Liebe, Lügen, 90s Vibes: Warum Analog Squad die schönste neue Familienserie auf Netflix ist

In unserer Serie „Geheimtipp“ stellen wir in loser Folge Empfehlungen aus der Redaktion vor – Filme und Serien, die nie in den Top 10 auftauchen, es aber definitiv verdient hätten. Diesmal: Analog Squad.

Berge, umrandet von Wolken, dunkelgrüne Wälder, die sich entlang der Landstraße ziehen und ein Sound im Familienauto … der eiert. Was nicht an der Musik liegt, sondern an dem Discman, der auf dem Armaturenbrett liegt. Bei jedem Stein, der überfahren wird, bei jeder noch so kleinen Kurve ist statt einem „Aaaahaaaaa“, ein „Ah, Ah, Ah“ zu hören. 1999 in Phang Nga, Thailand. MP3-Player waren noch nicht so weit verbreitet.

Pond (Hunger-Schauspieler Nopachai Jayanama) und seine Mitfahrenden scheint die stockende Musik und das rüttelnde Auto aber nicht zu stören. Sie müssen sich auf das Treffen mit seinem Vater Kew (Surasee Ithikul) und seiner Mutter Sodsai (Viyada Komarakul-nanakorn) vorbereiten. Rund 20 Jahre hat Pond sie nicht gesehen. Zuletzt, als seine Kinder Mon und Mag klein waren. Doch jetzt, da sein Vater im Sterben liegt, will er ihn noch einmal stolz machen – mit der perfekten Familie, in der perfekten Kleidung und mit dem perfekten Job. Das einzige Problem: Pond hat das alles nicht.

Pond (Nopachai Jayanama) war einst ein erfolgreicher Kapitän und Familienvater. Davon ist zu Beginn von Analog Squad nichts mehr übrig.

So beginnt die thailändische Netflix-Serie Analog Squad. Sie erzählt von einem rund 50-jährigen Mann, der innerlich zerrissen ist. Zwischen dem, was seine Familie von ihm erwartet und dem, was er sich von sich selbst und seiner Verwandtschaft wünscht. Zwischen dem, was man in der Gesellschaft einem Ehemann, Familienvater und Sohn rät, und den Gefühlen, die Pond in der Brust trägt: Schuld, Scham, Angst, Trauer. „Die schwierigsten Beziehungen sind die, die wir zu unserer Familie haben“, sagt Ponds Ex-Freundin Lilly (Namfon Kullanat Preeyawat) und gibt damit das Motto vor, das sich durch die acht Folgen der Serie zieht.

„Lilly was here“

Um seine Eltern glücklich zu machen, hat Pond eine Familie gecastet. Er bittet zunächst Lilly, jene Frau zu spielen, für die er sie einst verlassen hat. „Mam?“, wiederholt Lilly ungläubig. Doch sie stimmt bei einer Bezahlung von 100.000 Baht zu. „Für die Brust-OP“, scherzt sie.

Was Pond nicht ahnt: Lilly, die ihre Eltern bereits als Kind verlor, ist mit 49 Single, hat Brustkrebs und glaubt, bald einsam zu sterben: „1950-2000 – Lilly was here“ tätowiert sie später über ihrem Hintern. Lillys einzige Freude ist ein Tamagotchi, das ab und an krank wird, weil sie vergisst, „die Kacke wegzumachen“.

Lilly (Namfon Kullanat Preeyawat) kümmert sich einzig um ihr Tamagotchi. Bis Pond sie plötzlich wieder besucht.

Dank Lilly findet Pond anschließend seine Ersatzkinder, denn zu seinen echten hat er keinen Kontakt mehr. Lilly ruft bei Pagelink an – einem Anbieter, der Textnachrichten an Pager schickt – und macht einen Castingaufruf für junge Frauen und Männer in Bangkok. Doch am Telefon von Pagelink sitzt Keg (Kritsanapoom Pibulsonggram), der von der 100.000 Baht-Gage hört und sie unbedingt will. Kurzum erstellt er nur einen Aufruf für mögliche Töchter und rennt zum Vorsprechen als einziger potentieller Sohn.

Keg hofft, mit dem Geld nach New York auswandern zu können. Er liebt zwar seine alleinerziehende Mutter, doch ist sie ihm peinlich. Als früheres Aktmodel war sie unter anderem im Playboy zu sehen – die Magazinausgabe „liegt immer noch bei allen Männern im ganzen Land“, ächzt Keg. Der einfachste Weg, sich eine neue Identität zu schaffen und die Gefühle seiner Mutter nicht zu verletzen, ist folglich die Flucht. Dass er dafür fremde Großeltern anlügen muss, findet er nicht schlimm. „Wir machen das, damit sie glücklich sind“, sagt er.

