Die besten Geschichten schreibt das Leben. Und die allerbesten Geschichten schreibt oft der Sport. Hier verdichten sich die großen Fragen von Triumph und Scheitern, Sinn und Unsinn auf wenige Momente. Und wir können dabei sein – auch ohne unseren Hintern vom Sofa zu bewegen.
Nun erscheint mit Quarterback eine Dokuserie über die besten Football-Spieler unserer Zeit. Zu diesem Anlass haben wir Sportdokus zusammengestellt, die die ganze Faszination des Sports auf den Punkt bringen.
Quarterback (2023)
Der Job des Quarterbacks im Football ist eigentlich sehr einfach. Also zumindest, wenn man Dan Marino glauben mag, legendärer Quarterback der Miami Dolphins in der 80er und 90er-Jahren. „Es ist unmöglich, einen perfekten Pass zu verteidigen“, hat Marino gesagt. „Ich kann einen perfekten Pass werfen.“
Dass aber noch ein bisschen mehr dahinter steckt, als nur den Ball möglichst präzise zu einem Mitspieler zu werfen, zeigt die Dokuserie Quarterback sehr eindrücklich. Darin gewähren die Pässewerfer Kirk Cousins (Minnesota Vikings), Marcus Mariota (Atlanta Falcons) und Patrick Mahomes, amtierender Super Bowl Champion und MVP der Kansas City Chiefs, einen noch nie dagewesenen Einblick in die Football-Saison 2022-2023.
Es geht um den unglaublichen Druck, der auf und neben dem Feld auf den Spielern lastet. Es geht um die Menschen abseits des Sports, in ihren Rollen als Söhne, Ehemänner, Väter. Und natürlich geht es auch um den perfekten Pass.
Anelka: Misunderstood (2020)
Fußballfilme und -serien gibt es zuhauf. Auf Netflix sind unter anderem Dokus über den großen Pelé, den ewig unvollendeten Italiener Roberto Baggio und neuerdings eben Neymar zu sehen. Ein Geheimtipp ist der Film über einen Mann, der auch als Spieler eine Art Geheimtipp war: Nicolas Anelka. Der Sohn zweier Einwander*innen aus Martinique ist aufgewachsen im rauen Pariser Vorort Trappes (übrigens zusammen mit Lupin-Star Omar Sy). Früh wurde er als „bad Boy“ abgestempelt. Ein Talent, klar. Aber eben nicht erziehbar und damit kaum brauchbar.
Während seiner Karriere wechselte Anelka beinahe jährlich den Verein. Das tat er auf der höchsten Ebene des europäischen Geschäfts: Paris, Madrid, Manchester, Turin. Echte Anerkennung aber erfuhr er nirgendwo. Dieses Schicksal eint ihn mit vielen nicht-weißen Spielern aus schlechten Verhältnissen. Rassistische Vorurteile sind im Fußballgeschäft noch immer Standard. Auch deswegen ist Anelka: Misunderstood wichtig: weil es die andere Seite dieses Missverständnisses zeigt – und damit von mehr erzählt als dem Leben eines ewig unterschätzten Ausnahmekönners.
Untold (2021)
Die Doku-Reihe Untold erzählt in fünf voneinander unabhängigen Filmen selten gehörte Geschichten aus der Sportwelt. Diese Geschichten haben eines gemein: Sie sind eigentlich zu krass, ihre Wendungen zu abenteuerlich, ihre Zuspitzungen zu extrem. Und doch ist das alles genau so passiert, sei es die Massenschlägerei beim Basketballspiel oder die Dauerschlägerei beim Eishockey.
Eine gewissen Promi-Faktor bekam die Reihe durch Caitlyn Jenner aus dem Kardashian-Jenner-Clan. Die gewann 1976 – damals noch als Bruce Jenner – den olympischen Zehnkampf der Männer. Erst danach erkannte sie ihre wahre Geschlechtsidentität und wurde unter den Augen der Öffentlichkeit zur Frau. Für Sportfans ist interessant zu sehen, wie Bruce quasi in Eigenregie zum besten Athleten der Welt wurde. Noch viel spektakulärer aber ist die Story der Boxerin Christy Martin. Gespoilert wird hier nicht. Einfach gucken.
