Gebrandmarkt: Die „Geschichte einer nationalen Schande“

Die Macher*innen des Dokumentarfilms Gebrandmarkt erzählen von den Dreharbeiten, Rassismus in Amerika und warum Schwarze Frauen eine besondere Rolle im Kampf gegen Diskriminierung spielen.

2020 war ein entscheidendes Jahr für Bewegungen, die für mehr soziale Gerechtigkeit kämpfen. Am 25. Mai 2020 wurde der Schwarze US-Amerikaner George Floyd von einem Polizisten getötet. Der Polizist kniete 9 Minuten und 29 Sekunden lang auf Floyds Nacken und Rücken und schnürte ihm so die Luft ab. Floyds letzte Worte – „I can’t breathe“ – wurden zum Protestruf einer globalen Bewegung, die als Black Lives Matter um die Welt ging.

Zu dieser Zeit wurde Dr. Ibram X. Kendis Gebrandmarkt – Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika zur Pflichtlektüre für alle, die die Geschichte und Entwicklung rassistischer Systeme und Denkmuster untersuchen wollten. Das Buch aus dem Jahr 2016 schaffte es auf die Bestseller-Liste der New York Times und wurde mit dem National Book Award for Nonfiction ausgezeichnet.

Das Buch ist eine ebenso wütende wie fundierte Abrechnung mit der Illusion, die USA hätten den Rassismus überwunden. Eine „Geschichte einer nationalen Schande“, wie es in der Beschreibung des Verlags heißt. „Die Vorstellung, dass Schwarze minderwertig sind und selber schuld an ihrer schlechten Lage, hat sich so tief in die kulturelle DNA der Vereinigten Staaten eingeschrieben, dass der Rassismus bis heute allgegenwärtig ist – das ist die bittere Bilanz dieses brillanten Buches.“

Dr. Ibram X. Kendi schrieb Gebrandmarkt – Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika.

Gebrandmarkt beeindruckte auch Showrunnerin Mara Brock Akil (u. a. Being Mary Jane) und Regisseur Roger Ross Williams. Letzterer bekam als erster afroamerikanischer Regisseur für seinen Dokumentarkurzfilm Music by Prudence 2010 einen Oscar.

500 Seiten voller Argumente, kluger Analysen, historischer Aufarbeitung und voller Wut –  wie kann man ein so umfassendes Buch am besten adaptieren, fragte sich Williams.  Er entschied sich dafür, die Breite des Ausgangsmaterials beizubehalten. Gemeinsam mit Autor Kendi und Brock Akil nutzte er Archivbilder, beschaffte virale Clips und interviewte Aktivist*innen wie Dr. Angela Davis und Brittany Packnett Cunningham. Das Ergebnis ist ein zutiefst ernüchternder, teilweise witziger und aufschlussreicher Dokumentarfilm, der die Lücken füllt, die Geschichtsbücher oft hinterlassen: Gebrandmarkt: Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika, zu sehen ab jetzt auf Netflix.

Anlässlich des Filmstarts erzählen hier Brock Akil, Williams und Kendi über ihre Arbeit an Gebrandmarkt.

Dr. Kendi, haben Sie sich einen Dokumentarfilm immer als Erweiterung Ihrer Arbeit vorgestellt?

Dr. Ibram X. Kendi: Als ich Gebrandmarkt recherchierte und schrieb, konzentrierte ich mich hauptsächlich darauf, das Buch fertigzustellen. Mein Ziel war es nicht, einen Bestseller zu landen oder mit so großartigen Filmemachern einen Film daraus zu machen. Dann kam das Buch heraus und wir erkannten, wie transformierend das Lernen dieser Geschichte anti-Schwarzer rassistischer Ideen für die Rezipienten ist. Und wir wussten, dass viele Menschen kein 500-seitiges Buch in die Hand nehmen und lesen werden. Also haben wir angefangen, über andere Möglichkeiten nachzudenken, wie wir diese Geschichte den anderen Leuten zugänglich machen könnten.

Herr Williams, welche Anforderungen stellte die Buchverfilmung an Sie?

Roger Ross Williams: Ich musste jedes einzelne Werkzeug im Werkzeugkasten nutzen: Animation, Live-Action, Archiv, VFX – dieser Film mischt all diese Mittel. Das Buch ist so dicht und aufschlussreich, dass die künstlerische Behandlung gleichermaßen aufschlussreich und innovativ sein muss.

Was war Ihnen besonders wichtig?