Keg (Kritsanapoom Pibulsonggram) und Bung (Wipawee Patnasiri) spielen Geschwister.

Bung (Wipawee Patnasiri) steht dem etwas kritischer gegenüber. Sie ist gar nicht zum Casting gekommen – Lilly besucht sie in einer Videothek, nachdem alle anderen Frauen zu schlecht schauspielten. Bung leitet die Videothek und kann alle großen Filme der Neunziger zitieren: Basic InstinctTitanicNotting HillBald will sie im Laden auf DVDs umstellen, ihr Vater hält das für eine gute Idee. Überhaupt wirkt Bung glücklich – mit ihrer festen Freundin, den Eltern, die sich zwar wenig sehen, aber immer so happy seien. Dennoch lockt sie das Geld und so sitzt Bung mit Keg, Lilly und Pond in dem Auto mit eiernder Musik.

Analog Squad ist eine Hommage an die Neunziger

Regisseur Nithiwat Tharatorn gibt den unterschiedlichen Familienthemen in der Serie mit einem Neunziger Flair etwas Leichtigkeit und Humor. Zugleich stehen Gadgets wie ein Tamagotchi oder ein Gameboy als Metaphern für mögliche Träume. So zückt etwa Ponds fieser Chef immer den Gameboy wie eine Pistole, wenn er wütend auf Pod ist. Und Lilly Tamagotchi ist zum ersten Mal für eine Familie bereit, als Lilly Mama Mam spielt.

Gegenüber Netflix sagte Tharatorn, dass es „viele denkwürdige Momente“ in den Neunziger gab – „sei es der Übergang in ein neues Jahrtausend oder der Charme einer analogen Ära, die dadurch gekennzeichnet war, dass wir auf die Menschen in der Ferne warteten, uns nach ihnen sehnten.“

In Analog Squad haben die Eltern von Pond so lange gewartet, dass sie ihre Fake-Enkelkinder nicht von den echten unterscheiden können. Sie schließen sie sogar so sehr ins Herz, dass Keg und Bung sich schlecht fühlen.

Kew (Surasee Ithikul) und Sodsai (Viyada Komarakul-nanakorn) wollen mehr Zeit mit ihrem Sohn und dessen Familie verbringen.

Das spitzt sich zu, als Ponds Vater Kew doch nicht stirbt und Bung herausfindet, dass ihr echter Vater eine andere Familie hat. Wie konnte er all die Jahre lügen? Und wie kann es nun Bung tun? Macht man damit Menschen wirklich glücklich?

Wenn die Fake-Family eine richtige Familie wird

Die Figuren von Tharatorn sind so vielschichtig geschrieben und so gut gespielt, dass sie in jeder Episode eine völlig neue Seite von sich zeigen und trotzdem glaubwürdig wirken. Bis sie alle mit ihrer eigenen Gefühlswelt, den eigenen Moralvorstellungen und der eigenen Familiengeschichte ringen, während sie als Fake-Family längst eine richtige Familie geworden sind – und um sie herum sich halb Bangkok vor dem neuen Jahrtausend fürchtet, das in wenigen Tagen beginnt (Hamsterkäufe at it’s best!).

Bung hilft Kew – ob sie seine Enkeltochter ist oder nicht.

Letztlich bemerkt aber auch Kew den neuen Familienzusammenhalt und sagt zu Bung, Keg und Lilly den wohl schönsten Satz in der ganzen Serie: „Wie auch immer eure echten Namen lauten, es spielt keine Rolle für mich. Ihr seid meine Familie.“

Regisseur Tharatorn spült die Patchworkfamilie damit direkt in die Gegenwart der Zuschauer*innen. Denn relevanter könnte die Geschichte vom Suchen und Finden einer Familie nicht sein. In einer Zeit, in der längst Menschen kilometerweit entfernt wohnen, in der Technik uns mehr und mehr einnimmt, in der Familien längst nicht mehr mit mehreren Generationen in einem Haus zusammenleben und Prinzipien mehr denn je hinterfragt werden. Am Ende zählt, was man selbst wählt. Und wie Opa Kew ergänzen würde: Dass man sich ab und an verzeiht.

Netflixwoche Redaktion

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