Zum Start von Wednesday: Die Geschichte der Addams Family

„Ich weiß nicht, wessen verquere Idee es war, hunderte von Jugendliche in unterfinanzierte Schulen zu stecken, die dann noch von Leuten geleitet werden, deren Träume vor Jahren zerstört worden“, sagt Wednesday Addams, während sie über den Flur der Nancy Reagan High School schreitet. „Aber ich bewundere den Sadismus.“ Wednesday, schwarze Zöpfe, Gothic-Outfit, Hautfarbe: leichenblass, ist die älteste Tochter der Addams Family. Eine Monsterfamilie, die sich ein Cartoonist aus New Jersey vor über 80 Jahren ausgedacht hat.

Über die Addams Family gibt es Sitcoms, Zeichentrickserien, Kinofilme, Musicals und Computerspiele. Mit Wednesday ist jetzt die erste Coming-of-Age-Serie aus dem Addams-Family-Universum erschienen. Zum Start der Serie von Tim Burton schauen wir zurück: auf die Geschichte des Franchise. Auf das verrückte Leben des Erfinders der Familie. Und darauf, wie sich die Figur Wednesday Addams im Laufe der Jahrzehnte verändert hat. Eine Geschichte über Monster, Tierfriedhöfe und Cocktails, die auf Grabsteinen serviert werden.

1936 erscheint im US-amerikanischen Magazin The New Yorker ein Cartoon. Ein Mann ist darauf abgebildet. Er steht in einem heruntergekommenen Haus und trägt einen feinen Anzug mit Krawatte. Der Mann ist gerade dabei, einen „geräuschlosen“ und „rückenschonenden“ Staubsauger an ein Pärchen zu verkaufen, das aus einem Horrorfilm stammen könnte. Sie sieht in ihrem schwarzen Kleid wie ein viktorianischer Vampir aus. Er hat eine so klobige Statur, dass man an Frankensteins Monster denken muss. Im Hintergrund: Kronleuchter, Spinnweben und eine Fledermaus, die durchs Bild fliegt. Doch all das scheint den Staubsaugervertreter nicht zu stören. So begeistert ist er von dem Produkt, das er verkaufen möchte.

Mit diesem Carton beginnt die Geschichte der Addams Family. Gezeichnet hat ihn ein Mann namens Charles Addams. Ein Freelancer, der damals für viele verschiedene Zeitungen und Magazine arbeitet. Unter anderem collagiert er Fotos von Leichen für ein True-Crime-Magazin. Doch sein größter Erfolg werden die Addams-Family-Cartoons. Insgesamt fertigt er fast 60 Stück für The New Yorker an. Die meisten davon erscheinen in den 1950er und 1960er Jahren. Und machen Addams zu einem Star-Cartoonisten. Er datet Jackie Kennedy, trifft sich mit Alfred Hitchcock und ist in der New Yorker High-Society bekannt für seinen exzentrischen Lebensstil. Auf Dinner Partys soll er auf dem Grabstein eines Mädchens Cocktails serviert haben: „Die kleine Sarah, gerade mal drei Jahre alt.“

Wer sind die wahren Monster?

Die Cartoons von Charles Addams funktionieren fast alle nach dem gleichen Muster: Wir sehen eine All-American-Alltagssituation mit einem morbiden Twist. So wie die mit dem Staubsaugervertreter, der von einer „rückenschonenden“ Saug-Erfahrung schwärmt, während er im Horror-Haus der Addams steht. In einem anderen Cartoon kehren die beiden Kinder der Addams aus einem Ferienlager zurück — und werden dabei von einem Chauffeur in Käfigen transportiert. Der Clou dabei: Die Addams Family nimmt die Folterinstrumente, die Kinderkäfige und Falltüren in ihrem Haus nicht als morbide wahr. Für sie ist das Außergewöhnliche gewöhnlich. Die Freaks sind nicht die Addams. Sondern die Staubsaugervertreter dieser Welt. Das will uns Charles Addams damit sagen.

