Mixed by Erry: Das ist die wahre Geschichte der Frattasio-Brüder

Sie erstellten 10.000 Kassetten in sieben Tagen, beschäftigten 100 Mitarbeiter*innen und machten einen Jahresumsatz von umgerechnet 4,6 Millionen Euro: Die Netflix-Komödie Mixed by Erry erzählt die Aufstiegsgeschichte der Frattasio-Brüder, die größten Raubkopierer Italiens.

„Ooooh Francesca!“ Peppe Frattasio (Giuseppe Arena) kann nur noch an seine Angebetete (Chiara Celotto) denken. Der Teenager will sie endlich für sich gewinnen. Ein Mixtape soll helfen und Bruder Enrico (Luigi D'Oriano) muss es erstellen. Immerhin liebt die ganze Nachbarschaft Enricos zusammengetragene Lieder. Und die Amore einer jungen Frau lässt sich nicht besser entfachen, als mit der Liebe zur Musik.

So beginnt die Aufstiegsgeschichte der Frattasio-Brüder in der neuen Komödie Mixed by Errydie seit dem 31. Mai auf Netflix zu sehen ist.

Die Geschwister Peppe, Enrico und Angelo (Emanuele Palumbo) leben in Neapel der 1980er-Jahre. Ihr Vater verkauft Tee als Whiskey an Touristen, ihre Mutter ist Hausfrau. Während Peppe seiner Traumfrau nachhängt, prügelt sich Angelo durch die Gassen und Enrico putzt in einem Geschäft für elektronische Ware.

Den meisten sagt Enrico, dass er DJ sei. Im Elektronikgeschäft gibt es Schallplatten und Kassetten. Letztere überspielt er mit Musik: The Jackson Five, Kim Wilde – durch seinen Job kommt er an die Songs der amerikanischen Stars, deren Platten sich sonst kaum einer aus dem Umfeld der Geschwister leisten kann. Auf Wunsch mixt Enrico Tapes nach individuellen Vorlieben  zusammen und packt seine eigene Empfehlung dazu. Doch DJ? So nennen die Nachbarn und örtlichen Veranstalter*innen Enrico nicht. Als das Elektronikgeschäft schließt, haben die Brüder samt Francesca eine Idee.

Mixtapes wie Whiskey auf dem Schwarzmarkt

Sie wollen die von Enrico kreierten Mixtapes in großem Stil produzieren und verkaufen. Mithilfe von zwielichtigen Kontakten, die ihnen Geld leihen, einen Raum voller Rekorder für die Produktion sowie Zigarettenschmugglern, die die Ware wie Whiskey auf dem Schwarzmarkt verticken. Nicht zu vergessen: ein neuer, cooler Name: „Erry“ statt Enrico, „Mixed by“ statt DJ. In blauer Farbe steht der Titel über dem ehemaligen Elektronikgeschäft und die Menschen in Neapel stehen Schlange. Mixed by Erry? Das gefragteste Label made in Italy!

So einfach es im Film klingt, so verblüffend leicht war es auch im echten Neapel. „Ich war das YouTube oder Spotify der 1980er-Jahre“, sagte Enrico Frattasio der britischen Tageszeitung The Guardian im März 2023. „Das Geld war nicht der Punkt. Ich habe Kompilationen erstellt. Jede hat mich ein paar Tage Zeit gekostet, ich habe einen ernsthaften Kuratorjob gemacht.“

Enrico Frattasio lernte im Plattenstudio

Der wahre Enrico Frattasio wurde in Forcella, einem Arbeiterviertel in Neapel, geboren. Im Alter von zwölf schickte ihn sein Vater als Lehrling in ein Plattenstudio. So sollte der Junge von der Straße fern bleiben.

Enrico Frattasio findet schließlich Gefallen an der Musik, auf Abruf erstellt er Mixtapes. Und als er im Alter von 17 Jahren Geld bei einer Fußballwette gewinnt, kreiert er erste Remixe sowie eine Raubkopie des Albums Studio 54 – eine Sammlung von Titeln aus dem berühmten New Yorker Nachtclub.

