Lupin: Wer war das wahre Vorbild für den Meisterdieb?

Was verbindet den französischen Schauspieler Omar Sy (Jahrgang 1978) mit dem 99 Jahre vor ihm geborenen Anarchisten Alexandre Marius Jacob?

Nun – wir spoilern mal – beide sind Arsène Lupin!

Während Sy den Meisterdieb in der Netflix-Serie Lupin darstellt, ist die literarische Figur des genialen Gauners wahrscheinlich nach dem real existierenden Jacob geformt.

Und das kam so:

Maurice Leblanc, 1864 als Sohn eines wohlhabenden Reeders in Rouen geboren, studiert und arbeitet als Journalist in Paris. Er hat sich – ohne großen Erfolg – auch als Schriftsteller versucht. 1905 beauftragt ihn Pierre Lafitte, der Verleger der großen französischen Tageszeitung Le Figaro, für sein neues Magazin „Je sais tout“ Krimi-Kurzgeschichten zu schreiben. Der Held soll dabei eine französische Antwort auf Sherlock Holmes sein. Die Sherlock-Geschichten von Arthur Conan Doyle erfreuten sich seit der Erstveröffentlichung der Geschichte Eine Studie in Scharlachrot 1887 schnell und über Großbritannien hinaus großer Beliebtheit.

Leblanc sagt zu, hat aber noch keine rechte Idee. Und er muss weiter seinen Journalistenjob machen. Am Aschermittwoch sitzt er als Gerichtsreporter für die Gazette „Gil Bas“ im Schwurgericht des nordfranzösischen Amiens. 18 Männer sind angeklagt. Der sogenannten „Bande von Abbeville“ werden 150 Überfälle vorgeworfen, bei denen sie rund fünf Millionen Franc erbeutet haben sollen. Neben diesen beeindruckenden Zahlen ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Amiens gerichtet, denn der Bande geht es um mehr als nur Geld.

Die Männer zählen sich zu den Anarchisten und ihr Anführer, (die Anarchisten würden jetzt schreien, dass sie keine Chefs haben) der gutaussehende, charismatische Alexandre Marius Jacob, ist bei den Raubzügen sowohl als genialer Stratege aufgefallen als auch durch Witz und Charme.

Der Anarchist und Gentleman-Ganove Alexandre Marius Jacob (1879-1954) gilt als das reale Vorbild für die literarische Figur Arsène Lupin.

Vor Gericht und in seinem Manifest „Pourquois j'ai volé“ (Warum ich gestohlen habe) beschreibt der junge Mann wortgewandt, wie und vor allem warum er auf Raubzug ging: Beklauen würden sie nur die Reichen. Gerne Bankiers und Richter (das war vielleicht nicht so schlau, das explizit vor Gericht zu erwähnen). Und Jacob und seine Bande gäben die Beute (zumindest einen Teil) an die Armen weiter. Also ganz im Robin-Hood-Style.

Beim Stehlen gingen sie gewitzt vor: Verkleidungen und Schauspieleinlagen öffneten so manche Tür. Oder die neueste Technik, etwa beim Ausrauben der Asservatenkammer der Polizei in Marseille. Spezialwerkzeug mit 80 Dietrichen kam zum Einsatz. Ebenso leichte, aber stabile Leitern aus Seide und zusammenfaltbare Lampen. Gerne hinterließ man am Tatort Spottverse. Und als Jacob schon einmal fast geschnappt worden war, entkam er, indem er einen epileptischen Anfall simulierte.

Das kommt an. Jacob und seine Bande erfreuen sich breiter Unterstützung. Alexandre Jacob wird als „Gentleman Cambrioleur“ – als sympathische Gentleman-Einbrecher gefeiert.

Auch von Maurice Leblanc, der für Gil Bas berichtet. Und irgendwann während dieser Prozesstage muss es bei Leblanc „Klick“ gemacht haben. Da war doch noch dieser Auftrag mit den Krimi-Kurzgeschichten. Die französische Antwort auf Sherlock Holmes. Warum muss das eigentlich ein Detektiv sein? Könnte man nicht etwas völlig Neues machen? Einen Dieb zum Helden küren? Einen sympathischen, der nur die Reichen bestiehlt? Einen wie Alexandre Marius Jacob? Den Politik-Klimbim kann man ja weglassen…

So oder ähnlich mag Leblanc gedacht haben, auch wenn er später immer geleugnet hat, dass es ein reales Vorbild für Arsène Lupin gab. Man darf anderer Meinung sein. Schon drei Monate nach dem Prozess gegen Jacob erblickt der Meisterdieb Arsène Lupin das Licht der Welt.

Der erste Teil eines Fortsetzungsromans wird in der Zeitschrift „Je sais tout“ veröffentlicht. Und die Parallelen zu Jacob liegen auf der Hand:

Lupin ist ein Verkleidungskünstler – wie Jacob.

Lupin bestiehlt nur die Reichen – wie Jacob.

Lupin hat Humor – wie Jacob.

Lupin wird nie gefasst – anders als Jacob.

Cool und lässig – Assane Diop (Omar Sy), der moderne Arsène Lupin.