Woher Charles Addams Faszination fürs Morbide kam: Das konnte er sich selbst nicht erklären. In einem Interview mit seiner Biografin hat er einmal gesagt, dass es vermutlich interessanter gewesen wäre, wenn er eine schreckliche Kindheit gehabt hätte. Angekettet an einem Eisenbett. Und jeden Tag mit einer Dose Hundefutter beworfen. „Aber ich bin einer dieser seltsamen Menschen, die eigentlich eine sehr glückliche Kindheit hatten.“

Anfang der 1960er Jahre gibt Charles Addams seinen Figuren erstmals Namen: Die Eltern nennt er Gomez und Morticia. Die Kinder Wednesday und Pugsley. Denn NBC möchte aus seinen Cartoons eine Fernsehserie machen. Wednesday, erzählt Charles später, habe er nach dem Kinderreim „Monday’s Child“ benannt. Darin werden Kindern bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Und zwar je nachdem an welchem Wochentag sie geboren sind. Montagskinder haben ein schönes Gesicht. Dienstagskinder seien voller Gnade. Und Mittwochskinder voller Weh.

Die wahrscheinlich glücklichste Familie der Welt

1964 läuft auf NBC die erste Staffel von The Addams Family im US-amerikanischen Fernsehen. Damals noch in Schwarzweiß. In der ersten Folge klingelt ein Beamter der Schulbehörde bei den Addams. Der Grund: Gomez und Morticia schicken ihre Kinder nicht zur Schule. Wednesday öffnet dem Mann die Tür. Sie sieht fast so aus wie in den Cartoons, schwarzes Kleid, Zöpfe, ovales Gesicht. Auch die anderen Mitglieder der Familie ähneln der Cartoon-Vorlage. Charles Addams mag die Sitcom trotzdem nicht. Sie ist ihm nicht düster genug.

Die Produzenten von The Addams Family wollen die Sitcom familienfreundlich erzählen. So reißt Wednesday ihren Puppen zwar regelmäßig die Köpfe ab. Doch dabei wirkt sie fast schon niedlich. Und nicht bedrohlich wie in den Cartoons. In einem Buch über das Addams-Family-Franchise schreibt der US-amerikanische Autor Stephen Cox: Die Sitcom sei eher verrückt als gruselig. The Addams Family wird dennoch ein Erfolg. Auch, wenn NBC die Sitcom nach nur zwei Staffeln absetzt.

Bis heute hat The Addams Family viele Fans. Auf YouTube hat jemand unter die erste Folge geschrieben: „Die Addams sind wahrscheinlich die glücklichste Familie, die ich je gesehen habe. Gomez und Morticia führen eine tolle Ehe und sind nach all den Jahren immer noch verliebt.“ Das ist kein Zufall. Sowohl die Cartoons als auch die Sitcom verfolgen den gleichen Grundgedanken: Die wahren Monster sind die anderen. So wie der Beamte aus der ersten Folge, der keine Liebe kennt. Sondern nur Vorschriften und Zwang.

Wie fortschrittlich The Addams Family ist, wird klar, wenn man die Show mit einer anderen Sitcom vergleicht, die über 20 Jahre später ausgestrahlt wurde: Eine schrecklich nette Familie von 1987. Die meisten Gags in Eine schrecklich nette Familie beruhen darauf, dass TV-Familienoberhaupt Al Bundy seine Frau und Kinder hasst – und sich dafür selbst bemitleidet. Toxische Maskulinität als Schenkelklopfer. Gomez sind solche Gefühle fremd. Er kennt weder Selbstmitleid noch Hass. Sondern liebt seine Frau so wie am ersten Tag. Wenn es eine Sache gibt, die man von der Addams Family lernen kann, dann: Unsere Taten machen uns zu Monstern. Nicht unser Aussehen.

16 Folgen, dann ist Schluss

Fünf Jahre nach dem Ende der Sitcom holt NBC die Addams Family zurück. Allerdings nicht für eine dritte Staffel. Sondern als Zeichentrickserie. Die animierte Serie ist wohl von allen Produktionen aus dem Franchise am weitesten entfernt von den Original-Cartoons. Wednesday trägt in der Serie ein pinkes Kleid und hat in vielen Episoden fast gute Laune.

