Sind wir dem Jugendwahn verfallen? Altersforscher Dr. Frank Berner über die Jagd nach der Unsterblichkeit

In nicht allzu ferner Zukunft: Das milliardenschwere Biotech-Startup AEON entwickelt eine Methode zur Übertragung von Lebenszeit. Wer sich das leisten kann, wird unsterblich – und wer verschuldet ist, bezahlt mit dem eigenen Leben.

Das ist die Geschichte von Paradise, einem neuen Near-Future-Thriller aus Deutschland. Der Film erscheint am 27. Juli 2023 auf Netflix. In einem Interview hat Altersforscher Dr. Frank Berner vom Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) mit Netflix gesprochen. Ein Interview über das Altern, Einsamkeit und einen gesellschaftlichen Skandal.

Elena (Marlene Tanczik) ist hochverschuldet und muss mit 40 Jahre ihres Lebens dafür zahlen.

Netflix: Wie realistisch ist eine Zeitspende von Mensch zu Mensch wie in Paradise? Der Traum vom ewigen Leben ist ja längst nicht mehr nur Utopie, sondern Gegenstand intensiver Forschung. Viele Multimilliardäre wie Marc Zuckerberg, Jeff Bezos oder Google-Mitbegründer Larry Page investieren in aussichtsreiche Anti-Aging-Start-ups.

Dr. Frank Berner: Die Übertragung von Lebenszeit von einem Menschen zu einem anderen Menschen, wie wir es in Paradise sehen, wird es so niemals geben. Das ist reine Science-Fiction. Aber irgendwann wird es vielleicht Methoden geben, mit denen man das Leben eines Menschen um einige Jahre verlängern kann, die sich aber nur sehr reiche Menschen leisten können. Aber selbst die Superreichen werden nicht unsterblich werden, selbst 150 Jahre alt zu werden ist derzeit noch schwer vorstellbar.

Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky glaubt, dass wir bald Ersatzorgane mit dem 3-D-Drucker herstellen können.

Berner: Es wird bereits daran geforscht, aus Stammzellen Organe zu züchten. Und möglicherweise können irgendwann gentechnisch manipulierte Schweineherzen transplantiert werden. Organspenden von Mensch zu Mensch gibt es ja schon, allerdings nur in medizinischen Notfällen. Wenn die Medizin sich so weit fortentwickelt, dass eine Organtransplantation von Mensch zu Mensch kein riskanter Eingriff mehr wäre, könnte es manchen Menschen in den Sinn kommen, sich auf diese Weise körperlich zu verjüngen, etwa mit einem jüngeren Herzen. Aber natürlich müssen diese Organe auch irgendwo herkommen. Da wären wir dann wieder bei diesem schrecklichen Paradise-Szenario: Wenn dafür genug Geld geboten würde, würde es dann vielleicht auch Menschen geben, die in größter Not ihr junges Herz gegen ein älteres Herz eintauschen – oder denen unter brutalem Zwang keine andere Wahl bleibt?

Corinna Kirchhoff als die gealterte Elena, die sich in Paradise ihre verlorene Lebenszeit zurück kämpfen will..

Innerhalb der letzten 150 Jahre hat sich unsere Lebenserwartung mehr als verdoppelt. Jedes Neugeborene wird durchschnittlich sechs Stunden älter als diejenigen, die einen Tag früher geboren sind. Geht das immer so weiter? Werden wir immer älter?

Berner: Bislang ja! Jede Person, die geboren wird, hat statistisch gesehen eine längere Lebenserwartung als eine früher geborene Person. Man weiß noch nicht, ob es irgendwann eine Grenze für den Anstieg der Lebenserwartung gibt. In verschiedenen Entwicklungsphasen einer Gesellschaft steigt die Lebenserwartung unterschiedlich schnell an. In Schwellenländern kann die Lebenserwartung innerhalb weniger Jahrzehnte rasant ansteigen. Bei uns in Deutschland ist der Anstieg inzwischen relativ langsam. Aber ob er jemals aufhört? Das weiß man nicht so richtig.

Woran liegt es konkret, dass wir immer älter werden?

Berner: In der Vergangenheit spielte es eine Zeit lang eine große Rolle, dass durch den medizinischen Fortschritt die Säuglingssterblichkeit stark verringert werden konnte – dadurch stieg die statistische Lebenserwartung stark an. Inzwischen sind es eher andere Entwicklungen, die die Lebenserwartung verlängern: Körperlich anstrengende und stark gesundheitsgefährdende Berufe, wie zum Beispiel im Bergbau, gibt es heute nur noch wenig und in der Bauwirtschaft werden immer bessere Maschinen zur Hilfe eingesetzt. Immer weniger Menschen müssen ihr ganzes Erwerbsleben in körperlich extrem anstrengenden Berufen arbeiten. Zudem gibt es immer weniger Verkehrstote. Die Leute leben gesünder, ernähren sich besser, rauchen seltener. Vor allem aber wird die medizinische Versorgung stetig besser, Krankheiten werden früher erkannt und besser behandelt.

Wie schätzen Sie die Haltung unserer Gesellschaft zum Altern ein?

