Geschichten von Familien und Clubnächten: Wie Netflix PoC Writer fördert

Mit der Netflix Writing Academy ist ein Trainingsprogramm für PoC Autor*innen in Deutschland entstanden. Netflixwoche hat die Teilnehmer*innnen und Organisator*innen getroffen und von ihnen erfahren, was sie aus der Academy über das Schreiben, Druck und Teamwork gelernt haben.

Als Erdi Gülac in Istanbul bei seiner Familie sitzt, muss er sofort an ein kurdisch-türkisches Familiendrama denken: Geheimnisse, Streit, Versöhnung, Liebe – im Alltag seiner Großmutter, seiner Mutter, seiner Freundin und seiner Tochter findet er all die großen Themen, die ein Drama braucht. Doch was wäre, wenn das Drama eine andere Dimension bekäme? Sich Intrigen, Machenschaften oder toxische Maskulinität dazu mischen?

Gülac entwickelt die Idee für eine Serie. Einen Mix aus Die Sopranos und Schnelles Geld – Gewalt, Erpressung, Drogen. Er schreibt die Idee auf und schickt sie sieben Tage später an Netflix. Sein Pitch gefällt und er kommt weiter – in die Netflix Writing Academy.

Die Academy ist eine Kooperation zwischen Netflix, Panthertainment und der Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (kurz: DFFB). Das Ziel: People of Color im DACH-Raum fördern. People of Color – kurz: PoC – ist eine Selbstbezeichnung von Menschen, die nicht weiß sind.

Erdi Gülac hat bei der Netflix Writing Academy teilgenommen. Seine Idee ist inspiriert von der Familie. (Foto: Patricia Kalisch)

An der Academy werden sie für den Writers Room ausgebildet. Jene Orte, an denen die Drehbücher für Filme und Serien entstehen. Zugleich soll die Academy eine Plattform schaffen, damit sich Teilnehmer*innen vernetzen – und auch über die Academy hinaus an ihren Geschichten arbeiten können.

Im Gespräch mit Netflixwoche erzählen die Organisator*innen und Teilnehmer*innen von ihren Erfahrungen und Plänen.

„Wir wollen, dass wir die Welt nicht nur aus einer weißen, hauptsächlich männlichen Perspektive erzählen“

„Die Idee tauchte bereits vor über zwei Jahren auf“, erzählt Panthertainment-Gründer Tyron Ricketts. Er habe immer wieder mit deutschen Kolleg*innen von Netflix über Geschichten von People of Color gesprochen. Dabei wurde schnell klar, dass Zugänge geschaffen und Perspektiven gezeigt werden müssten.

Gemeinsam mit Benjamin Harris, der als Grow Creative Manager das Projekt bei Netflix betreut, und der DFFB hat Ricketts dann ein Konzept ausgearbeitet: Warum PoC Autor*innen? Was müssen diese PoC Autor*innen können? Und wie kann die Academy sie wirklich nachhaltig fördern?

Panthertainment-Gründer Tyron Ricketts berichtet bei der Netflix Writing Academy von seinen Erfahrungen. (Foto: Patricia Kalisch)

„Unser übergeordnetes Ziel ist: Wir wollen die Welt nicht nur aus einer weißen, hauptsächlich männlichen Perspektive erzählen. Sondern aus der Perspektive von Menschen, die andere Erfahrungen haben“, sagt Ricketts. „Denn nur wenn wir alle Perspektiven abbilden, haben wir eine Chance, dass die Menschen in unserer Gesellschaft ein bisschen mehr Verständnis dafür haben, wie es sich anfühlt, in anderen Schuhen zu laufen. Filme und Serien sind hier ein tolles Vehikel!“

Harris ergänzt, dass Netflix viele verschiedene Menschen ansprechen möchte. Und das ginge nun mal am besten, indem man die Lebensrealität widerspiegle.

Ideen sind nur der erste Schritt

Andere Geschichte, andere Autor*innen, Sichtbarkeit und Verständnis in der Gesellschaft: Der Kern der Academy steht für Harris und Ricketts schnell fest. Im September 2022 rufen sie und die Organisator*innen von der DFFB dann zum Bewerben auf. Sechs Plätze haben sie zu vergeben, für PoC Autor*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Eine Inspiration für erste Drehbuchideen? Die Netflix-Serie Schnelles Geld mit Evin Ahmad als Mutter Leya.

Rund 270 E-Mails gehen bis Oktober 2022 ein. Neben Erdi Gülac bewerben sich auch Beliban zu Stolberg, Thandi Sebe, David Sridharan, Kadir Güngör und Naomi Bechert mit Erfolg.

Die studierte Psychologin Bechert arbeitete schon als Drehbuchautorin für die öffentlich-rechtliche Produktion DRUCK. Eine Serie über die Höhen und Tiefen einer Gruppe Jugendlicher. Eine Show, die auch ihren Pitch beeinflusste: Bechert dachte an Berlin, an Menschen in ihren Zwanzigern, feierwütig, auf der Suche – aber wonach? Ihr Moodboard zeigt Bilder aus der Serie Euphoria, ein Young Adult Drama mit Drogen und Exzessen.

In 13 Wochen von der Idee zum Skript: Wie kann man unter Druck kreativ bleiben?

