Wie Edgar Allan Poe die Detektivgeschichte erfand

Sherlock Holmes raucht Pfeife und trägt eine Deerstalker-Mütze. Colombo besitzt einen zerknautschten Trenchcoat. Hercule Poirot erkennt man an seinem steifen Schnurrbart. Die literarischen Meisterdetektive sind mal souveräne Gentlemen mit guten Manieren, mal Eigenbrötler, die mit den Lebenden viel weniger anfangen können als mit den Toten. Und mal sind sie unscheinbare Gestalten, an denen misstrauische Blicke einfach abperlen.

Detektive ziehen sich seit 200 Jahren durch die Literaturgeschichte. So sehr sich ihre Charaktere auch unterscheiden, eine Sache verbindet sie alle: ihr Intellekt. Sie sind mindestens hochintelligent, Koryphäen ihres meist düsteren Handwerks. Wieso? Ein Blick auf den Ursprung.

Edgar Allan Poe: Der erste Detektiv

Der Archetyp des Meisterdetektivs stammt von Edgar Allan Poe. Dabei war Poe aber nicht selbst in einen Mordfall verwickelt, wie der Film Der denkwürdige Fall des Mr. Poe es darstellt.

1841 veröffentlichte die Zeitschrift Graham’s Magazine seine Kurzgeschichte mit dem Titel Der Doppelmord in der Rue Morgue. Zwei Frauen werden in einem von außen verriegelten Raum ermordet. Wie konnte der Mörder entkommen? Die Polizei ist ratlos. Nur einer kann den Fall lösen: C. Auguste Dupin. Ein kalter Logiker, sozial etwas unbeholfen. Er sieht, was andere übersehen. Der Täter ist – offensichtlich – der Orang-Utan, der einem Seemann entkommen war. Nachdem er die beiden Frauen getötet hatte, flüchtete er durch ein Schiebefenster, das nur auf den ersten Blick mit einem (inzwischen durchgebrochenen) Nagel am Fensterrahmen befestigt war.

Mit Dupin schafft Poe einen literarischen Präzedenzfall: Eine Privatperson, die sich dem Verbrechen verschrieben hat. Die mit verlässlicher Brillanz jeden Fall löst. Die auch im Angesicht von Blut, Gewalt und Tod nie die Ruhe verliert.

Mit Pfeife und Verstand

Knapp 50 Jahre später liest die Welt zum ersten Mal über den Detektiv, der heute ein Synonym für Brillanz geworden ist: Sherlock Holmes. Die Nähe zu Poes Dupin ist offensichtlich. In Eine Studie in Scharlachrot nimmt Doyle sogar direkten Bezug auf Dupin. Darin spricht Dr. Watson die Ähnlichkeit zwischen Poes Figur und Holmes an. „Sie erinnern mich an Dupin von Edgar Allan Poe. Ich hatte keine Ahnung, dass es solche Individuen außerhalb von Geschichten gibt.“ Holmes widerspricht: „Er hatte zweifellos ein gewisses analytisches Genie, aber er war keineswegs ein solches Phänomen, wie Poe es sich vorzustellen schien.“

Sherlock Holmes sollte wieder einmal recht behalten: Bis heute steht sein Name stellvertretend für Genie, er selbst wurde – anders als Dupin – zum weltweiten Phänomen. Anfangs ist er ein einfühlsamer Gentleman, der sich für Straßenkinder genauso viel Zeit nimmt wie für edle Damen – und den Boxring genauso liebt wie das Theater. Und dank der BBC-Serie Sherlock ist er mittlerweile der vielleicht populärste Soziopath der TV-Geschichte. Neben Dr. House natürlich, dessen analytischer Charakter übrigens von Sherlock Holmes abgeleitet ist. Detektivarbeit ist eben nicht nur was für Detektive.

Der fiktive Charakter Enola Holmes in den gleichnamigen Film demonstriert schließlich, welchen popkulturelle Tragweite der Name Sherlock Holmes wirklich hat. Es braucht eigentlich nur den Nachnamen, und schon traut man es einer Vierzehnjährigen zu, Mordfälle zu lösen. Zumindest bringen ihr die Zuschauer*innen sofort das Vertrauen entgegen, dass sie sich in den Filmen zunächst erarbeiten muss.

Und übrigens: Die Rolle des Sherlock Holmes ist ein Vermächtnis, das auch an der Meme-Kultur nicht spurlos vorbei …

Vom auffälligen Herrn zur unauffälligen Dame

Mit Agatha Christie hat der Detektiv ein Makeover bekommen. Hercule Poirot wird mit seiner kleinen Statur und seinem eiförmigen Kopf von seinen Mitmenschen unterschätzt. Miss Marple wirkt als ältere Dame immer vertrauenswürdig – eine Frau unter Wölfen, die ihren Scharfsinn hinter einer unscheinbaren Fassade versteckt. Denn das Geschick des Detektivs basiert nicht mehr nur auf seiner Gabe, treffsichere Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern auch auf der Fähigkeit, mit dem Hintergrund zu verschmelzen und einfach zu beobachten.

Wenn Benoit Blanc in Glass Onion unbeholfen am Strand herumsteht, von Kopf bis Fuß in Pastelltöne gehüllt, verloren lächelnd neben all den anderen Figuren, die sich ihres Platzes in der Welt und auf der Privatinsel ihres Milliardärsfreundes sicher sind, kann das als moderne Fortführung dieses Schemas interpretiert werden. Der Detektiv löst in Knifes Out und Glass Onion seine Fälle souverän, aber nicht ohne ab und an belächelt zu werden.

Netflixwoche Redaktion

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