Berner: Wir sehen eigentlich immer vor allem zwei Klischees: In der Werbung, etwa für Altersvorsorge, werden oft sehr aktive, gesunde ältere Leute gezeigt, die den Ruhestand auskosten, wandern gehen, auf Weltreise gehen. Wenn es um Pflege geht, wird uns hingegen das gebrechliche Alter vor Augen geführt, da geht es um einsame hochbetagte Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Jede dieser Lebenssituationen gibt es auch in der Realität, aber es gibt eben daneben immer auch viele andere Lebenssituationen. Alter lässt sich nicht über einen Kamm scheren! Die Lebensphase Alter erstreckt sich ja oft über 20 oder 30 Jahre, da stecken mehrere völlig unterschiedliche Lebensphasen drin, die bei verschiedenen Personen auch sehr unterschiedlich aussehen können. Der simple Begriff „Alter“ kann diese großen Unterschiede gar nicht mehr alle zusammenfassen.

Ab wann ist man eigentlich alt?

Berner: Das kann man eben gar nicht mehr genau sagen. Selbst der Ruhestand ist kein verlässlicher Hinweis mehr: Nur weil jemand im Ruhestand ist, ist sie oder er heutzutage nicht unbedingt im herkömmlichen Sinne alt. Es gibt Leute, bei denen man sich wundert, wieso die schon in Rente sind – manche könnten noch mit Mitte 70 so weitermachen wie vor dem Ruhestand. Irgendwann kommen dann aber halt doch die ersten körperlichen Einschränkungen, vielleicht eine Vergesslichkeit, eine Demenz oder eine schwere Krankheit, aber auch das ist bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich.

Elena (Corinna Kirchhoff) erkennt sich im Spiegel kaum wieder, als sie in wenigen Tagen Jahre altert.

„Dass [die Lebenserwartung] so stark vom Einkommen und vom Bildungsstand abhängt, wie gut oder schlecht unsere Chancen stehen, gut alt zu werden, ist ein gesellschaftlicher Skandal!“

Wovon hängt es ab, ob ich im Alter noch gesund und geistig fit bin?

Berner: Das hängt zum Teil von den Genen, vor allem aber von der Einkommensklasse und vom Bildungsgrad ab, von dem Milieu, in dem ich mich bewege, und welchen Lebensstil ich führe. Die Gruppe mit dem höchsten Einkommen hat im Vergleich zu der Gruppe mit dem geringsten Einkommen durchschnittlich eine um mehrere Jahre höhere Lebenserwartung, acht Jahre mehr bei den Männern und vier Jahre mehr bei den Frauen! Dass es so stark vom Einkommen und vom Bildungsstand abhängt, wie gut oder schlecht unsere Chancen stehen, gut alt zu werden, ist ein gesellschaftlicher Skandal!

Woran liegt das?

Berner: Wohlhabende Menschen mit hohem Bildungsstand können sich bessere medizinische Versorgung leisten und – ganz wichtig – sie fordern diese auch ein, holen sich eine zweite Meinung, gehen zu verschiedenen Ärzt*innen, bis sie die beste Versorgung für sich gefunden haben. Andere Menschen gehen vielleicht nur zu einer Ärztin oder einem Arzt und nehmen hin, was sie oder er ihnen sagt. Auch Ernährung und Lebensstil hängen vom Bildungsstand und Einkommen ab. Ob man raucht, trinkt, frisch kocht oder Sport macht.

Sind wir dem Jugendwahn verfallen? 

Berner: In Paradise tauchen mehrmals Kampagnenplakate mit dem Spruch „Stop Ageism!“ auf. Das hat mir gut gefallen, weil es die Diskussion anstößt, ob es okay ist, gegen das Älterwerden anzuarbeiten, wie es im Film getan wird und wie viele in unserer Gesellschaft es derzeit ja auch tun – mit Schönheitsoperationen oder der Retuschierung von Fotos. Für mich steht fest: Wer das Alter nicht annehmen kann, ist auch blind für dessen Vorteile.

„Am meisten fühlen sich Menschen zwischen 20 und 40 einsam!“

Ist Einsamkeit im Alter ein falsches Klischee?

Berner: Absolut, ja. Studien zeigen eindeutig, dass Einsamkeit zwar auch ein Thema des Alters sein kann, dass Einsamkeit aber Menschen in allen Lebensphasen betrifft. Am meisten fühlen sich Menschen zwischen 20 und 40 einsam! Durch die Pandemie hat sich das Gefühl von Einsamkeit bei vielen jüngeren Leuten noch mal verstärkt.

Sind Frauen im Alter stärker von Einsamkeit betroffen, weil sie durchschnittlich eine höhere Lebenserwartung haben?

Berner: In Pflegeheimen treffen Sie überwiegend Frauen an, weil Frauen im Durchschnitt älter werden als Männer. Dadurch sind im sehr hohen Alter auch mehr Frauen einsamer als Männer. Allerdings pflegen Frauen in allen Altersgruppen sehr viel bessere Sozialkontakte, sind besser in soziale Netzwerke eingebunden.

Netflixwoche Redaktion

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