„Das kann jedem von uns passieren“ - Ein Psychologe über How to Become a Cult Leader

Manipulation, Imagekontrolle und das Versprechen vom ewigen Leben: Die Dokumentation How to Become a Cult Leader zeigt mit Blick auf Kulte aus der ganzen Welt, aus welchen Bausteinen sich eine Sekte zusammensetzt.

In einem Gespräch mit Dieter Rohmann, einem Experten auf dem Gebiet der Aufklärung über totalitäre Bewegungen, Sekten und Kulte, hat Netflixwoche erfahren, inwieweit die Dokumentation die Wahrheit darstellt, welche Eigenschaften jeder Guru mitbringt und ob bestimmte Menschen anfälliger für Kulte sind als andere.

Netflixwoche: Was denken Sie über die Doku How to Become a Cult Leader

Dieter Rohmann: Hier könnte das Bild eines Sektenoberhaupts entstehen, der morgens aufgestanden ist, sich Frühstück gemacht hat und ihm dann der Einfall kam: Heute gründe ich eine Sekte! Das ist natürlich nicht richtig. Alle Kultführer haben meiner Erfahrung nach ein paar Dinge gemeinsam, aber niemand gründet absichtlich eine Sekte.

Welche Eigenschaften teilen sich alle Sektenführer?

Zum einen haben sie alle das Gefühl des Auserwählt-Seins. Die Kultführer vergangener, großer Sekten hatten alle eine Art Schlüsselerfahrung, ein Aha-Erlebnis, das sehr prägend für ihr weiteres Leben war und das sie mit logisch-rationalen Erklärungsversuchen nicht deuten konnten. Wenn eine solche Erfahrung nicht erklärbar ist, neigen wir nun mal dazu, eine Übernatürliche zu anzunehmen.

Und zum anderen? 

Charisma. Alle Gurus haben eine gewisse Ausstrahlung, die einen Suchenden erstmal neugierig macht. Wenn jemand, der sich aufgrund dieser Schlüsselerfahrung als auserwählt betrachtet – und über ein gewisses Charisma verfügt – es schafft, drei oder vier Menschen um sich zu versammeln, wird die Situation zunehmend bedenklich.

Inwiefern? 

Die Menschen, die den ersten Kreis um den Kultführer bilden, sind eine Legitimation für seine Überzeugungen. Jetzt entsteht in der Gruppe der Gedanke, man müsste dem Guru eine Öffentlichkeit, eine Plattform geben. Der Anführer hat schließlich eine wichtige Botschaft für die Welt. Und der Guru merkt: Er kann sagen, was er will, die anderen glauben ihm. Er beginnt, seine Macht zu begreifen.

Ab welchem Moment hat man es mit einem ausgewachsenen Kult zu tun?

Es gibt zunächst kleine Kulte mit „Mini-Gurus". Die haben vielleicht nur zwanzig, dreißig Anhänger*innen. Die sind heute sogar die Norm. Früher gab es die großen Kulte: Scientology, die Hare-Krishna-Bewegung, die Kinder Gottes, die Unification Church, Bhagwan Rajneesh, Aum Shinrikyo – also etliche derer, die auch in der Doku erwähnt werden. Die gibt es heute in der Form nicht mehr. Das hat auch einen simplen Grund: Die Gurus sind in der Zwischenzeit alle gestorben. Damit ist die Gemeinschaft zwar noch da, aber die Lichtgestalt ist weg.

Ab wann wird es wirklich bedenklich? 

Eine bedenkliche Gemeinschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen Meister oder eine Meisterin hat und dass keine Kritik erlaubt ist. Des weiteren wird in all diesen Gemeinschaften schon früh ein Feindbild kreiert. Keine dieser Gruppierungen kommt ohne Feindbilder aus. Parallel dazu findet ein wahnsinnig hohes Maß an Kontrolle statt. All diese Gemeinschaften definieren sehr genau, welche Literatur ihre Mitglieder lesen dürfen, welche Filme sie sehen sollen, wie sich kleiden sollen, welche Musik sie hören, was sie essen dürfen und mit welchen Menschen sie verkehren dürfen. Die Kontakte zur Herkunftsfamilie und zu früheren Freunden werden in der Regel systematisch abgebrochen. So verliert man am Ende sein externes Korrektiv. Man ist gefangen in einer Informationsblase, einem geschlossenen System, wo man nur Teil der Gemeinschaft bleiben kann, wenn man all diese Spielregeln einhält und gehorsam ist. Es gibt nur noch Wir, die Guten, und Die, die Bösen. Nur noch Drin oder Draußen, gerettet oder verloren.

Auf welche Warnsignale sollte man achten? 