Naomi Osaka (2021)
Naomi Osaka gewann 2018 als weitgehend unbekannte Nachwuchsspielerin die US Open im Tennis. In einem von Kontroversen umwehten Finale bezwang sie dabei Serena Williams, die größte Spielerin, die dieser Sport je gesehen hat. Wenige Monate später gewann sie auch das Turnier in Melbourne, dann schon als Weltstar. Es folgten sportliche und psychische Krisen sowie eine triumphale Rückkehr nach New York im Jahr 2020. Dort gewann sie erneut die US Open. Im Laufe des Turniers entwickelte sie sich zudem zum Sprachrohr der Black Lives Matter-Bewegung. Alles in allem: sehr viel Leben in sehr kurzer Zeit.
Naomi Osaka dokumentiert diese intensiven zwei Jahre. Die drei Folgen zeigen Osaka als Ausnahmekönnerin ihres Sports, aber auch als Werbeikone und nicht zuletzt als Vorkämpferin für Gleichberechtigung und mentale Gesundheit im Profisport. In Teilen wirkt die Serie etwas unfertig, was sicher auch daran liegt, dass Osakas Karriere längst noch nicht zuende ist. Dennoch zeichnet Naomi Osaka interessante Bilder. Das einer wahrlich außergewöhnlichen Frau an einem Scheidepunkt ihres Lebens. Und das eines modernen Hochleistungssportbetriebs, in dem sich Leibesübungen kaum mehr trennen lassen von kommerziellen Interessen und gesellschaftspolitischen Debatten.
The Last Dance (2020)
Wisst ihr noch, die gute alte Zeit? Damals, als das mit dem Lockdown neu war und zuhause bleiben sogar Spaß machte? Das lag auch an The Last Dance. Die Serie erzählt die Geschichte von Michael Jordan und seinen legendären Chicago Bulls, die zwischen 1991 und 1998 insgesamt sechs Mal die NBA-Meisterschaft gewannen.
Der Release dieser sechsteiligen Miniserie wurde Anfang 2020 sogar vorgezogen, um uns die Isolation zu versüßen. Dass die letzten Episoden mit der heißen Nadel fertig geschnitten wurden, merkt man kaum. The Last Dance hier ist Infotainment auf allerhöchstem Niveau. Das Storytelling, der Einsatz von Musik, der perfekt dosierte Nostalgie-Faktor – alles erste Liga. Für Fans der bunten Neunziger ist ohnehin reiner Popkultur-Porno.
Schumacher (2021)
Über Schumacher sprachen Hadnet und Matthias ausführlich in s02e02 des Netflixwoche-Podcasts. Beide sind keine Formel-1-Fans, aber mochten die Doku sehr. Warum? Weil die Geschichte des Rennsport-versessenen Jungen aus einfachen Verhältnissen, der mit Demut und harter Arbeit zum Besten seines Fachs wird, so gut ist. Und weil der Film ein durchaus differenziertes Bild des deutschen Sporthelden zeichnet.
Neben Freunden und Familie kommen hier auch seine Rivalen zu Wort. Sie sprechen mit Ehrfurcht von dem Mann, der sie besiegte, aber sie verklären nie die Vergangenheit. Denn: Schumi war fair, aber hart. Ein besessener Arbeiter und loyaler Teamplayer, aber auch ein eiskalter Wettkämpfer, der stets bis an die Grenzen des Erlaubten ging und manchmal darüber hinaus.
