Transatlantic: Die wahre Geschichte von Varian Fry und dem Emergency Rescue Committee
- 14.4.23
Sechs Uhr morgens, am Hafen von Marseille: Albert und Lisa Hirschman haben es fast geschafft, vor den Nazis zu fliehen. „Es läuft folgendermaßen: Dieses Boot fährt Sie zum Frachtraum des Schiffes,“ sagt ein Hafenarbeiter hektisch auf französisch. „Unsere Leute zeigen Ihnen dann Ihr Versteck, verstanden?“
Eine reiche Amerikanerin hat den Arbeiter geschmiert, damit er die beiden als blinde Passagiere auf ein Schiff nach New York lässt. Das Beiboot legt ab. Aber dann: Polizeisirenen. Die französische Polizei verhaftet alle jüdischen Geflüchteten. Die Behörden haben einen neuen Deal mit Deutschland: Sie liefern alle Verfolgten des Nazi-Regimes aus.
Aber es ist noch nicht alles verloren: Mary Jayne Gold, die Amerikanerin, ist auf dem Weg zu Albert und Lisa Hirschman. Sie hat noch jede Menge Schmiergeld und eine Mission. Mary Gold ist Teil des Emergency Rescue Committee, einer Organisation, die 1940/41 versucht, jüdische Geflüchtete vor den Nazis in Sicherheit zu bringen.
Die Szene stammt aus der neuen Serie Transatlantic. Hirschman, Gold und das Emergency Rescue Committee hat es wirklich gegeben. Mit dem Leiter der Organisation, Varian Fry, haben sie über 2.000 Menschen auf legale, illegale und immer einfallsreiche Arten gerettet. Unter den Geretteten: berühmte Intellektuelle und Künstler*innen wie Max Ernst, Hannah Arendt und Walter Benjamin.
Anna Winger ist die Drehbuchautorin und Produzentin von Transatlantic. Im Netflixwoche-Interview erklärt sie, warum sie der historische Stoff so begeistert: „Ich bin in Cambridge, Massachusetts aufgewachsen. Dort gab es Akademiker, die in den 1930er und 1940er Jahren aus Europa geflüchtet sind und ihre Geschichten erzählt haben“, sagt Winger: „Manche von ihnen kannten Varian Fry persönlich.“
Die inspirierende Geschichte des Emergency Rescue Committee hinter Transatlantic kennt fast niemand in Deutschland. Was ist Fakt, was Fiktion? Das ist die wahre Geschichte hinter der Netflix-Serie.
Was war das Emergency Rescue Committee?
Das Emergency Rescue Committee (ERC) wird 1940 in New York gegründet. Kurz vorher ist die Wehrmacht in Frankreich eingefallen und hat das Land zur Kapitulation gezwungen. Die Lage in Europa wird für die Verfolgten des Nazi-Regimes plötzlich deutlich gefährlicher.
Das Vichy-Regime in Südfrankreich geht ein Abkommen mit Deutschland ein: Die französischen Behörden nehmen Menschen fest, die die Nazis verfolgen, und liefern die Geflüchteten aus. Menschen, die sich in Frankreich vor den Nazis verstecken, können plötzlich nicht mehr weg, weil die Grenzen kontrolliert werden.
Das Emergency Rescue Committee wird ursprünglich gegründet, um Intellektuellen und Künstler*innen zu helfen, in die USA zu flüchten. Die damalige First Lady Eleonore Roosevelt nutzt ihren Einfluss, um Notfall-Visa für verfolgte Intellektuelle auszustellen. Aber als die Verantwortlichen die Notlage vor Ort in Marseille sehen, versuchen sie auch vielen anderen Menschen zu helfen, die nicht auf ihrer Liste stehen.
Das Emergency Rescue Committee besteht damals aus vielen wichtigen Helfer*innen, die einen großen Unterschied machen. Die drei historischen Figuren im Mittelpunkt der Serie Transatlantic sind Varian Fry (Cory Michael Smith), Mary Jayne Gold (Gillian Jacobs) und Albert Hirschman (Lucas Englander). Ihre unterschiedlichen und faszinierenden Geschichten zeigen, wofür das ERC steht: Mut und Mitgefühl.
