„Dafür seid ihr bereit zu sterben?“ – Das sind die besten Filme über das Leben im Banlieue

Polizeigewalt, Rassismus, Drogenhandel und Bandenkriminialität gehören seit den Neunzigern zum Alltag französischer Banlieues und ihrer Hochhaussiedlungen. Filmemacher*innen zeigen die Menschen und ihre Geschichten im Brennpunkt. Hier ist eine Auswahl.

Ein Jugendlicher wird am Steuer von einem Polizisten erschossen, der seine Waffe durchs Fenster des Fahrers richtet. Einem jungen Mann fehlt der halbe Schädel, nachdem ihn Polizisten in der Straße halb tot schlagen. Eine Studentin wird in ihrem Zimmer von einer verirrten Kugel getroffen und stirbt.

Die drei Vorfälle sind keine Szenen aus einem Film. Der 17-jährige Nahel Merzouk wurde im Juni dieses Jahres von Polizisten im Pariser Vorort Nanterre getötet – er soll versucht haben, sich einer Verkehrskontrolle zu entziehen. Der 22-jährige Hedi R. wurde Anfang Juli unprovoziert in Marseille von Polizisten zusammengeschlagen. Während einer Not-OP musste ein Teil seiner Schädeldecke entfernt werden. Die 24-jährige Socayna starb im September in ihrem Zuhause, nachdem in ihrer Straße eine Schießerei mit mindestens einer Kalaschnikov ausgebrochen war.

Diese Geschehnisse aus den letzten Monaten sind nur ein Beispiel für den Alltag französischer Banlieues und ihrer Hochhaussiedlungen (sogenannte Cités). Schlagzeilen über Polizeigewalt, systemischen Rassismus, Drogenhandel und Bandenkriminialität gehören seit den Neunzigern zur Normalität und werden zu weißem Rauschen, das die Geschichten der Bewohner*innen der Banlieues übertönt.

Die Jugendlichen der Hochhaussiedlung Athena.

An diesem Punkt setzen seit vielen Jahren Filmemacher*innen an, die dem Publikum die Menschen und Schicksale hinter der Berichterstattung zeigen wollen. Zu den Klassikern gehört ohne Zweifel La Haine von Mathieu Kassovitz aus dem Jahr 1995. Doch auch wenn das Drama bis heute zu den beliebtesten Filmen im Französisch-Unterricht zählen mag, gibt es inzwischen eine ganze Reihe von bedeutsamen Titeln, die die Scheinwerfer auf Frankreichs Banlieues richten. Hier eine Auswahl.

Banlieusards – Du hast die Wahl (Teil 1 und 2)

„Worauf seid ihr stolz? Die Plattenbauten, in denen wir aufgewachsen sind? Dafür seid ihr bereit zu sterben?“ Diese Frage stellt ein Freund von Demba Traoré den verfeindeten Jugendgangs von Le Bois-l’Abbé – einem Viertel im Süden von Paris, das zu über drei Vierteln aus sozialem Wohnungsbau besteht. Über 30 Prozent der Bewohner*innen sind arbeitslos.

Demba (Star-Rapper Kery James) ist der Boss einer lokalen Drogengang und der älteste von drei Brüdern. Souleymaan, das Mittelkind, schlug einen anderen Weg ein: Er ist Anwalt. Teenager Noumouké ist das Nesthäkchen und ständig in Schwierigkeiten. In Banlieusards versucht Demba noch, seine Machtposition zu verteidigen. Im zweiten Teil ist er nach einem Attentat im Begriff, sein Leben umzukrempeln. Soulaymaan (Jammeh Diangana) ist das Vorzeigekind der Familie und kritisiert in seiner Examensprüfung mit einem leidenschaftlichen Plädoyer die Apathie der Menschen im Banlieue. Doch wanken nach dem Anschlag auf seinen Bruder seine Überzeugungen. Noumouké (Bakary Diombera) war im ersten Teil noch kurz davor, in der Schule die Kurve zu kriegen. In Banlieusards 2 scheint seine Zukunft als Gangster besiegelt.

