Im Frühjahr 1963, als Bill Russell und seine Boston Celtics die sechste NBA-Meisterschaft gewinnen, veranstaltet die Stadt ein Dinner Russell zu Ehren. Die Honoratioren sprechen bewegende Worten über seinen Beitrag zum Titel und zur Gemeinschaft.

Ein paar Tage später will Russell ein größeres Haus in einem guten Viertel kaufen. Er wird abgewiesen, weil die Nachbarschaft Petitionen gegen ihn unterschreibt – die Nachbarn wollen nicht, dass hier ein Schwarzer einzieht.

Dies ist nur eine der unter die Haut gehenden Episoden aus der neuen zweiteiligen Netflix-Dokumentation Bill Russell: Legend. Sie entführt uns in eine Zeit, in der die NBA eine weiße Liga war. 1956, in Bill Russells erster Profi-Saison, ist er der einzige Schwarze bei den Celtics, in der ganzen Liga sind es 13. Auch im Publikum sitzen kaum People of Color. Von den Trainern und Clubbesitzern ganz zu schweigen, das sind ausnahmslos weiße Männer.

Im Sport geht es oft um die Frage, wer eine „Legende“, wer gar „The Greatest Of All Time“ (GOAT) ist. Aus aktuellem Anlass diskutieren darüber gerade wieder die Basketball-Fans: Am 7. Februar 2023 knackte Lebron James den fast 40 Jahre alten Punkterekord von Kareem Abdul-Jabbar. Seitdem werden Statistiken ins Feld geführt, die für oder gegen Michael Jordan, Lebron James, Kobe Bryant, Kareem „The Dream“ oder „Magic“ Johnson sprechen.

Eher selten fällt der Name Bill Russell. Tatsächlich sind seine individuellen Statistiken in vielen Rubriken nicht so spektakulär wie die der anderen Giganten. Russell war eher ein Meister der Defensive und des Passspiels, weniger der gefeierte Korbjäger. Dennoch zollen ihm alle Spieler den höchsten Respekt.

Der Herr der Ringe

Das liegt zum einen dann doch an einem sportlichen Rekord. Bill Russell hat mehr Championship-Ringe als Finger. Elfmal gewann er die NBA-Meisterschaft, das ist unerreicht. Michael Jordan hat sechs Ringe, LeBron James vier. Magic Johnson, angesprochen auf die Bedeutung Bill Russells: „Macht ihr Witze? Er war der herausragendste Gewinner der Basketballgeschichte!“

Der Respekt, der Bill Russell von jedem Spieler der nachfolgenden Generationen entgegengebracht wird, hat seine Gründe. Aber auch und vor allem abseits des Basketball-Courts, abseits von Statistiken über Punkte, Rebounds, Blocks und Siege.

Geboren wurde er 1934 im tiefsten Süden, Monroe, Louisiana. „Die Eltern meines Vaters waren noch versklavt“, erinnert sich Bill Russell in der Dokumentation.

Bill wächst auf in einer Apartheidsgesellschaft. Getrennte Schulen und Wohnviertel gehören ebenso zum Alltag wie Lynchmorde des Ku-Klux-Klan an Schwarzen. Sein Vater ist Fabrikarbeiter und hält es irgendwann nicht mehr aus, schlechter bezahlt und behandelt zu werden als die Weißen. „Wenn ich hierbleibe, bring ich einen von denen um oder sie mich“, sagt er dem neunjährigen Bill, packt seine Sachen und zieht mit seiner Familie nach Kalifornien.

Dort ist nicht alles gut, aber manches besser. „Wir kamen uns vor wie Einwanderer aus einem anderen Land“, erinnert sich Russell. Er kann zum ersten Mal in einem Bus sitzen, wo er will, die Schulen sind integrativ und er darf den gleichen Wasserspender benutzen wie die weißen Kinder.

Und er darf die Bücherei besuchen. Der junge Bill liest mehr, als dass er Basketball spielt. Mit dem Sport beginnt er vergleichsweise spät, sein Talent wird erst im letzten Highschooljahr entdeckt.

Der Beste, aber die „falsche“ Hautfarbe

Dann geht es rasant. 1956 spielt Russell im US-Olympiateam, das in Melbourne Gold gewinnt. Danach der erste Profivertrag bei den Boston Celtics. In der Mannschaft ist er schnell akzeptiert, in Boston dagegen bleibt er lange Zeit ungeliebt, trotz aller sportlichen Erfolge. Die meisten Journalisten sind weiß. Auf der Pressetribüne ist der Gebrauch des N-Worts Usus.

Man beschimpft und belästigt ihn und seine Familie. In sein Haus wird eingebrochen, mit Kot das N-Wort an die Wand geschmiert. Russell findet aufgrund seiner Hautfarbe nicht die Anerkennung, die ihm gebührt.

Er macht trotzdem weiter und tut das, was er kann: Gewinnen. Aber das reicht ihm nicht. Bill Russell ist kein Onkel Tom, der alles freundlich lächelnd hinnimmt. „Ich bin mein ganzes Leben rassistischen Vorurteilen begegnet. Überall. In Büchereien, im Fernsehen. In den Blicken der Leute. Ich war immer in der Defensive, wie im Basketball. Ich sehnte mich nach einer Offensive.“

An der Seite von Martin Luther King

Und diese Offensive findet er in der Bürgerrechtsbewegung, in der Russell als einer der wenigen Schwarzen Sportler aktiv wird. Er führt einen Demonstrationszug von Roxburry nach Boston an. Und ist an der Seite von Martin Luther King, als der den größten Marsch der Geschichte nach Washington DC organisiert. Als Reverend King ihn auf die Bühne holen will, winkt Russell bescheiden ab: „Andere hatten mehr für unsere Sache getan.“

Als der Schwarze Bürgerrechtsaktivist Medgar Evers 1963 ermordet wird, hilft Russell den Angehörigen und zeigt Mut: Er reist in die Höhle des Löwen – besser: der feigen Hyänen – nach Mississippi und veranstaltet dort Jugend-Camps für Kids aller Hautfarben.

Es ist immer noch eine Zeit, in der man mit solchen Aktionen sein Leben riskiert. Auch Russell erhält Morddrohungen. „Ich sterbe lieber für etwas, als für nichts zu leben“, sagt Russell.

Und geht seinen Weg weiter. „Wir müssen der weißen Bevölkerung Unbehagen bereiten. Das ist der einzige Weg, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.“ Prinzipientreu wirkte er auf manche mürrisch und finster. Ein unnahbarer und unangepasster Unruhestifter, der den Status quo unterminiert. Die, die ihn näher kennen, erwähnen aber immer sein lautes, herzliches Lachen.

Auch einer, der ihn richtig gut kannte, sieht das anders: „Bill Russell setzte sich für die Rechte und Würde aller Menschen ein. Er marschierte mit King. Er stand Muhammad Ali bei. Er ebnete so vielen nach ihm den Weg zum Erfolg.“

Das sagte Präsident Barack Obama, als er Bill Russell 2011 die Medal of Freedom verlieh, die höchste zivile Auszeichnung der Vereinigten Staaten. Die hat kein Michael Jordan, kein LeBron James.

Bill Russell starb am 31. Juli 2022 mit 88 Jahren. GOAT. Greatest Of All Time. Wichtig ist eben nicht nur auf dem Platz.

Netflixwoche Redaktion

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