Warum der Kult um Seinfeld auch nach 30 Jahren nur noch größer werden kann

„I think I can sum up the show for you in one word. Nothing."

Das ist einer der wahnwitzigsten und geistreichsten Momente in Seinfeld. Einer von sehr, sehr vielen wahnwitzigen und geistreichen Momenten. Jerry und George präsentieren ihre Idee einer Sitcom in einer Seinfeld-Folge dem Programmdirektor von NBC und ironisieren damit gleichzeitig, worum es die ganze Zeit bei der Sendung, die wir in genau diesem Moment sehen, eigentlich geht. Nichts. Alltag. Verzweifelt im Restaurant auf die Platzzuweisung warten. Von Service-Personal bei der Autovermietung oder am Flughafen verarscht werden. Der tägliche Wahnsinn in der U-Bahn. Sich rettungslos im Parkhaus verlaufen. Jeden Tag mit den engsten Freund*innen im gleichen Café abhängen. There's a show, that's a show!

Gleichzeitig ist Seinfeld eine Show über Alles. Es thematisiert nicht weniger als die Absurdität des Lebens. Die Hauptfigur ist Jerry Seinfeld, einer der erfolgreichsten US-amerikanischen Standup-Comedians. Jerry spielt sich selbst, manchmal eher schlecht als recht. Sein eher mittelmäßiges Talent als Schauspieler wird in manchen Folgen von seinen Kolleg*innen verspottet. Nur ein kleines Detail in der systematischen Selbstreferentialität von Seinfeld. Mit ihm spielen seine engsten Freund*innen: Ex-Freundin Elaine (Julia Louis Dreyfus), sein exzentrischer Nachbar Kramer (Michael Richards) und sein bester Freund George (Jason Alexander). Ein genialer Cast, dem immer wieder anzumerken ist, dass die Freundschaft in diesem Quartett tatsächlich nicht gespielt ist.

Über 30 Jahre nach der Erstausstrahlung hat sich Netflix die weltweiten Rechte an Seinfeld gesichert – für 500 Millionen US-Dollar. Eine halbe Milliarde Dollar für ein 30 Jahre altes Format? Warum?

Ganz einfach: Weil Seinfeld auf verschiedenen Ebenen anschlussfähig an den Zeitgeist ist. Da wäre zum einen das Setting der Serie. Das New York der Neunziger Jahre. Ein nostalgischer Sehnsuchtsort, der selbst in Gen-Z-Kreisen konsensfähig ist. Keine Smartphones. Eine von Jerry subtil zur Schau gestellte Sneaker-Sammlung, die heute zigtausende Dollar wert wäre. Kramers Chino- und Hawaii-Hemden-Look, mit dem er seinen Titel als „Hipster Dufus" auch im Jahr 2021 problemlos verteidigen könnte.

Klar, gelegentlich ertappt man sich bei der Vorstellung, welches Gag-Potential eine zeitnahe Version von Seinfeld aus unserer digitalisierten Welt schöpfen könnte. Trotzdem ist Seinfeld als Rückzugsort in eine Welt, in der man sich täglich in Cafés getroffen oder in den Wohnungen seiner Freund*innen statt in Messenger-Apps abgehangen hat, manchmal einfach nur wohltuend.

Aber viel entscheidender noch: Die Seele der Show ist kaum gealtert. Wir haben es mit vier Mittdreißiger*innen zu tun, die auf unübertroffen witzige Weise zwischen den größten Banalitäten und den Sinnkrisen des Lebens hin- und herpendeln. Seinfeld thematisierte damals als erste Sitcom die Lebensrealität der individualisierten Großstädter*innen, inklusive der damit einhergehenden Lebensmodelle und unkonventionellen Beziehungsentwürfe. Damit war es einerseits die oft kopierte Vorlage für nahezu jedes nachfolgende Sitcom-Format, in dem es in irgendeiner Form um Freundschaft und Zwischenmenschlichkeit geht. Andererseits sind diese Themen heute immer noch genau so interessant und gültig wie damals.

Ähnlich verhält es sich mit einem anderen Alleinstellungsmerkmal dieser Serie: ihrem Humor. Seinfeld wurde zusammen von Jerry Seinfeld und dem Komiker und Autoren Larry David erdacht. Die Mischung aus dem Humor-Verständnis der beiden, mit dem sie zusammen das Seinfeld-Universum entwickeln, ist bis heute kaum erreicht. Für beide ist der größte Ideen-Lieferant der Alltag. Seinfeld beobachtet ihn spitzfindig, mit smartem, jüdischem Humor. David ist da brachialer, immer nahe am cholerischen Ausbruch. Die für David typischen Feldzüge gegen gesellschaftliche Konventionen werden bei Seinfeld stellvertretend von der Rolle des George Costanza ausgefochten, nicht selten bis an den Rand des neurotischen Super GAUs. Nach dem Ende von Seinfeld übernimmt David es dann selbst, in seinem eigenen Format Curb Your Enthusiasm.

Ihre gemeinsame, mal einfach nur sachte und ironische, mal brachiale und ätzende Überspitzung des Lebens der Großstädter*innen hat zwei große Verdienste. Erstens: Es gibt unzählige Alltagsbeobachtungen, die durch ihre Verarbeitung in Seinfeld absurd komisch geworden sind. Seinfeld-Geeks werden eine Person, die einem beim Reden unangenehm nahe kommt, sofort als „Close-Talker" identifizieren. Sollte es dazu kommen, dass zwei Seinfeld-Fans miteinander Schluss machen, wird unausweichlich der Satz „It's not you, it's me." fallen. Das ganze dürfte dann wohl auch weniger tragisch ausfallen als andere Trennungen. Die Serie hat eine ganze Welt aus Trivia und Insider-Jokes generiert, die auch noch die nächsten dreißig Jahre überdauern wird.

Zweitens: Seinfeld schafft es, Identifikation mit Figuren zu erleichtern, die sich nicht immer, oder vielleicht sogar nur in den seltensten Fällen von ihrer besten Seite zeigen. Die Serie bricht dank ihres besonderen Humors mit etlichen Sitcom-Konventionen und spricht mit der Faulheit, dem Hedonismus, der Exzentrik seiner Figuren die faulen und hedonistischen Exzentriker*innen in uns allen an. Das war damals neu. Heute ist es das nicht mehr. Aber es ist selten, von Ausnahme-Erscheinungen wie Arrested Development oder New Girl abgesehen, so gut gelungen wie im Original.

Zugegeben, Humor hat sich in den letzten Jahrzehnten, insbesondere im letzten Jahrzehnt verändert. Das lässt sich auch an Seinfeld beobachten. Über manchen aus sexistischen oder rassistischen Klischees geborenen Seinfeld-Gag möchte man heute einfach nicht mehr lachen, aus gutem Grund. Andererseits war Seinfeld mit der Art und Weise, wie es die Figur der Elaine Benes anlegt, nämlich schlagfertig, Männern oft überlegen, dann aber auch wieder aufs Komischste scheiternd, den Frauenbildern vieler nachfolgender Formate weit voraus.

Sämtliche 180 Folgen der witzigsten aller Zeitreisen gibt es ab Oktober auf Netflix.

Netflixwoche Redaktion

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