Wer war Varian Fry?
Varian Fry ist ein New Yorker Journalist. Er wird 1907 in einen liberalen protestantischen Haushalt geboren. Zwei Jahre nachdem die Deutschen Hitler zum Reichskanzler gewählt haben, geht er nach Berlin. Er will sich ansehen, wie sich Deutschland unter dem Einfluss der NSDAP verändert. Darüber berichtet er in amerikanischen Magazinen.
Die New York Times zitiert 1935 Frys Beobachtungen einer antisemitischen Demonstration: „Den ganzen Kurfürstendamm entlang hörte man die Menge im Chor ‚Jude‘ schreien“. Fry sieht dort, wie Menschen gejagt werden, weil man sie für jüdisch hält, während die Polizei daneben steht: „Ich sah, wie ein Mann brutal getreten und bespuckt wurde, eine Frau, die blutete.“ Seine schrecklichen Beobachtungen prägen Fry. Sie motivieren ihn, selbst gegen den Nationalsozialismus aktiv zu werden.
Als die Wehrmacht im Sommer 1940 Paris einnimmt, versammelt Fry wichtige Figuren der Kulturbranche und jüdische Geflüchtete aus Europa in einem New Yorker Hotel. Bei dem Treffen wird das Emergency Rescue Committee gegründet. Das neue Komitee brauchte jemand, der alles vor Ort in Marseille regelt – und Fry meldete sich freiwillig. Am 4. August 1940 fliegt er nach Südfrankreich. Geplant für drei Wochen. Am Ende bleibt Fry dreizehn Monate.
Die Serie Transatlantic zeigt Fry als sehr sachlichen, korrekten Typen, der es erstmal unbedingt vermeiden will, bei Rettungsaktionen die Regeln zu brechen. Der echte Fry scheint rebellischer und leidenschaftlicher zu sein: Auf Internaten eckt er an. Während seines Studiums wird er kurzzeitig der Harvard Universität verwiesen.
Seine Biografin Sheila Isenberg beschreibt Fry so: „Er war gerade heraus und undiplomatisch, aber auch oft sorgenvoll und launisch.“ Sein Antrieb: eine leidenschaftliche antifaschistische Überzeugung und seine Liebe zu Kunst und Kultur.
Varian Fry und sein Privatleben
In Transatlantic hat Varian Fry eine Liebesaffäre mit einem anderen Mann. Gut möglich, dass Fry schwul oder bisexuell war. Kürzlich wurde dies in der New York Times diskutiert. Er heiratete zweimal Frauen, hat drei Kinder.
Sein Sohn James D. Fry schreibt über die sexuelle Orientierung seines Vaters in einem Leser*innenbrief an die New York Times: „Mein Vater war wirklich ein verkappter Homosexueller.“ Und dann folgt der schöne, wahre Satz. „Ich verstehe aber nicht, wie die Homosexualität meines Vaters die moralische Klarheit seines Anliegens trüben sollte.“
Welche Rolle spielte die amerikanische Regierung?
Das ERC steht unter ständiger Überwachung. Den USA gefällt die Arbeit der Organisation nicht. Denn sie gefährde die Beziehung zu Frankreich und die „Neutralität“ der Vereinigten Staaten.
1941, etwa ein Jahr nach Gründung des ERC, wird Fry von den französischen Behörden verhaftet und des Landes verwiesen. Er kehrt in die USA zurück und schreibt in verschiedenen Medien über seine Erfahrungen.
Fry stirbt 1964 in Connecticut. 1994 verleiht die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Varian Fry als erstem Amerikaner den Titel „Gerechter unter den Völkern“.
Wer war die echte Mary Jayne Gold?
Mary Jayne Gold war Erbin einer reichen Familie aus Chicago. Wie viele privilegierte Kinder besucht sie ein europäisches Internat. Sie wird Pilotin und verkehrt in den 1930ern in der Künstler*innenszene von Paris.
In der Zeit der Invasion Frankreichs hört sie von Varian Frys Hilfsarbeit in Marseille und spendet sofort 5.000 Dollar ihres eigenen Geldes an die Organisation. Sie entscheidet: Sie will sich Fry anschließen, statt in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Sie wird ein Teil des ERC.
