Wunsch nach zweiter Staffel: Warum Squid Game die Streamingwelt gerade komplett umkrempelt

Zu Zeiten des linearen Fernsehens hätte man die Serie Squid Game einen Straßenfeger genannt. Tatsächlich muss man dankbar sein, dass das Format auf Netflix läuft. Die Dramaturgie der Squid Game-Cliffhanger würde es einer Folter gleichkommen lassen, eine ganze Woche bis zur nächsten Folge warten zu müssen.

Innerhalb weniger Tage schoss die Serie nach ihrem Release am 17. September an die Spitze der meistgesehenen Netflix-Shows in 90 Ländern. In Südkorea, dem Schauplatz der Produktion sowieso, aber auch in den britischen und US-amerikanischen Märkten und nicht zuletzt auch in Deutschland. Die explosionsartige Dynamik der Streamingstatistiken macht es nur zu einer Frage der Zeit, bis Squid Game an Netflix-Blockbustern wie Lupin und Bridgerton vorbeizieht und zum erfolgreichsten Netflix-Titel aller Zeiten wird. Aber was genau macht diesen Erfolg aus?

Es gibt mehrere Antworten auf diese Frage, aber eine ist ganz wesentlich: Die Serie kommt genau zur richtigen Zeit. Regisseur Hwang Dong-hyuk entwickelte das Drehbuch bereits im Jahr 2008, stieß mit seiner Geschichte aber bei verschiedenen Produktionsfirmen auf Ablehnung. Der Plot sei zu unrealistisch und überzogen, hieß es damals.

Denn in Squid Game treten 456 Menschen in Kinderspielen gegeneinander an. Diese Menschen sind Teil der südkoreanischen Unter- und Mittelschicht, allesamt hoch verschuldet, hoffnungslose Fälle, gesellschaftlich geächtet. Sie bekommen im Spiel die Chance, unter fairen Bedingungen eine für sie fantastische Geldsumme von 45,6 Milliarden Won (ca. 33,3 Millionen Euro) zu gewinnen – oder zu sterben. 

An sich ist das keine außerordentlich originelle Prämisse. Menschenjagden im „Alle gegen alle“-Modus wurden bereits erfolgreich in den Hunger Games-Filmen oder dem japanischen Thriller Battle Royale für das Kino inszeniert. Squid Game spiegelt allerdings in seinen Spielen die Realität von Klassenverhältnissen, die völlig aus den Fugen geraten sind. Es erzählt eindrucksvoll vom Armutsproblem in Südkorea und ist in diesem Ansatz der Einarbeitung von Gesellschaftskritik auf Augenhöhe mit Parasite, einer weiteren südkoreanischen Produktion, die im Kinoformat vor nicht allzu langer Zeit unerwartet erfolgreich war.

So landesspezifisch das Setting auch sein mag, die Aussage ist problemlos auf westliche Länder übertragbar. Die Kapitalismuskritik der Serie ist allgemeingültig und trifft in einer Zeit, in der die Corona-Krise als weiterer Katalysator sozio-ökonomische Ungleichheiten noch sichtbarer gemacht hat, ganz spürbar einen Nerv – und das weltweit.

Ein weiterer Grund für das Squid-Phänomen sind die Charaktere. Wir begleiten im Verlauf der Folgen eine Handvoll Protagonist*innen, allen voran Seong Gi-hun (aka Nr. 456), einen in privaten und beruflichen Dingen glücklosen Tagedieb, der seine Mutter ausnutzt und kaum für seine Tochter aus missglückter Ehe sorgen kann.

Da das grundlegende Prinzip der Serie schnell erzählt ist, kann sich der Plot auf die Entwicklung der Figuren, ihre Umstände und ihre Biografien konzentrieren. Genau das passiert in einer würdevollen, teilweise hoch emotionalen, aber trotzdem kaum pathetischen Weise.