Die Brüder Traoré im Senegal (v. l. n .r.): Noumouké, Soulaymaan und Demba

Doch nach einem Tod in der Familie reisen die Brüder nach Senegal und besuchen die „Door of No Return“. An dieser Gedenkstätte wurden damals Sklav*innen durch eine Tür auf die Handelsschiffe gestoßen, die die Menschen für immer aus ihrer Heimat entführen sollten. Die Gebrüder Traoré müssen ihre Entscheidungen hinterfragen und neue treffen. Beide Filme befassen sich im Kern mit der Frage: Inwieweit lässt sich das Umfeld für die eigenen Entscheidungen verantwortlich machen? Zwischen toughen Dialogen und gewaltvollen Szenen bleibt Raum für kluge Beobachtungen in Bezug auf Themen wie die Straflosigkeit der Polizei („Wir haben in Frankreich auch unsere George Floyds!“) oder die Verantwortung des Staats für die strukturelle Armut in den Cités.

Athena

Regisseur Romain Gavras dreht die Action in Athena von Anfang an auf 100 Prozent. Auch das Drama, das im vergangenen Jahr beim Filmfestival in Venedig mit einem goldenen Löwen prämiert wurde, handelt von drei Brüdern. Streng genommen geht es sogar um vier, doch der jüngste kommt vor den Geschehnissen im Film ums Leben. Ein Video von Idirs Tod ist der Auslöser dafür, dass eine Gruppe junger Bewohner*innen der Hochhaussiedlung Athena einen Krieg mit der Polizei anzettelt. Ihr Anführer ist Karim (Sami Slimane), dessen Bruder Abdel (Dali Benssalah) versucht, ihn aufzuhalten. Doch die Jugendlichen von Athena wollen erst aufgeben, wenn sich Idirs Mörder stellen – diese trugen im Video Polizeiuniformen.

Bac Nord – Bollwerk gegen das Verbrechen

Korrupte Cops, die sich an Drogenkriminalität bereichern? Das klingt ein bisschen nach Training Day. Doch die Geschehnisse in Bac Nord basieren lose auf wahren Begebenheiten. In dem Film versuchen Greg (Gilles Lellouche) und seine Kollegen der Sondereinsatzgruppe Brigade Anti-Criminalité (BAC) einen Drogenring im Norden von Marseille auszuheben. Ihr Vorgesetzter sitzt ihnen im Nacken; sie müssen einen großen Coup landen. Daher beschließen sie, die Informantin Amel (Kenza Fortas) in Rauschgift zu bezahlen. Im Jahr 2012 wurden in Marseille 18 Mitglieder der BAC unter anderem wegen Drogenhandel und Schutzgelderpressung verurteilt. Davon hat sich Regissuer Cédric Jimenez, der selbst aus Marseille stammt, inspirieren lassen.

Divines

Wer an die Bewohner*innen von Frankreichs Banlieues denkt, hat vermutlich Menschen mit nord- und westafrikanischen Wurzeln vor Augen. Schließlich stammen viele von ihnen aus den alten Kolonien Frankreichs. Doch ähnlich wie in anderen Ländern sind auch Sinti und Roma von der sozialen Isolation betroffen. Zu ihnen gehört Dounia (Oulaya Amamra), die in Divines mit ihrer Mutter und Tante am Rand von Paris lebt. Sie und ihre beste Freundin Maimouna (Déborah Lukumuena) träumen davon, die Armut hinter sich zu lassen und in Saus und Braus zu leben. Beide beginnen für die Dealerin Rebecca (Jisca Kalvanda) zu arbeiten und verdienen so eine Menge Geld. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis Dounias große Träume in Flammen aufgehen. Der Film wurde 2016 bei den Filmfestspielen in Cannes mit der goldenen Kamera ausgezeichnet.

Der Wahlkämpfer

Auch wenn das Leben im Banlieue hart ist, tut es gut, wenn manche Geschichten von dort mit Humor erzählt werden. In der Serie Der Wahlkämpfer geht es um den Sozialarbeiter Stéphane Blé (Jean-Pascal Zadi), der sich vornimmt, Frankreichs erster Schwarzer Präsident zu werden. Eigentlich wollte Stéphane beim Wahlkampfauftritt von Bobignys amtierenden Bürgermeister nur mal etwas Dampf ablassen. Er konfrontiert den linken Politiker wegen seiner Budgetkürzungen für die örtliche Jugendeinrichtung und macht sich für die Kids aus dem Block stark: „Wozu die Ärmel hochkrempeln, wenn man eh’ die Hosen runterlassen muss?“ Der Schlagabtausch macht ihn zur Berühmtheit in den sozialen Netzwerken – und dann zum Präsidentschaftskandidaten.

Netflixwoche Redaktion

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