„Zuerst wird dir leicht schummrig und schwarz vor Augen“ - Freitaucher über Der tiefste Atemzug

Mehr als 100 Meter tief im Meer, da, wo eigentlich kein Mensch sein sollte, will sie hin: Freitaucherin Alessia Zecchini. Die neue Dokumentation Der tiefste Atemzug begleitet die Italienerin und ihren Sicherungstaucher Stephan Keenan bei ihrer Jagd nach neuen Rekorden. Doch wie fühlt es sich an, ohne Sauerstoffflasche in große Tiefen zu tauchen, minutenlang unter Wasser zu bleiben, ohne Luft zu holen?

Das weiß Tom Sietas. Der erfolgreichste deutsche Apnoetaucher erklärt im Interview, was er unter Wasser fühlt, wie sich Risiken in dem Extremsport beherrschen lassen – und wie das ist, wenn man in 65 Metern Tiefe die Orientierung verliert.

Netflixwoche: Herr Sietas, haben Sie jemals unter Wasser Panik bekommen?

Tom Sietas: Es gab schon ein paar Situationen, in denen mir mulmig geworden ist. Aber es ist genau dieses Gefühl, das man als Freitaucher lernt zu beherrschen. So habe ich es bisher immer geschafft, auch in kritischen Situationen meinen Fokus schnell wieder auf die Lösung zu legen.

Was war ein solcher Moment?

Ich habe einmal bei einem Rekordversuch in etwa 65 Metern Tiefe in einem pechschwarzen See das Seil verloren – und damit jede Orientierung. Ich war in dem Moment schon an meiner Leistungsgrenze und wusste, dass ich nicht ewig Zeit habe, um herauszufinden, wo oben und wo unten ist. Ich habe das Seil dann aber zum Glück wieder gefunden und den Tauchgang erfolgreich beendet.

Der Mensch ist eigentlich nicht dafür gemacht, lange unter Wasser zu bleiben. Was fühlen Sie, wenn Sie abtauchen?

Ein extremes Glücksgefühl, das ich abseits des Tauchens nicht kenne. Ich hatte schon als Kind unter Wasser nie unangenehme Gefühle, sondern fühlte mich als Teil einer anderen, faszinierenden Welt. Diese Affinität zum Wasser hatte ich von klein auf: Ich konnte schnorcheln, noch bevor ich richtig schwimmen konnte. Noch heute lasse ich mich auch außerhalb des Trainings sehr gerne auf den Grund des Meeres oder auch nur eines Pools gleiten, sitze dann da und bin einfach eins mit der Umgebung. Davon werde ich nie genug bekommen.

„Wenn man an die eigenen Grenzen geht, kann eine Menge schiefgehen“, heißt es in der Doku Der tiefste Atemzug. Wie klappt Leistungssteigerung in einem Extremsport wie dem Freitauchen, wo Selbstüberschätzung ein Todesurteil sein kann?

Ein Grundsatz lautet: Niemals alleine trainieren! Wer gerade erst mit dem Tauchtraining anfängt, kann sich leicht überschätzen. Selbst in einem belebten Pool kann man ertrinken, ohne dass die Menschen im Umkreis das rechtzeitig bemerken. In unserem Sport ist viel Erfahrung nötig, man muss sich selbst und den eigenen Körper wahnsinnig gut kennen. Aber selbst für langjährige Athleten gilt: Leistungssteigerung klappt in ganz kleinen Schritten. Man kann nur sehr, sehr langsam lernen, die eigenen Instinkte zu kontrollieren. Und zu atmen ist definitiv ein sehr zentraler Instinkt im Leben.

In der Netflix-Doku geht es auch um die Beziehung zwischen Sportlerin Alessia Zecchini und ihrem Sicherungstaucher Stephan Keenan. Was ist das für ein Gefühl, das eigene Leben in die Hände eines anderen Menschen zu legen, falls beim Tauchen etwas schiefläuft?

