Ein Ex-Profiler über die True-Crime-Serie Missing: Dead or Alive?

Columbia, South Carolina: Bevor Vicki Rains das unscheinbare Haus mit dem verwilderten Vorgarten betritt, ruft sie über Funk Verstärkung. Rains ist Polizistin. Abteilung: Vermisstenfälle. Ihr Job ist es, Menschen zu finden, die von einem auf den anderen Tag verschwinden. Oft ohne jede Spur.

Das Haus gehört einer 61-jährige Frau, die seit Tagen nicht mehr gesehen wurde – und einen Sohn hat, der sie angeblich schwer misshandelt. Die Nachbar*innen sagen: Er schlägt seine Mutter und sperrt sie regelmäßig ins Schlafzimmer ein, wenn sie ihm kein Geld gibt.

Ermittlerin Vicki Rains aus Missing: Dead or Alive?

Im Haus kommt Ranis und ihren Kolleg*innen ein penetranter Bleiche-Geruch entgegen. In den Zimmern stehen keine Möbel und die Teppichböden sind herausgerissen. So als würde hier schon lange niemand mehr wohnen. Doch dann entdeckt Ranis eine Tür. Sie ist mit einem Brett vernagelt, das so neu aussieht, als hätte es jemand erst gestern im Baumarkt gekauft. Ranis klopft dagegen und lauscht, ob jemand antwortet.

So beginnt Missing: Dead or Alive? Eine neue True-Crime-Serie auf Netflix über eine Polizeieinheit in den USA, die sich auf Vermisstenfälle spezialisiert hat. Doch wie wird eigentlich in Deutschland nach vermissten Personen gefahndet? Diese Frage haben wir dem deutschen Kriminalisten, Profiler und Autor Axel Petermann gestellt.

Netflixwoche: In Deutschland werden pro Tag 200 bis 300 Vermisstenfälle erfasst. Ist das eine niedrige oder hohe Zahl für ein Land wie Deutschland?

Axel Petermann: Wenn man die Zahl auf eine Gesamtbevölkerung von 80 Millionen Menschen bezieht, dann ist das relativ wenig. Aber wenn man sich die Einzelschicksale dahinter anschaut, finde ich die Zahl schon hoch. Pro Stunde verschwinden ungefähr zehn Menschen. Weil es ihnen vielleicht nicht gut geht, weil sie sich scheiden lassen wollen, weil sie eine Auszeit brauchen oder weil ein Unglück passiert ist. Ich habe bei dieser Statistik gemischte Gefühle.

Die meisten Vermissten kommen innerhalb einer Woche zurück oder werden gefunden.

Nur sehr wenige Menschen bleiben für immer vermisst. Und man sollte eine Sache bedenken: Viele Menschen verschwinden freiwillig. In Deutschland darf man den Ort frei wählen, an dem man leben möchte. Wer sich für eine gewisse Zeit verabschieden will, muss seine Familie und seine Freunde nicht darüber informieren. Das mag zwar moralisch nicht die feine Art sein. Aber es verstößt gegen kein Gesetz.

Kann man in einem Land wie Deutschland überhaupt abtauchen, wo man doch bei gefühlt hundert Behörden gemeldet sein muss? Beim Finanz- und Einwohnermeldeamt, bei der Krankenkasse, der Renten- und Pflegeversicherung?

Das ist in der Tat schwierig. Aber es gibt immer wieder Menschen, denen das gelingt. Man denke nur an den Fall der Petra. P.

Eine Informatik-Studentin aus Braunschweig, die 31 Jahre lang verschwunden war.

Genau. Sie ist 1984, kurz vor der Geburtstagsfeier ihres Bruders, spurlos verschwunden und wurde fünf Jahre später für tot erklärt. 2015 hat man sie durch einen Zufall wiedergefunden. Sie lebte in Düsseldorf unter einem falschen Namen. Als bei ihr in der Wohnung eingebrochen wurde, hat sie sich den Polizisten als die vermisste Petra P. zu erkennen gegeben.