Dabei setzte sie immer wieder ihr eigenes Leben aufs Spiel: Sie überbringt geheime Nachrichten, besticht Beamte, schmuggelt Geflüchtete. Aber auch Golds finanzielle Unterstützung ist entscheidend für den Erfolg des ERC: Sie finanziert privat die Flucht vieler jüdischer Europäerinnen und mietet mit ihrem Erbe das Hauptquartier des ERC: die Villa Air-Bel. In ihren Memoiren schreibt sie: „Ich war nicht da, um das Schlimmste zu bezeugen, nur die Anfänge.“
Die US-amerikanische Autorin Meg Waite Clayton schreibt in den 1990ern ein Buch, das auf den Kriegserinnerungen Golds basiert. Clayton stellt in der Chicago Tribune fest: „Sie hätte in ihrer Villa leben und jeden Tag Filet Mignon essen können, aber sie entschied sich zu bleiben und zu handeln.“
Clayton erwähnt auch, dass Frauen wie Gold in dieser Zeit nicht genug Anerkennung für ihre heldenhaften Taten bekommen haben. Deshalb ist sonst auch relativ wenig über Gold bekannt.
Wer war Albert Hirschman?
An Albert Hirschman erinnert man sich heute vor allem als Ökonom und Autor wissenschaftlicher Bücher. Hirschman wird in eine wohlhabende jüdische Familie in Berlin geboren. Er verlässt Deutschland schon 1933 und studiert in Frankreich, Italien und England. Er kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg und stellt sich gegen Mussolini.
1940 kann er mit gefälschten Papieren von Paris nach Marseille flüchten. Dort wird er schnell Frys „rechte Hand“. Zusammen mit der österreichischen Sozialistin Lisa Fittko bringt er Geflüchtete über eine Pyrenäen-Route über die spanische Grenze in Sicherheit.
Nachdem das ERC 1941 aufgelöst wird, flüchtet Hirschmann in die USA. Dort hat er eine beeindruckende wissenschaftliche Karriere vor sich: Bis zu seinem Tod im Jahr 2012 lehrt er Ökonomie an US-amerikanischen Eliteuniversitäten wie Harvard und Princeton.
Wie ist das ERC vorgegangen und was hat es erreicht?
Die ESC unterstützt Verfolgte auf viele Arten: Die Freiwilligen besorgen Papiere, bezahlen Visa, schmieren Beamte, tüfteln an Fluchtrouten. Und in der Villa Air-Bel wartet Verpflegung und Unterschlupf auf die Geflüchteten. Auch diplomatische Beziehungen zum Beispiel zum amerikanischen Konsul sind ein wichtiger Bestandteil der Hilfsarbeit.
Varian Frys erste Mission als er in Marseille ankommt: Die deutschen Schriftsteller Thomas Mann, Franz Werfel und ihre Familien aus Frankreich herausbringen, obwohl sie kein Einreisevisum für Spanien haben. Sie gehen so vor: Fry nimmt den Zug nach Spanien – mit dem ganzen Gepäck der Familien. Zur gleichen Zeit nehmen die Geflüchteten einen abgelegenen Pfad über die Pyrenäen, um keinen Grenzbeamten zu begegnen. Und sie sind erfolgreich: In Spanien treffen sie Fry, fahren weiter nach Lissabon und steigen dort auf ein Schiff in die Vereinigten Staaten.
Fry arbeitet zuerst von einem Hotelzimmer im „Splendid“ aus, mietet zeitweise ein Büro. Und schließlich zieht das ERC mit Hilfe von Mary Jayne Gold in die Villa Air-Bel außerhalb von Marseille. Dort versammeln sich Mitarbeiter*innen wie der österreichische Künstler Bill Spira und die amerikanische Malerin Miriam Davenport.
Das ERC hilft zwischen 1940 und 1941 etwa 2000 Menschen, vor den Nazis zu flüchten. Unter ihnen sind Künstler*innen und Schriftsteller*innen, aber auch unzählige andere Menschen, die sonst nach Deutschland deportiert worden wären.
Emeli Glaser, Netflixwoche