Besonders anrührend ist die Szene, in der Schumacher über sein verstorbenes Idol Ayrton Senna spricht. Er überflügelt seinen Rekord, und das bedeutet ihm alles. In Momenten wie diesen zeigt sich der weiche Kern unter der knallharten Schumi-Schale – und dass die Formel 1 bei aller Technikobsession vor allem von ihren Charakteren lebt. Wer mehr solcher Momente sucht, wird übrigens bei der Doku-Reihe Formula 1: Drive To Survive fündig.
Nowitzki. Der perfekte Wurf (2014)
Wer ist die größte deutsche Sportler*in aller Zeiten? Der siebenmalige Weltmeister Michael Schumacher? Steffi Graf? Bobbele? Kaiser Franz? Oder doch Dirk Nowitzki, dieser sanftmütige Riese, der erst fortgehen musste aus der unterfränkischen Heimat, bis ins ferne Texas, um seine wahre Größe zu beweisen?
Wie auch immer man diese Frage beantwortet, Nowitzki. Der perfekte Wurf ist Pflichtprogramm für alle Sportinteressierten. Der Film der deutschen Doku-Größe Leopold Hoesch porträtiert nicht nur das german Wunderkind, sondern auch seinen kongenialen Privattrainer und Mentor Holger Geschwindner. Der ist ein wahrer Pionier seines Fachs: Charakterkopf, Lebemann, Rebell, versessener Wissenschaftler.
Geschwindner, einst selbst der beste Basketballer des Landes, bringt seinem Schüler in jahrelanger Detailarbeit den perfekten Wurf bei. Ausgestattet mit dieser tödlichen Waffe wird Nowitzki 2011 mit seinen Dallas Mavericks Meister in der US-Profiliga NBA. Der Beste in diesem ur-amerikanischen Spiel ist plötzlich ein Europäer. Nicht nur dafür lieben ihn die Texaner, sondern vor allem für seine bescheidene, bodenständige, rührend fürsorgliche Art.
Wer Nowitzki nicht mag, hasst auch Robbenbabys. Und wer diesen Film nicht gesehen hat, wird immer nur einen Teil des Phänomens begreifen.
14 Peaks (2021)
Ist das noch Sport oder schon völliger Wahnsinn? Der Bergsteiger Nimsdaj Purja will alle Achttausender innerhalb von sieben Monaten besteigen. So viele Rekorde gibt es in der Bergwelt nicht mehr zu brechen, den Aufstieg auf den Mount Everest wagen inzwischen Hunderte. Da müssen eben solche Challenges her.
Der besondere Verdienst von 14 Peaks liegt darin, dass der Film das Vorhaben nicht exotisiert, sondern menschlich greifbar macht. Was treibt einen an, der nicht einmal, sondern 14 mal sein Leben riskiert? Worin liegt die wahre Schönheit dieses zum Massentourismus pervertierten Kampfes gegen die Naturgewalten in der Höhe?
Wer diesen Film guckt, versteht es zumindest ein bisschen besser. Als Bonus kann man die unfassbare Schönheit der höchsten Gipfel der Welt ganz einfach vom Sofa aus genießen.
Icarus (2017)
Doping im Profisport ist bitterer Alltag. Das wissen alle, die nicht bewusst davor die Augen verschließen. Die Dimensionen des Betrugs, die sich in Icarus auftun, sind dennoch erschreckend. Der Dokumentarfilmer und ambitionierte Radsportler Bryan Fogel möchte sich selbst an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit dopen. So trifft er auf den russischen Laborleiter Grigori Rodtschenkow, den er schließlich auf seinem Weg vom staatlich gesteuerten Betrüger zu „Putin’s most-wanted whistleblower“ begleitet.
Ihnen dabei zuzusehen, ist mitreißend und verstörend zugleich, weil Fogel auf simple Schuldzuschreibungen verzichtet: Dass im Profisport gedopt wird, liegt auch an unser aller Faszination für das ewige Schneller-Höher-Weiter. Icarus wurde 2018 mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Zurecht: Neben den wichtigen Enthüllungen, die die globale Sportwelt zumindest für kurze Zeit aufwühlten, erzählt der Film nämlich auch die Geschichte zweier ungleicher Freunde, die man einfach mögen muss. Obendrauf gibt es tolle Aufnahmen aus den französischen Alpen und erstaunlich viele witzige Momente voll menschlicher Wärme.