Vicki Rains und ein Kollege befragen in Missing: Dead or Alive? einen Passanten.

Gerade bei Langzeit-Vermisstenfällen wird eine Perspektive oft vergessen: die der Angehörigen. Sie leiden unter der Ungewissheit.

Die Angehörigen müssen viel Leid miterleben. Familien können an Mord- und Vermisstenfällen zerbrechen. Viele Angehörige flüchten sich in Süchte. Sei es Kaufrausch, Alkohol oder Spielsucht.

Als Angehöriger ist man auch ein Opfer der Tat.

Ja, aber dieser Status wird den Angehörigen oft nicht zuerkannt. Es ist auch gar nicht so einfach, einen Anwalt zu finden, um als Nebenkläger in einem Verfahren aufzutreten. Vor allem, wenn man wenig Geld hat. Oder dafür zu sorgen, dass ein Vermisstenfall noch einmal untersucht wird, wenn er lange zurückliegt. Da müssen wir in Deutschland einfach mehr tun. Auch deswegen bin ich Schirmherr im ANUAS eV. Das ist eine Hilfsorganisation, die sich für Angehörige von Tötungsdelikten, Suiziden und Vermisstenfällen einsetzt.

In Deutschland leitet die Polizei erst dann eine Vermisstenfahndung ein, wenn eine Gefahr für Leib und Leben angenommen werden kann. Das klingt schwer zu beweisen. Ist dieses Kriterium zu hart?

Wenn Kinder  unter 14 Jahren verschwinden, sind sie sofort als vermisst anzusehen. Man geht automatisch von einer Gefahr aus. Bei Erwachsenen ist das anders.

Weil sie ihr Leben selbst bestimmen können?

Genau. Bevor die Polizei eine Vermisstenfahndung aufnimmt, muss sie feststellen, ob man tatsächlich von einer Gefahr für Leib und Leben ausgehen kann. Dafür müssen sich die Beamten ausführlich mit der Persönlichkeit der vermissten Person auseinandersetzen.

Wie genau?

Man versucht herauszufinden, was der Grund für das Verschwinden sein könnte. Dafür befragt man das Umfeld der vermissten Person: die Eltern und die Partner, die Freunde und die Arbeitskollegen. Denn oft gibt es nicht so erfreuliche Gründe für ein Verschwinden. Manche Menschen führen etwa ein Doppelleben und haben noch eine zweite Familie.

Eine Ermittlerin aus Missing: Dead or Alive? bei der Arbeit.

In Missing: Dead or Alive? sagt eine Ermittlerin an einer Stelle: „Man versucht die ganze Zeit, jemanden kennenzulernen, der nicht da ist. Die Vermissten werden zu einem Freund, den man retten will.“ Wie ging es Ihnen bei der Recherche zu Ihrem neuen Buch Im Auftrag der Toten?

In dem Buch bin ich ungeklärten Mordfällen nachgegangen. Klar, möchte ich da so viel wie möglich über die Opfer erfahren. Aber eine solche Nähe würde ich nicht zulassen. Je mehr man sich mit einer Person identifiziert, desto vernebelter kann der Blick auf die Umstände werden.

Wie meinen Sie das?

Dafür muss ich ein bisschen ausholen. In der ersten Fallgeschichte in meinem Buch geht es um eine junge Frau, die nach Athen gezogen ist, weil sie sich dort in einen Musiker verliebt hat. Doch irgendwann hat sie sich von ihm getrennt. Kurz bevor ihr Freund für drei Monate nach Kreta musste, ist sie nochmal in die Wohnung gegangen, um ein paar Sachen zu holen. Der Freund behauptet: Sie hätten sich gestritten und er sei abgehauen. Doch Tage später hat man die Frau erhängt in der Wohnung gefunden.