Eine wichtige Entscheidung, die wir schon früh trafen, war, dass die Stipendiatinnen, die Akademikerinnen allesamt Schwarze Frauen sein sollten. Mir wurde eine Liste von Menschen vorgelegt, mit denen ich sprechen sollte. Dabei fiel mir das Muster auf, dass es diese Schwarzen Frauen sind, die diese Arbeit machen. Als ich also anfing, die Interviews zu führen, fragte ich: „Warum machen Sie diese Arbeit?“ Sie sagten: „Wir haben keine andere Wahl. Das ist unsere Erfahrung in Amerika.“

Sie erleben all das, wovon sie sprechen, in ihrem eigenen Alltag.

Ich dachte, es wird für die Zuschauer*innen eine interessante Erfahrung sein, dass diese Mitwirkenden an einen Ort gehen, an dem sie ihre persönlichen Geschichten erzählen – wie sie Rassismus in Amerika erleben und warum sie motiviert sind, ihre Arbeit zu machen. Das macht diesen Film wirklich anders und besonders.

Mara Brock Akil: Und es spiegelt auch das Muster im Buch wider, dass Schwarze Frauen bei den Recherchen als diejenigen auftauchen, die aktiv gegen Rassismus kämpfen und antirassistisch sind. Es gibt so viele Beispiele in dem Buch – das ist manchmal das Schwierige daran, einen Film wie diesen zu drehen. Wenn Sie glauben, dass der Film Sie umhauen wird, gibt es in dem Buch noch mehr.

Dr. Kendi, Ihr Buch ist auch als Jugendbuch und Graphic Novel erschienen. Was suchen Sie bei den Mitarbeiter*innen für die verschiedenen Versionen?

Kendi: Das Wichtigste für mich sind Menschen, deren Arbeit ich zutiefst respektiere. Dann kann ich darauf vertrauen, dass ich mich zurückziehen kann und sie als Schöpfer*innen das tun dürfen, was sie am besten können. Vor allem, wenn sie in einem Medium arbeiten, das außerhalb meines Fachwissens oder meiner Komfortzone liegt. Ich habe die filmische Arbeit von Roger und Mara respektiert, deshalb konnte ich mich wirklich zurücknehmen und sie das tun lassen, was sie am besten können.

Showrunnerin Mara Brock Akil beeindruckte das Buch von Kendi.
Roger Ross Williams suchte für Gebrandmarkt nach Musik.

Die Musikauswahl im Film ist beeindruckend: Moderne Musik trifft auf historische Momente – Kelsey Lus Blood läuft während des Phillis-Wheatley-Segments. Little Simz während des hyper-sexualisierten Jezebel-Abschnitts.

Williams: Uns war wirklich wichtig, dass sich der Film nicht nur historisch anfühlt, sondern dass es darum geht, wie relevant das Thema heute ist – wie sehr sich die Dinge verändern und doch gleich bleiben. Darum geht es doch in dem ganzen Buch, oder?

Wie haben Sie die Musikerinnen und Musiker ausgewählt?

Musikalisch wollten wir diese unglaublich innovativen Künstlerinnen und Künstler hervorheben, die einen Bezug zur Gegenwart herstellen. Ich habe viele Nächte damit verbracht, Musik zu hören und über die musikalische Reise des Films nachzudenken. Es geht also darum, die Menschen wissen zu lassen, dass dies unsere Realität ist, und dass diese sich nicht verändert hat.

Brock Akil: Ich liebe die Musik, weil sie Rhythmus hat und dem Film dadurch eine andere emotionale Resonanz verleiht! Manchmal kann die Emotionalität rund um diese Realität anstrengend sein – die Art und Weise, wie wir ein ganzes Leben und eine ganze Wirtschaft rund um die Rasse geschaffen haben. Aber die Musik ist der Antrieb, gegen die Abneigung zu kämpfen.

Gab es bei der Verfilmung von Gebrandmarkt Kapitel, die auf eine neue Art mitschwingen?

Williams: Mein Lieblingsteil ist der Abschnitt über Phillis Wheatley.

Eine Autorin, die als Kind in die Sklaverei verschleppt und verkauft wurde und später durch ihre Gedichte berühmt wurde.

Ja. Es ist die Kombination aus den Handlungen von Phillis Wheatley und den Bildern, die zeigen, was es wirklich bedeutet, wenn all diese weißen Männer gegen einen vorgehen. Es geht darum, dies mit der heutigen Zeit zu verbinden, indem jede der Schwarzen Teilnehmerinnen über die Zeiten spricht, in denen ihre Arbeit und ihr Wert in Frage gestellt wurden. Am Ende tragen einige der mächtigsten Schwarzen Dichterinnen der Geschichte einige ihrer stärksten Gedichte vor.

Von Deidre Dyer, Queue / Netflixwoche

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