Der Mörder in Aaron Hernandez (2020)
Aaron Hernandez hatte alles, was man im American Football erreichen kann. Eine Anstellung beim größten Team der Welt. Millionen auf dem Konto. Einen Touchdown im Super Bowl. (Für alle, die nicht so firm sind in diesem Sport: Ihr erinnert euch an Mario Götze und seine magische Nacht von Rio? Ungefähr so ist das.) Vor allem aber hatte er psychische Probleme. Schwere psychische Probleme. Sie endeten damit, dass er mindestens eine Person und schließlich auch sich selbst ermordete. Inwiefern das alles zurückzuführen ist auf das ständige Zusammenstoßen mit anderen Kolossen bei irrwitzigen Geschwindigkeiten, auch dieser Frage geht Der Mörder in Aaron Hernandez nach.
Die Profiliga NFL wird seit Jahren dafür kritisiert, dass sie der Brutalität des Spiels und den daraus resultierenden Kopfverletzungen nicht entschieden genug entgegenwirkt. Ob die Causa Hernandez wirklich damit zu tun hat, das kann diese dreiteilige Dokuserie nicht eindeutig klären. Wie auch? Der Fall ist komplex. Sicher ist, dass das Supertalent jahrelang zu kämpfen hatte. Mit den Erwartungen des Elternhauses. Mit seiner unterdrückten Homosexualität. Mit Paranoia. Mit dem ganzen NFL-typischen Wahnsinn zwischen Heldenverehrung, Leistungsdruck, schnellem Reichtum und Medikamentenmissbrauch.
Der Mörder in Aaron Hernandez ist ein tragisches Biopic. Gleichzeitig aber ist die Serie eine Auseinandersetzung mit der moralischen Grauzone, in der sich die NFL (und der Profisport allgemein) bewegt. Wer will die Gladiatoren schützen, wenn sich mit den Spielen so gutes Geld verdienen lässt?
Die Kunst zu gewinnen – Moneyball (2011)
Zum Abschluss nochmal US-Sport. Baseball, hm. Dauert ewig. Gibt nicht mal Elfmeterschießen. Und wer versteht überhaupt diese Regeln? Im Ernst: Baseball ist sicher nicht der Deutschen Lieblingssport. Aber auch hierzulande muss man anerkennen, dass das seltsame Herzensspiel der Amis zwei der wichtigsten Sportfilme überhaupt hervorgebracht hat. Der eine ist Screwball, eine Doku über einen riesigen Skandal rund um den Handel mit Steroiden. Der andere ist Die Kunst zu gewinnen – Moneyball.
Moneyball ist streng genommen ein Spielfilm, basiert aber auf einem essentiellen Sachbuch unserer Zeit, Moneyball: The Art of Winning an Unfair Game aus dem Jahr 2003. Der Autor Michael Lewis, von Beruf Wirtschaftsjournalist, untersucht darin den Einfluss von Datenanalyse auf die Erfolgsaussichten einer Sportmannschaft. Konkret geht es um den Baseball-Manager Billy Beane, der aus den Geldnöten seiner Oakland A’s eine Tugend macht und durch cleveres Scouting eine Gewinnermannschaft zum Dumping-Preis zusammenstellt.
Mit der Unterstützung von Daten und Mathematik findet er das Talent, das alle anderen übersehen. Der Film wurde für sechs Oscars nominiert, auch dank der Starbesetzung um Brad Pitt, Jonah Hill und Philip Seymour Hoffman. Vor allem aber revolutionierte Moneyball, wie weltweit, quer durch alle Sportarten, über Daten und Strategie nachgedacht wird. Ohne Lewis keine Laptoptrainer. Und ohne Moneyball kein Kanon moderner Sportdokus.
Netflixwoche Redaktion