Die griechischen Behörden sind von einem Suizid ausgegangen. Doch die Eltern der Frau glauben: Der Freund hat ihre Tochter nach dem Streit getötet.

Genau. Für meine Recherchen habe ich versucht, die Frau kennenzulernen. Dafür habe ich mit möglichst vielen Auskunftspersonen gesprochen: mit den Eltern, mit ihrem Freund auf Kreta, mit der Hausverwalterin, die die Frau in der Gerichtsmedizin identifiziert hat. So eine Vielfalt ist wichtig. Denn die Mutter wird mir ein anderes Bild von ihrer Tochter vermitteln als eine Freundin der Frau. Man bekommt immer selektive Antworten auf seine Fragen. Ich vergleiche das gerne mit einer Litfaßsäule.

Einer Litfaßsäule?

Da sind viele Plakate mit vielen Informationen drauf. Aber abhängig von meinem Standpunkt sehe ich immer nur einen Ausschnitt dieser Informationen. Doch wenn ich eine Gruppe von Menschen habe, die im Kreis um die Säule steht, und ich all diese Menschen nach ihren Impressionen befrage, dann habe ich ein komplettes Bild davon, was auf der Litfaßsäule zu sehen ist.

Durch Ihre Recherche in Griechenland kamen Sie zu dem Schluss, dass viel für einen Mord spricht. Die Athener Staatsanwaltschaft will sogar die Ermittlungen wieder aufnehmen.

Ja, dafür sprechen nicht nur die Blutspuren, die am Tatort gefunden wurden. Es gibt auch viele andere Dinge, bei denen man sich fragt: Warum ist das so? Die Frau wurde etwa schon nach drei Tagen beigesetzt und die Eltern haben erst danach vom Tod ihrer Tochter erfahren.

Eine Ermittlerin aus Missing: Dead or Alive? bei der Spurensuche.

In Missing: Dead or Alive sagt eine Ermittlerin: „Ich habe mit der Zeit gelernt, dass man nie weiß, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln. Es ist normal, dass das Gehirn zuerst in eine Richtung denkt, aber es darf dort nicht verharren. Denn so irrt man sich.“

Ja, das ist gefährlich. Ich habe mal einen Mann über 20 Jahre zu Unrecht als Mörder verdächtigt. Ich habe gedacht: Der muss es gewesen sein. Alles, was dagegen sprach, habe ich beiseite geschoben. Damit bin ich kräftig auf die Nase gefallen. Seitdem versuche ich, die Informationen, die mir der Tatort bietet, möglichst genau und sachlich zu interpretieren und alle Theorien gleichberechtigt zu betrachten.

In Missing: Dead or Alive denken die Ermittlerinnen  und Ermittler auch nach Feierabend über die Fälle nach. Sie sagen Sätze wie: „Jede Stunde zählt.“ Und: „Ihr Leben hängt von uns ab.“ Kann man irgendwann nicht mehr abschalten?

Gerade bei Tötungsdelikten konnte ich schlecht abschalten. Ich habe die Fälle mit nach Hause genommen, mit in den Schlaf und in meine Träume. Und wenn ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, war es das erste, woran ich gedacht habe.

Das klingt belastend.

Es ist wirklich ein Problem. Andere mögen besser abschalten können. Ich konnte das erst, wenn sich der Fall aufgeklärt hat.

Axel Petermann

Axel Petermann, Jahrgang 1952, ist zertifizierter Fallanalytiker (Profiler), Kriminalist und Bestsellerautor. Nachdem er sich mit den FBI-Methoden des Profilings auseinandergesetzt hat, hat er 2000 die Dienststelle „Operative Fallanalyse“ aufgebaut, die er bis zu seiner Pensionierung 2014 geleitet hat. Seit seiner Pensionierung beschäftigt er sich mit der Aufklärung von ungeklärten Todesfällen, sogenannten Cold Cases.

Lennardt Loss, Netflixwoche

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