Zwischen diesen beiden Menschen braucht es blindes Vertrauen. Ich konnte als Sportler immer nur meine beste Leistung bringen, wenn ich wusste: Da ist jemand neben mir, auf den ich mich im Notfall verlassen kann. Der weiß, was er tut, und auch seine eigenen Grenzen kennt. Ich musste nie gerettet werden, habe umgekehrt aber mal einen Freund aus 20 Metern Tiefe heraufgeholt, weil er es selbst nicht mehr geschafft hätte. Als Sicherungstaucher muss man zu jeder Zeit geistig voll da und körperlich in der Lage sein, noch ein paar Sekunden länger auszuhalten, wenn der Partner einen Fehler macht.

Was passiert denn, wenn ein Freitaucher über seine Grenzen geht?

Zuerst wird dir leicht schummrig und schwarz vor Augen. Dann folgen motorische Störungen. Wer dann immer noch nicht reagiert oder das nicht mehr kann, wird bewusstlos. Aber: Erst nach etwa drei Minuten Bewusstlosigkeit erleidet das Gehirn irreparable Schäden. Wer also einen guten Sicherungspartner hat, kann selbst dann noch gerettet werden, wenn er sich vollkommen überschätzt hat. Damit es nicht soweit kommt – das lernt man in dem Sport zügig – muss man die Signale des eigenen Körpers sehr ernst nehmen. Nur weil ein Tauchgang in eine bestimmte Tiefe gestern funktioniert hat, heißt das nicht, dass er morgen wieder funktionieren wird.

Gerade bei der Jagd nach neuen Rekorden dürfte es sehr schwierig sein, rechtzeitig abzubrechen, wenn der Körper negative Signale sendet.

Das stimmt, dann ist ein vernünftiges Austarieren von Selbsterhaltungstrieb und sportlichem Vorankommen gefragt. Kann ich noch diese fünf Sekunden durchhalten? Schaffe ich noch drei Meter mehr? Es braucht jahrelange Erfahrung, um solche Fragen in einer für den Körper so herausfordernden Situation möglichst objektiv zu beantworten. Denn auch wenn ich einen Rekord schaffe, muss ich danach ja noch in der Lage sein, gesund zurück an die Oberfläche kommen.

Die Ruhe vor dem Tauchgang - Szene aus Der tiefste Atemzug

Sie haben dieses Wissen mittlerweile auf das alltägliche Leben übertragen, halten Vorträge und sind als Business-Coach unterwegs. Welche Erkenntnisse aus dem Tauchen kann jeder Mensch auch außerhalb des Wassers nutzen?

Vor allem die Fähigkeit, unter Stress die Ruhe zu bewahren. Sind wir gestresst, wird Adrenalin ausgeschüttet und der Körper verbraucht mehr Sauerstoff – das darf unter Wasser natürlich nicht passieren. Wer also durch das Freitauchen gelernt hat, in jeder Situation ruhig und bei sich zu bleiben, mit Druck umzugehen, kann das auch auf das Berufsleben übertragen. Gerade da ist es eine wertvolle Eigenschaft, nicht sofort auszuflippen, wenn der Chef etwas sagt, was einem nicht passt. Mit Atemübungen, die für einen Taucher essenzieller Teil des Sports sind, kann man sehr viel erreichen. Selbst schwerwiegende Probleme von Migräne über Depressionen bis zu chronischen Schmerzen lassen sich mit Atemübungen lindern.

Haben Sie ein einfaches Beispiel für den Alltag parat?

Grundsätzlich gilt: Zügig reagieren. Je länger man in einer Stresssituation bleibt, desto schwieriger ist es, da wieder rauszukommen. Wenn es also stressig wird, dann einfach mal ausatmen und eine Weile in der Ausatmung verharren. Wir sind es gewohnt, gleich wieder einzuatmen – das muss man aber nicht. Man kann auch eine Weile warten, denn dann wird das parasympathische Nervensystem angesprochen. Wir werden ruhiger und können gelassener mit der Situation umgehen. Wenn Sie sich also das nächste Mal über etwas ärgern, gehen Sie bitte nicht gleich an die Decke, sondern atmen erst einmal aus.

Über den Experten

Tom Sietas, geboren 1977 in Hamburg, ist Deutschlands erfolgreichster Apnoetaucher. Der mehrfache Weltmeister hat in seiner Karriere 22 Weltrekorde aufgestellt. Heute gibt er sein Wissen als Keynotespeaker und Motivationstrainer für Spitzenleistung unter Druck weiter.

Netflixwoche Redaktion

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