Sie haben 13 Jahre lang als Strafverteidiger gearbeitet. Haben Ihre weiblichen Mandantinnen anders gemordet als ihre männlichen?

Veikko Bartel: Ja, Frauen morden anders. Zum einen in der Begehungsart: Die meisten Frauen würden bei einer direkten körperlichen Auseinandersetzung gegen einen Mann den Kürzeren ziehen. Deswegen wählen viele von ihnen Mordmittel, die gemeinhin als heimtückisch gelten: etwa Gift. Und zum anderen schienen mir die Gründe für den Mord oft viel komplexer, viel tiefgründiger zu sein.

Frauen morden tiefgründiger?

Bei Tötungsdelikten, die von Männern begangen wurden, habe ich oft gedacht: Um Gottes Willen, was ist das für ein banaler Grund! Ich erinnere mich an einen Jugendlichen, der an einem frühen Morgen über einen Bahnhofsplatz lief, wo seine Altersgenossen auf den Bus zur Arbeit warteten. Der Jugendliche ging auf einen anderen jungen Mann zu und stach ihm mit einem Messer ins Herz. Einfach so. Auf die Frage, warum er das getan habe, sagte er bloß: „Es war Montag.“ Bei Frauen habe ich so etwas grausam Banales nie erlebt.

In Deutschland werden nur etwa 15 Prozent aller Morde von Frauen begangen. Warum gibt es bei Mord einen so eklatanten Geschlechterunterschied?

Ich habe zu dieser Frage natürlich keine kriminologischen oder soziologischen Untersuchungen durchgeführt. Aber nach 13 Jahren als Strafverteidiger würde ich sagen, dass Frauen eine viel größere Leidensfähigkeit besitzen, als sie Männer je haben werden. Die Hemmschwelle zum Mord ist bei Frauen deswegen  höher. Außerdem greifen Männer viel häufiger zu Gewalt, wenn sie sich durchsetzen wollen. Man kann schon sagen, dass bei Tötungsdelikten auch patriarchale Geschlechterrollen wirken.

Die True Crime-Doku Die Dame der Stille: Die Mataviejitas-Morde erzählt den Fall von Juana Barraza nach. Eine mexikanische Serienkillerin, die über 40 Menschen getötet haben soll. Bei den Ermittlungen hat die Polizei lange nach einem Mann gefahndet. Trauen wir als Gesellschaft Frauen nicht zu, dass sie kaltblütig und willkürlich morden können?

Das denke ich schon. Viele Männer betrachten Frauen immer noch als das schwache Geschlecht und würden ihnen erstmal nicht zutrauen, dass sie auch zu Serienmorden fähig sind. Dabei gibt es unter Frauen natürlich genauso tiefgehende Soziopathinnen und Psychopathinnen wie unter Männern.

Sie haben einmal gesagt, dass man als Strafverteidiger auch ein Voyeur sein muss. Wie meinen Sie das?

Ich verteidige als Verteidiger nicht die Tat, sondern den Menschen. Deswegen muss ich zuerst verstehen, was meinen Mandanten zu seiner Tat veranlasst hat. Ich muss in seine Psyche eintauchen: Was sind seine größten Niederlagen? Wofür schämt er sich? Wo hat er versagt? Wovor hat er Angst? Welche Dämonen sind in ihm? Und was musste geschehen, damit er an diesem einen Tag zum Mörder wurde? Um die Antworten auf diese Fragen herauszufinden, braucht man schon einen gewissen Voyeurismus. Wissen Sie: Niemand wird als Mörder, als Vergewaltiger, als Räuber oder als Dieb geboren. Sondern er wird dazu gemacht — oder macht sich manchmal selbst dazu.

Das müssen Sie bitte genauer erklären.

Stellen Sie sich einen Menschen vor, der über 16, 17, 18 Jahre in einem Elternhaus aufwächst, wo ihm vorgelebt wird, dass Gewalt ein probates Mittel zur Konfliktbewältigung ist. Und dem niemals beigebracht wurde, was es heißt, Achtung vor dem Leben, der Gesundheit und auch den Ansichten anderer zu haben. Bei so einem Menschen liegt die Hemmschwelle viel niedriger, ein Tötungsdelikt zu begehen, als bei jemanden, der in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen ist. Schon Karl Marx hat gesagt: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Trotzdem wird nicht jeder, der in einem gewalttätigen Elternhaus aufwächst, zum Mörder. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum manche Menschen töten und andere nicht?

Diese Frage hat mich schon als Jugendlicher interessiert: Gibt es das Böse? Während meiner Zeit als Strafverteidiger ist es mir jedenfalls nie begegnet. Auch in der Seele des grausamsten Psychopathen gibt es einen Ort gänzlich unbefleckter Reinheit — und diesen Ort wollte ich immer finden.

Die Netflix-Serie Die Verbrechen unserer Mutter erzählt von einer Frau, die einer Weltuntergangssekte beitritt und bald glaubt, dass ihre Tochter und ihr Adoptivsohn Dämonen sein. Am Ende sind die Kinder tot. Würden Sie nicht sagen, dass das eine absolut böse Tat ist?

So eine Tat ist nicht zu entschuldigen. Aber glauben Sie mir: Man kann jeden Menschen durch Manipulation dazu bringen, dass er sich selbst oder seine eigenen Kinder umbringt — und dabei glaubt, er täte das Richtige. Daran habe ich nicht die geringsten Zweifel. Kennen Sie den Katzenkönigfall?

Nein.

Da hat ein Pärchen einen Polizisten dazu gebracht, die Verlobte von dem Ex-Freund der Frau zu töten. Das Pärchen hat dem Polizisten eingeredet, dass es ein böses Wesen namens Katzenkönig gibt, das die Menschheit vernichten will und nur durch ein Menschenopfer besänftigt werden kann. Dieser Fall hat sich nicht im vorvorletzten Jahrhundert zugetragen, sondern in den 1980er-Jahren in Deutschland. Deswegen muss ich sagen: Wenn der Fall aus Die Verbrechen unserer Mutter auf meinem Schreibtisch gelandet wäre, hätte mich die Motivlage nicht überrascht.

Zur Person

Veikko Bartel (Jahrgang 1966) hat 13 Jahre lang Mörderinnen und Mörder in über 40 Tötungsdelikten als Strafverteidiger vor Gericht vertreten. Über diese Zeit hat er mehrere Bücher geschrieben. Darunter Mörderinnen und Mörder. Heute ist er Dozent für Steuerrecht und lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Lennardt Loss, Netflixwoche

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