In dem Prozess wurde Alexandre Marius Jacob zu lebenslanger Haft auf den Gefängnisinseln in Französisch-Guayana verurteilt. Diverse Fluchtversuche von dort schlugen fehl. Nachdem Jacob knapp 20 Jahre in der Strafkolonie absitzen musste, wurde er für die letzten beiden Haftjahre in ein Zuchthaus nach Frankreich verlegt. Wieder in Freiheit (ca. ab 1928) schrieb er für anarchistische Zeitungen und gab Kämpfern des Spanischen Bürgerkriegs ein Obdach.

1954 beendete er sein Leben mit einer Überdosis Morphium: „Ich habe keine Lust mehr. Entschuldigt. Ihr findet zwei Liter Rosé neben dem Brotkorb. Zum Wohl.“ So der Abschiedsgruß des Mannes, der Arsène Lupin war.

Maurice Leblanc stieg in dieser Zeit zum Bestsellerautor auf. Bis 1935 erschienen 21 Romane, zwei Theaterstücke und eine schwer überschaubare Anzahl an Kurzgeschichten. Arsène Lupin wird ein französischer Star und machte seinen Schöpfer Maurice Leblanc ebenfalls bekannt. Allerdings hauptsächlich in Frankreich. Anders als sein großer Epigone Sherlock Holmes zieht Arsène Lupin im Ausland nicht.Warum war Lupin nie so erfolgreich wie Sherlock Holmes?

Vielleicht ist auch daran Alexandre Marius Jacob schuld. Es ist schließlich sein Geist, der da in Arsène pulsiert. Dieser anarchische, dieser unkontrollierbare.

Diese revolutionäre Propaganda der Tat und dieses Lust for Life in jeder Aktion – damit konnte Arsène außerhalb Frankreichs unmöglich die Popularität des stets korrekten Sherlock Holmes erreichen. Ein Detektiv, der auf der Seite der staatlichen Ordnung stand, war dem hinter dicken Mauern und hohen Zäunen lebenden und gemütlich vor dem Kamin lesenden Bürgertum lieber als ein Dieb, der vorzugsweise die Reichen beklaute und – shocking – nie erwischt und seiner Strafe zugeführt werden konnte.

Und während Lupin, ein polyamorer, hedonistischer Bruder Leichtfuß, die Damenwelt betört, verführt, lügt und betrügt, ohne dass man (und frau schon gar nicht,) ihm böse sein kann, spielt Sherlock Holmes allein in der Baker Street Geige. Bloß die alte Mrs Hudson schlurft mal hoch, um Tee nachzuschenken.

So hatten Helden zu sein, Ende des 19. und noch weit ins 20. Jahrhundert hinein.

Und in den seltenen Momenten, in denen der Mann mit der Deerstalker-Mütze sich gehen lässt, tut er dies mit Kokain. Ein Mittelchen, das zur Entstehungszeit der ersten Sherlock-Holmes-Geschichten nicht verboten, sondern rezeptfrei in der Apotheke zu kaufen war. Als der gesundheitsschädliche Suchteffekt bekannt wurde, ließ Conan Doyle seinen Saubermann Sherlock flugs clean werden (Dr. Watson reklamiert die Heilung ganz en passant für sich in The Adventure of the Missing Three-Quarter).

Lupin hingegen schlürfte munter Champagner und blieb in seinen tausend Masken und Verkleidungen nie greifbar, bot keine staatlich legitimierte Identifikationsfläche – er taugte einfach nicht zum kapitalistischen Vorbild und blieb ein rein französisches Kulturgut.

Aber dann kam Netflix. Dann kam Omar Sy. Und es kam Lupin, die moderne filmische Adaption, die dem literarischen Meisterwerk und dem Meisterdieb vollends gerecht wurde und wird.

Ein Zeitsprung ins 21. Jahrhundert. Aus Arsène Lupin wird Assane Diop. Ein schwarzer Junge aus den Banlieues, streetwise und mit den Werken von Maurice Leblanc vertraut.

Eine geniale Wiedergeburt, ist doch Assane genauso charmant, lässig, diebisch wie sein Vorbild. Auch Assane ist der Obrigkeit ein Dorn im Auge, auch Assane gehört zu den Pariser Paria, den Unberührbaren, und auch Assane lässt sich nichts gefallen.

Assane – Arsène – Alexandre – wir kaufen, nein, klauen! noch ein „A“ und lösen: Anarchie!

Am Ende ist es also doch ein später Sieg für Alexandre Jacob, den Anarchisten, der das Vorbild für Arsène Lupin und damit auch für Assane Diop war. Und ein Triumph für Maurice Leblanc, dessen Bücher hundert Jahre lang den Sherlock-Holmes-Auflagen hinterherhechelten.

Am Ende nämlich siegen die „Anarchos“ Alexandre/Arsène /Assane ganz kapitalistisch:

Zwischen 2020 und 2021, nachdem die ersten beiden Staffeln auf Netflix liefen, erfuhren Maurice Leblancs Bücher ein Verkaufsplus von 2.100 Prozent.

Thorsten Kolle

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