„Ich höre, du bist Stylistin“, sagt Shelley (gespielt von Julia Louis-Dreyfus). „Ich bin selbst auch Stylistin, das haben wir gemeinsam.“ Ihr Sohn Ezra (Jonah Hill) zieht die Augenbrauen nach oben und widerspricht. Doch Shelley plappert fröhlich weiter auf seine neue Freundin Amira (Lauren London) ein, erzählt vom Aussortieren, dem Ankleiden ihres Mannes, dem Spenden an Obdachlosenheime. Sie habe einen guten Geschmack, aber das klinge so angeberisch, sagt Shelley. Ezra kratzt sich verlegen an der Stirn. Am liebsten würde er seine Mutter zum Schweigen bringen. In Wahrheit ist sie nämlich keine Stylistin, sondern einfach nur peinlich.
In Szenen wie dieser aus der neuen Netflix-Komödie You People können Zuschauer*innen gut mit Protagonist Ezra mitfühlen. Peinliche Mütter kennt jeder, die erste Familienbegegnung mit dem oder der neuen Partner*in ist oft unangenehm.
Trotzdem landen Filme sowie Serien, die vom Fremdschämen leben – Reality-Shows, Sitcoms, Stand-up-Specials über die intimsten Peinlichkeiten der Comedians – regelmäßig in den Netflix-Top-Ten.
Wieso schauen wir uns so gerne an, was so ein unangenehmes Gefühl auslösen kann? Und wie entsteht dieses Gefühl?
Viel Empathie, viel Fremdscham
Wenn wir uns für jemanden schämen, geht meist ein Zucken oder ein Schaudern durch den Körper. Ab einem gewissen Grad wird Fremdschämen sogar unerträglich. Das bestätigen Studien von Forscher*innen der Philipps-Universität in Marburg. Beim Fremdschämen sind die gleichen Bereiche im Gehirn aktiv wie jene, die bei der Beobachtung körperlicher Schmerzen anspringen.
Martin Bürgy, Psychiater und Leiter des Zentrums für Seelische Gesundheit am Klinikum Stuttgart, sagte der Tageszeitung Stuttgarter Nachrichten: „Fremdschämen ist eine komplexe Angelegenheit.“ Es erfordere nicht nur die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, sondern auch ein hohes Maß an Empathie – nur wer sich in eine andere Person einfühlen könne, könne sich auch für sie schämen. Gleichzeitig brauche es ein Bewusstsein dafür, welche sozialen Normen es gibt und wann sie gelten.
Fremdschämen ist damit bei jedem unterschiedlich ausgeprägt. Der eine kneift die Augen bei Filmen wie You People zu, die nächste bei Serien wie Superstore.
Und andere fühlen es nur im echten Leben. Ein Forschungsteam der Universität Lübeck fand heraus: Je näher uns ein Mensch steht, desto heftiger fällt unsere Reaktion aus. Ein Grund dafür sei der Kontaktschuld-Effekt – für einen Freund, der sich zum Beispiel betrunken übergeben muss, schämen sich Befragte eher als für einen Fremden.
Haha, Schadenfreude
Doch Scham ist nicht das einzige Gefühl, das in diesen unangenehmen Situationen auftauchen kann. Es gibt noch Schadenfreude.
Beide Empfindungen gelten als stellvertretende Emotionen. „Wir reagieren damit auf ein Ereignis, dem wir nur beiwohnen, das uns aber nicht direkt betrifft“, heißt es in der Fachzeitschrift Spektrum der Wissenschaft. Beides seien im Prinzip Reaktionen auf Personen, die mit ihrem Verhalten nicht den gängigen Normen und Werten entsprechen.
Wie grenzen sich diese Gefühle ab? Die Lübecker Forscher*innen um Sören Krach fanden heraus, dass beim Beurteilen von peinlichen Momenten nicht nur eindeutige Normverstöße eine Rolle spielen, sondern die vermuteten Motive dahinter. „Ein und dieselbe Situation kann sehr verschiedene Reaktionen auslösen. Menschen lassen ihre persönlichen Einstellungen, Normen und Lernerfahrungen in die Bewertung einfließen“, schildert Krach.
Schauen wir uns noch einmal die eingangs beschriebene Szene aus der Netflix-Komödie You People an, wird klar: Wer mit Ezra mitfühlen kann, spürt deutlich die Fremdscham für seine Mutter. Wer jedoch wie Shelley schon einmal in so einer Situation war, kann verstehen, wie sehr sie sich um einen guten Eindruck bemüht. Es ist dann mehr das Lachen über die Situation als über Shelly, vielleicht sogar das Lachen über sich selbst.
Es lebe der #cringe
Blicken wir auf heutige Normen, ist Fremdschämen fast schon Mode geworden. 2021 wurde das Wort cringe vom Wörterbuch Verlag Langenscheidt zum Jugendwort des Jahres gekürt. Übersetzt bedeutet es „zusammenzucken“ oder „erschaudern“. Meistens wird der Begriff aber als Ausdruck für Fremdschämen benutzt. Im Internet gibt es sogar eine eigene Meme-Kultur: Unter #Cringe lassen sich Millionen Momente zum Fremdschämen finden. Szenen wie die eingangs beschriebene aus der Netflix-Komödie You People würden hier etwa auftauchen, #cringeworthy.
Viele Menschen reagieren mit Neugier oder sogar Freude auf die Fettnäpfchen anderer, heißt es im Magazin Spektrum der Wissenschaft. Sich daran zu ergötzen, wie daneben sich andere benehmen, gibt uns das Gefühl: Ich bin besser.
Diesen Reiz bespielen viele erfolgreiche Formate im Fernsehen und im Internet. Ähnlich wie bei Horrorfilmen sind Genuss und Erschaudern dicht beieinander. Das wird natürlich von Medien auf die Spitze getrieben. So ist Fremdschämen nicht nur Mode geworden, sondern ein Hobby.
Netflixwoche Redaktion