Die Alarmglocken sollten klingen, wenn Reformierungsbestrebungen in einer Gemeinschaft auf dem Tisch liegen und nichts davon umgesetzt wird. Und der, der reformieren möchte, in Ungnade fällt. Ansonsten sollte Schwarz-Weiß-Denken hellhörig machen – Richtig-Falsch, Ja-Nein, keine Grautöne und schon gar keine Farben.

Gibt es Menschen, die besonders gefährdet sind, einer Sekte beizutreten? 

Eine Prädisposition gibt es nicht. Das kann jedem von uns passieren. Wir alle haben die Tendenz, nach Bedeutung und Spiritualität zu suchen. Wir alle möchten manchmal den Zauberstab schwingen und an etwas Magisches glauben dürfen. Das ist völlig normal. Aber es gibt äußere Faktoren, die dazu beitragen können, dass man vulnerabler wird. In schwierigen Lebensphasen – verbunden mit komplexen Fragen - sind wir ansprechbar für die Lösungen, für einfache Antworten die Sekten anbieten.

Dipl.-Psych. Dieter Rohmann ist ein Experte auf dem Gebiet der Aufklärung über totalitäre Bewegungen, Sekten und Kulte.

Sekten locken also unglückliche Menschen an?

Es gibt eine interessante Formulierung des Sozialpsychologen Philip Zimbardo: „Niemand tritt einer Sekte bei, Menschen schließen sich Gemeinschaften an, die versprechen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen.” Was sie in einer Sekte bekommen, ist eine geistige Heimat, eine Ersatzfamilie, endlich eine Antwort auf jede ihrer Fragen. Das fühlt sich erstmal gut und richtig an. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist jedoch ein hohes Maß an Kontrolle über sich ergehen zu lassen. Die Reduzierung einer multikausalen Wirklichkeit auf eine monokausale. Das merken Betroffene aber nicht sofort.

Gibt es gute Kulte?

Man macht auch positive Erfahrungen im Kult – baut echte Freundschaften, echte Bindungen auf. Sonst würde auch jeder auf dem Absatz kehrt machen. Dafür muss man aber bestehende Beziehungen opfern, Brücken in die Außenwelt werden systematisch eingerissen, Ehen zerstört. Und bei Verlassen eines Kults sind natürlich auch die dort entstandenen Freundschaften und Bindungen weg.

Warum steigen dann viele Menschen irgendwann aus? 

Weil ihnen der Gedanke kommt: Wie kann ich glauben, was du sagst, wenn ich sehe, was du tust? Viele potenzielle Kult-Aussteiger*innen beobachten eine große Diskrepanz zwischen dem, was der Kult predigt und dem, wie der Kult lebt. Diese Schere im Kopf wird irgendwann immer größer.

Was passiert dann?

Dann wird es wirklich schwierig. Denn keine dieser Gemeinschaften kommt ohne ein Feindbild aus. Die Illuminaten, die bösen Politiker, der Materialismus, das Internet: Es wird immer eine Vision aufgemacht, bestehend aus „Wir”, also den Auserwählten gegen „Die”, dem nicht richtig denkenden Rest der Welt. Das bedeutet, dass die Menschen, die am Kult zweifeln, sich bewusst in das vermeintliche Feindesland begeben müssen. Das ist ein wahnsinnig schmerzhafter Prozess. Besonders dann, wenn es sich bei den Betroffenen um sogenannte Sektenkinder handelt. Also Menschen, die in der Sekte aufgewachsen sind.

Was sind die Schwierigkeiten, die Sektenaussteiger*innen haben?   

Ich erinnere mich noch gut, an diese Fragen von Aussteigern: „Herr Rohmann, könnten Sie mir sagen, wie man Freundschaften schließt?”. Oder: „Könnten wir mal einen Workshop machen, in dem ich das Streiten lerne?”. Das sind Dinge, mit denen besonders Sektenkinder nie konfrontiert waren. Konflikte wurden weggebetet, weggependelt, wegmeditiert. Als Aussteiger muss man lernen und sich erlauben, ein Individuum sein zu dürfen. Und dass viele Perspektiven auf die gleiche Problematik koexistieren können.

Zur Person

Dipl.-Psych. Dieter Rohmann ist ein Experte auf dem Gebiet der Aufklärung über totalitäre Bewegungen, Sekten und Kulte. Als Psychologe unterstützt er (seit 40 Jahren) Aussteiger*innen und Betroffene, die ihre einst selbst gewählte Sekten-, Kultmitgliedschaften verstehen und verarbeiten möchten, die in solche Wertegemeinschaften hineingeboren wurden und versuchen nun eigene Wege zu gehen.

Weitere Infos unter: https://kulte.de

Netflixwoche Redaktion

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