Nach nur 16 Folgen setzt NBC die Serie wieder ab. In den 1980er Jahren entstehen keine neuen Produktionen. Trotzdem verschwindet die Addams Family nicht. NBC und einige andere Fernsehsender strahlen die Sitcom-Folgen aus den 1960er Jahren immer wieder neu aus. Und erreichen damit gute Einschaltquoten.

Die Addams Family im Kino

Nach den ruhigen 1980er Jahren folgt der Knall: Zwei Filme mit der Addams Family kommen Anfang der 1990er Jahre ins Kino. Charles Addams erlebt das nicht mehr. Er stirbt 1988. Wie er es sich gewünscht hat, wird seine Asche auf dem Tierfriedhof vor seinem Haus in Sagaponack, New York, verstreut.

Vermutlich hätten Addams die Kinofilme gefallen. Sie sind düsterer als die Sitcom. Gerade Wednesday wird zum Publikumsliebling. Sie ist sadistisch und schert sich nicht darum, was andere von ihr denken. An einer Stelle in den Filmen begräbt sie eine Katze bei lebendigem Leibe. An einer anderen wirft sie ihren Bruder vom Dach des Familienanwesens. Doch vor allem ist sie beim Publikum wegen ihrer Schlagfertigkeit beliebt. In einem der Filme erklärt ein Nachbarskind, wie Kinder gemacht werden. Es sagt: „Und dann hat die Mami den Papi geküsst. Und das haben das die Engelein dem Storch erzählt. Und der Storch ist vom Himmel herab geflogen und hat einen Diamanten unter ein Blatt im Kohlfeld gelegt und der Diamant verwandelte sich in ein Baby.“ Wednesday schaut das Nachbarskind todernst an. Und sagt nur: „Sie hatten Sex.“

Für Wednesday-Darstellerin Christina Ricci ist die Rolle ihr Durchbruch. Fans der Kinofilme können sich freuen: In Wednesday gibt es einen Gastauftritt von Ricci.

Gute-Laune-Songs und Love-Interests

In den Jahren danach folgen noch eine neue Sitcom, eine Animationsserie, ein Broadway-Stück und ein Animationsfilm. Mal halten sich diese Produktion an die Original-Cartoons. Mal nicht. So wie das Broadway-Stück, in dem Wednesday einen Kurzhaarschnitt trägt, Gute-Laune-Songs wie aus Disney-Filmen singt und sich sogar verliebt.

Dann kündigt Tim Burton 2010 an, dass er an einem Stop-Motion-Film über die Addams Family arbeitet. Vermutlich: ein Herzensprojekt für den Macher von Horror-Feel-Good-Filmen wie Corpse Bride – Hochzeit mit einer Leiche und Sleepy Hollow. Doch es gibt Probleme mit den Rechten. Das Projekt wird auf Eis gelegt. Für eine lange Zeit hört man die Namen „Tim Burton“ und „Addams Family“ nicht mehr zusammen. Bis Netflix 2021 ankündigt: Es wird eine Coming-of-Age-Serie über Wednesday Addams geben und Tim Burton führt bei vier von acht Folgen Regie.

Wednesday bekommt ihre eigene Netflix-Serie

Das erste, was auffällt: Wednesday ist in der Netflix-Serie kein Kind mehr. Sondern eine Teenagerin. In der ersten Folge besucht sie eine US-amerikanische High School. Doch nachdem sie im Swimmingpool der Schule Piranhas aussetzt, wird sie auf ein Internat für Außenseiter*innen geschickt: für Vampire, Werwölfe, Sirenen. Ein Ort für all jene, die anders sind als die „Normies“. Wie es an einer Stelle in der Serie heißt.

Wednesday stellt eine Frage, die schon Charles Addams in seinen Cartoons gestellt hat: Wer sind die wahren Monster? Die angeblichen Ungeheuer? Oder all die 0815-Bürger*innen mit ihren Regeln und Vorurteilen?

Netflixwoche Redaktion

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