Die Menschen in Neapel lieben Enricos Tapes und die restlichen Frattasio-Brüder steigen mit ein. Anders als im Film machten alle drei Geschwister bei Enrico Frattasio mit. Der dritte, Claudio, möchte heute nur nicht mehr wegen familiärer Differenzen mit der Familie in Verbindung gebracht werden, weswegen die Filmemacher Sydney Sibilia und Armando Festa ihn in der Netflix-Komödie nicht darstellen. Auch in dem Buch Mixed by Erry. La Storia Dei Fratelli Frattasio von der neapolitanischen Autorin Simona Frasca taucht Claudio nicht auf.

100 Mitarbeiter*innen, 10.000 Kassetten

Die Geschichte der Frattasio-Brüder wurde schon früh von internationalen Medien aufgegriffen. Und mit dem Ruhm kam der Neid. Vor allem von den internationalen Plattenfirmen BMG, Warner und EMI.

Die Brüder erreichten Hörer*innen bis nach Rumänien und Hongkong. Zu Hochzeiten beschäftigten sie 100 Mitarbeiter*innen, erstellten 10.000 Kassetten in sieben Tagen und machten einen Jahresumsatz von umgerechnet 4,6 Millionen Euro. „Italien hat die höchste Piraterierate in Europa“, heißt es 1997 in der schottischen Zeitung The Herald. 22 Prozent des gesamten italienischen Umsatzes in der Musikbranche machen nicht autorisierte Aufnahmen aus – made und mixed by Erry.

Die Frattasio-Brüder: Angelo (Emanuele Palumbo), Peppe (Giuseppe Arena) und Enrico (Luigi D'Oriano).

Viele Hörer*innen wussten nicht, dass die Aufnahmen der Brüder Raubkopien waren. „Alles war völlig illegal, aber das Gesetz war tolerant, weil sie das Problem der Arbeitslosigkeit gelöst haben“, sagte Autorin Simona Frasca dem Guardian. „Die meisten anderen Raubkopien waren von schlechter Qualität – darunter auch diejenigen, die vorgaben, von Erry gemischt zu sein. Sie verwendeten nur qualitativ hochwertige Produkte.“

Musiker*innen berichten außerdem, dass sie nur dank Mixed by Erry von Musik erfuhren oder die eigene Band durch Raubkopien bekannt wurde. Marco Messina von der neapolitanischen Hip-Hop-Band 99 Posse betont etwa, dass „diejenigen, die die Kassette gekauft haben, sich das Original kaum hätten leisten können.“

Labels versus Frattasios

Doch mit dem Aufkommen der CD endet allmählich die Glückssträhne der Frattasios. Die Musikindustrie drängt auf härtere Strafen für Piraterie, 1966 findet sie schließlich Gehör. Ein Jahr später wurden die vier Brüder sowie der Vater verhaftet: vier Jahren Knast – die meiste Zeit waren die Männer dann im Hausarrest.

Regiseur Sydney Sibilia hat als Junge den Aufstieg der Frattasios selbst miterlebt. Im Film zeigt er die Liebe zur Musik, zur Familie und zum Geschäft. Auch wenn Enrico Frattasio bei der Premiere in Neapel sagte: „Der Erfolg ist passiert, wir haben nicht danach gesucht. Wir wollten nicht reich werden. Wir waren auch nicht schlau, sondern nur rücksichtslos und aus der Not heraus.“

Nach dem Knast machte sich Enrico Frattasio übrigens mit einem Vertrieb für Geschenkboxen selbständig und legt gelegentlich noch auf. Der letzte Auftritt war bei der Premiere von Mixed by Erry. Mit viel Amore und (hoffentlich) keinen Raubkopien.

Netflixwoche Redaktion

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