Ideen sind allerdings nur der erste Schritt Richtung Netflix Writers Room. Die Teilnehmer*innen mussten einen Lebenslauf, Schreibproben und ein Motivationsschreiben beilegen. An Auswahltagen sollten dann Bechert und die anderen ihre Kritikfähigkeit und Teamfähigkeit unter Beweis stellen.

Naomi Bechert hat bereits Drehbuch-Erfahrung. In der Netflix Writing Academy entwickelt sie ihre Ideen weiter. (Foto: Patricia Kalisch)

„Es müssen Menschen sein, die innerhalb von 13 Wochen etwas produzieren und dem Druck standhalten können“, erzählt Harris. Gleichzeitig war den Organisator*innen auch eine positive Haltung und ein Sinn für kollaboratives Arbeiten wichtig. Bei Letzterem betont Ricketts vor allem die Flexibilität: „In erster Linie geht es nicht darum, sechs neue Geschichten zu finden, die man produzieren könnte. Es geht darum, Menschen kennenzulernen, mit denen man in Zukunft auch an anderen Projekten arbeiten kann.“

Für Erdi Gülac war der Flexibilitätstest besonders schwierig. Sein Pitch wurde kurz nach den Auswahltagen von einer anderen Produktionsfirma gekauft. Innerhalb einer Woche musste er darum eine neue Idee liefern. Die Zeit in Istanbul brachte ihm einen frischen Impuls.

Doch kann Gülac immer so schnell kreativ sein? In der Netflix Writing Academy haben er, Naomi Bechert und die anderen Teilnehmer*innen gelernt: Ja. Es geht.

Benjamin Harris ist Grow Creative Manager bei Netflix und betreut dort die Netflix Writing Academy. (Foto: Patricia Kalisch)

„Es waren immer drei Schritte, die wir befolgen sollten“, erklärt Gülac. „Erstens: Wer will was? Zweitens: Wer ist dagegen? Drittens: Was ist der Twist? In jeder Szene geht man diese drei Schritte durch, um voranzukommen. Dafür muss man sich die richtigen Fragen stellen, braucht Klarheit und darf nicht zu perfektionistisch sein.“

Bechert sagt, dass das Bild des einsamen Künstlers, der in seiner Hütte auf Inspiration warte, damit für sie gestorben ist. „Man muss Routine finden und das Schreiben als Handwerk verstehen.“

Den Fokus verändern

Ricketts hat selbst solche Erfahrungen gemacht. Mit seiner Firma Panthertainment schreibt und produziert der Schauspieler Serien und Filme. Bei Panthertainment geht es klar um eine Schwarze Perspektive – ein Thema, das deutsche Produktionsfirmen erst jetzt für sich entdecken. Immer mehr deutsche Serien und Filme erzählen diverse Geschichten, werden mit einem diversen Cast besetzt.

Lernen während des Workshops: Bei der Netflix Writing Academy hören die PoC Autor*innen gut zu. (Foto: Patricia Kalisch)

„Daran haben die Streamer einen sehr, sehr großen Anteil“, sagt Ricketts. Diverses Erzählen sei für viele Produktionen zu einem wirtschaftlichen Faktor geworden.

Für Ricketts und Harris ist aber auch klar, dass es nicht mit Drehbüchern von People of Color getan ist. Von Regie über Licht bis hin zu Maske und Ton müssten Schwarze Menschen in der Crew eingesetzt werden. Denn sie wissen, wie man ihre Geschichte angemessen in Bilder und Ton übersetzt.

Bei Netflix arbeite man laut Harris bereits mit diversen Crews. Doch „wichtig ist, dass wir an Strukturen rangehen und Menschen jeglicher Herkunft ermöglichen, in die Film- und Fernsehbranche reinzukommen und Fuß zu fassen“, sagt er. Praxiserfahrung sei wichtig. Deswegen initiiert Harris auch noch andere Projekte. Ein Workshop von Netflix für türkische Autor*innnen fand etwa Anfang Mai 2023 statt.

Brainstormen im Writers Room: Was kommt nach der Academy?

Und was ist mit Gülac, Bechert und den vier weiteren Teilnehmer*innen der Netflix Writing Academy?

Ein Team: Tyron Ricketts, Mitglieder der DFFB und die Teilnehmer*innen der Netflix Writing Academy. (Foto: Patricia Kalisch)

Anfang dieses Jahres durften sie 13 Wochen lang kostenlose Workshops und Seminare besuchen – die meisten hybrid oder in Berlin. Sie haben an ihren Drehbüchern gefeilt und gelernt, neue Ideen zu entwickeln. Sie trafen die Content Executives von Netflix und erfuhren, wie das Arbeiten mit anderen Autor*innen in einem Writers Room ist.

„Jetzt liegen unsere Serienkonzepte und Pilotdrehbücher bei Netflix und die Content Executives haben ein Jahr Zeit, zu entscheiden, ob sie unsere Stoffe weiterentwickeln wollen“, erzählt Bechert. Falls Netflix absagt, dürfen die Autor*innen ihre in der Academy entwickelten Serien woanders verkaufen. Und dann gibt es auch immer noch die Chance, dass sie für andere Produktionen von Netflix gebucht werden.

Bechert hat zum Beispiel erst vor Kurzem an einem Writers Room für eine neue Netflix-Serie teilgenommen. Um was es geht, ist aber streng geheim. Vermutlich wird man es erst auf Netflix sehen. Wenn Becherts Name im Abspann auftaucht.

Netflixwoche Redaktion

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