Wer kennt nicht die schwarz-weiße Zeichnung: eine optische Illusion, bei der man immer entweder das Gesicht einer alten Hexe sieht oder das einer jungen Frau. Die alte Hexe trägt ein Tuch über dem Kopf, auf ihrer Hakennase thront eine Warze und ihr trauriger Blick ist nach unten gesenkt. Die junge Frau hingegen hat zarte Gesichtszüge, dichtes Haar, an ihrem Hals liegt eine elegante Kette. Von wann dieses Bild stammt, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass sich seine Interpretation mit der Zeit verändert hat: Inzwischen ist nicht mehr die Frage: alte Hexe oder junge Frau? Stattdessen könnte sie auch lauten: alte Frau oder junge Hexe?
Denn die Hexe erlebt in der Popkultur seit einigen Jahren ein Comeback – und zwar nach einem kompletten Makeover. Spätestens seit Emma Watson als Hermine Granger in Harry Potter wissen wir, dass Hexen auch clever und jung sein können. Dass sie nicht immer weiblich sind, sondern auch ziemlich männlich sein können, wie Henry Cavill in der Fantasy-Serie The Witcher. Oder so normal wie du und ich und Sabrina in Chilling Adventures of Sabrina.
Oder sogar prinzessinnengleich: Wie Sophie, eine der beiden Hauptfiguren im neuen Film The School for Good and Evil. Sophie hält sich zwar für eine angehende Prinzessin – scheint jedoch mehr Potenzial zur Hexerei zu haben, trotz blonder Haarpracht und wallenden Kleidern. Ihre beste Freundin Agatha hingegen – lumpige Klamotten, grimmige Miene – landet in der Schule für die Guten und wird fortan von kleinen Feen auf ihrem Weg zur Prinzessin begleitet. Beide waren zuvor noch normale Mädchen in einem normalen Dorf – und finden sich plötzlich in Gemäuern voller Magie wieder.
Wischt man sich durch TikTok und Instagram, merkt man, wie sich die Grenzen zwischen Normalität und Magie auch im echten Leben in Zauberstaub auflösen. Zwischen Acai-Bowls und Bully-Roadtrips räuchern Influencer*innen heute Kräuter und legen sich gegenseitig Tarotkarten.
#WitchTok: Was ist Magie?
In ihren Bios stehen Beschreibungen wie „BabyWitch“ oder „FeministWitch“. Die selbst ernannten Hexen, die sich zum Beispiel unter dem Hashtag #WitchTok auf der Videoplattform TikTok sammeln, sind sich sicher: Zaubern, das können wir. Wenn auch vielleicht nicht im Sinne der direkten Wunscherfüllung à la Bibi Blocksberg: „Hex hex!“ – und plötzlich steht das neue Fahrrad vor der Tür.
Stattdessen geht es den Hexen auf Social Media vor allem um Rituale, in denen sie Wünsche für ihr Leben manifestieren. Sie mischen Zutaten in kleine Gefäße, fügen handgeschriebene Zettel oder Fotos hinzu, sprechen Zaubersprüche. Und geben ihr Wissen weiter, an diejenigen, denen ihre Videos zufällig in den Feed gespült werden. Einen Zugang zu dieser Welt zu finden fällt Interessierten leichter als je zuvor, dank TikTok-Algorithmus. So gewinnt die magische Community immer mehr Mitglieder.
Hexen sind heute Feministinnen
Abgesehen vom Inhalt unterscheiden sich die kurzen Videos auf WitchTok übrigens gar nicht so sehr von dem ganz normalen Content auf der Plattform: Die Creators sind extrem divers, auch sie legen die immer gleichen aktuell trendenden Sounds unter ihre Videos, sie tanzen, sind selbstironisch.
Und: Sie sind Feminist*innen. Sie feiern sich, feiern die Selbstliebe. Jemand anderem Schaden zufügen? Darum geht es schon lange nicht mehr. Eine Hexe zu sein bedeutet einfach, das Leben durch die innere Kraft selber in die Hand zu nehmen. Die Hexen sind angekommen im 21. Jahrhundert. Sie sind modern. Sie sind Vorbilder. Oder waren sie vielleicht nie etwas anderes?
In Märchen und Geschichten sind Hexen seit jeher der Inbegriff des Düsteren: Sie stecken kleine Kinder in Holzöfen, fliegen durch die Finsternis der Nacht, brauen Zaubertränke aus giftigen Kräutern. Selbst in dem Filmklassiker Hexen hexen von 1990 und dem Remake von 2020 mit Anne Hathaway haben die Hexen zwar schon eine elegante Gestalt, führen aber Böses im Schilde: Alle Kinder in Mäuse zu verwandeln und dann zu erschlagen. Doch im echten Leben waren die Hexen selbst tragische Figuren, die unter Verfolgung gelitten haben.
Das veraltete Bild der Hexe
Hexen, oder jedenfalls Frauen, die von anderen als solche bezeichnet werden, wurden auf der ganzen Welt verfolgt und werden es teilweise bis heute noch. Der Höhepunkt der Hexenverfolgung in Deutschland war zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert, als die Menschen von Klimaveränderungen und Seuchen heimgesucht wurden und dafür nach Sündenböcken gesucht haben. All das Unheil konnte man sich nur mit Schwarzer Magie erklären.
Wer oder was eine Hexe war, wurde damals von Männern definiert. Oft waren es Heilerinnen, Frauen, die im Einklang mit der Natur lebten oder gegen die Norm: Witwen, kinderlose oder alleinstehende Frauen. Und tatsächlich werten viele Gesellschaften diese Typen bis heute ab.
Dass die modernen Hexen der Popkultur den Begriff der Hexe neu beschreiben, ihn richtigstellen, ihn endlich für sich selbst beanspruchen, ist mehr als überfällig. Und vielleicht werden in der School for Good and Evil die Hexen ja irgendwann sogar für die „gute“ Seite ausgebildet.
Netflixwoche Redaktion