Es lässt sich beobachten, wie das Spiel als komprimiertes Abbild der Außenwelt Konflikte in geradezu Orwellscher Manier entzündet, wie es gleichzeitig das Böse wie auch das Gute im Menschen hervorkehrt, wie Fragen von Moral und Zwischenmenschlichkeit in verschiedenen Situationen immer wieder neu bewertet werden.

Dieser kluge und feinfühlige Umgang mit den Hauptfiguren macht es unmöglich, einige dieser Schicksale empathielos zu verfolgen. Sympathien, die sich von Folge zu Folge verstärken, bis dann möglicherweise der im Spielverlauf unvermeidliche Moment gekommen ist, sich verabschieden zu müssen.

Als kleiner Beleg für das Fan-Potenzial der Figuren: der Instagram-Kanal des Models Jung Ho-yeon, die die aus Nordkorea geflüchtete Kleinkriminelle Kang Sae-byok (Nr. 067) spielt, wuchs innerhalb kürzester Zeit von 400.000 Follower*innen vor Release der Serie auf 13 Millionen beim Verfassen dieses Artikels an. Sie ist damit die koreanische Schauspielerin mit der größten Follower*innenschaft. Gigantische Ausmaße – vor allem, da Squid Game ihr Schauspieldebüt ist.

Grund Nummer drei: Filmästhetisch ist Squid Game einfach on point. Das beginnt bei den visionären Set-Designs, die mal an überdimensionierte Ameisenhaufen erinnern, mal an bedrückende Bunkerverliese und mal an lebendig gewordene MC Escher-Zeichnungen, über denen kübelweise Neonfarbe ausgekippt wurde. Das erstreckt sich über Aspekte wie Musik und Sounddesign. Und das betrifft auch das Erzähltempo, die Virtuosität des Spannungsaufbaus und das treffsichere Setzen von Cliffhangern.

Bestes Beispiel hierfür ist Folge vier, bei der man fast vermuten möchte, dass Autor und Regisseur Hwang Dong-hyuk augenzwinkernd versucht hat, dem Begriff des Cliffhangers im wörtlichen Sinn ein Update zu geben. Die Dramaturgie und Spannungsdichte von Squid Game macht es einfach unmöglich, die Serie nicht zu bingen.

Aus all den genannten Zutaten ergibt sich viertens: Jede*r redet darüber. Die innovative Inszenierung, der visuelle Sog, der starke Cast und der inhaltliche Bezug zu Problemen, die uns täglich beschäftigen, das alles ist so mitreißend komponiert, dass man schon nach den ersten Folgen am Handy hängt, um seinen Freund*innen mitzuteilen, dass das hier gerade das ultimative Must-See ist.

Für diejenigen, die das ganze Epos bereits hinter sich haben, liefert das Squid Game-Universum ausreichend Material, um stundenlang über Bedeutungsebenen, Plot-Twists und Loopholes im Skript zu diskutieren. (Einige gravierende Unstimmigkeiten in der Geschichte gibt es tatsächlich, aber auf die wollen wir, um Spoiler zu vermeiden, hier nicht eingehen.)

Die Serie ist ohne nennenswertes Marketing an den Start gegangen. Es ist tatsächlich der Effekt der guten alten Mundpropaganda, der die Serie zu diesem einzigartigen Erfolg macht. Nur muss man sich dafür heute nicht mehr auf der Straße, dem Schulhof oder dem Pausenraum im Büro treffen: Squid Game ist ein Musterbeispiel für den viralen Serien-Hit. Instagram und TikTok werden gerade mit Reels und Posts aus dem schon jetzt ikonischen Squid Game-Universum geflutet.

Der Look, die Tiefe und die emotionale Anschlussfähigkeit der Serie machen sie schon jetzt zu einem konsensfähigen Teil Popkultur. Trotzdem kann man wohl davon ausgehen, dass der Kult um diese Serie gerade erst begonnen hat.

Netflixwoche Redaktion

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