The Billion Dollar Code: Die wahre Geschichte hinter der Netflix-Serie

Als Google Earth 2005 erschien, war es eine Sensation. Nutzer*innen konnten die digitale Erdkugel nach Belieben drehen und frei in jeden Ort der Welt hineinzoomen. Doch: Rund zehn Jahre vor Google Earth gab es 1994 schon ein deutsches Programm, das genau das alles auch konnte: Terra Vision.

Die neue Netflix-Serie The Billion Dollar Code erzählt die Geschichte der Erfinder von Terra Vision: Künstler Carsten Schlüter und Programmierer Juri Müller versammeln im Nach-Wende-Berlin der Neunziger eine Gruppe Kunstschaffende und Hacker*innen um sich, um das damals scheinbar Unmögliche zu realisieren. 

Mit Erfolg, ihre Präsentation auf der Technikmesse ITU in Tokyo 1994 ist ein Triumph. Als dann Google 2005 das Programm Google Earth veröffentlicht, sind sich die Berliner*innen sicher, dass ihr Algorithmus dafür benutzt wird. Sie verklagen den Tech-Konzern schließlich – und scheitern.

Es ist eine Geschichte, die zu unfassbar klingt, um ausgedacht zu sein und tatsächlich basiert The Billion Dollar Code auf wahren Begebenheiten. Die Frage, die sich beim Anschauen der vier Episoden immer mehr aufdrängt: Wo weicht die Erzählung aus dramaturgischen Gründen von der wahren Geschichte ab?

Die echten Carsten Schlüter und Juri Müller

The Billion Dollar Code beginnt mit dem Kennenlernen der beiden Protagonisten Carsten Schlüter (Leonard Schleicher / Mark Waschke) und Juri Müller (Marius Ahrendt / Misel Maticevic). Der eine ein extrovertierter Kunststudent, der andere ein in sich gekehrter Computer-Nerd. Leider hat es einen Carsten oder Juri nie gegeben. 

Die Macher der Serie – Produzent Oliver Ziegenbalg, Regisseur Robert Thalheim und Koproduzent Andreas Banz – entschieden sich dazu, alle Figuren zu fiktionalisieren. So müssen sie nicht jede*n einzelne*n Beteiligte*n von damals nennen. Niemand wird benachteiligt, niemand falsch charakterisiert.

Eigentlich haben Terra Vision nämlich vier Personen entwickelt, die zwei Künstler Joachim Sauter und Gerd Grüneis sowie die beiden Programmierer Axel Schmidt und Pavel Mayer. Um sich auf nur zwei Charaktere zu fokussieren und deren Freundschaft besser herausarbeiten zu können, wurden die vier realen Personen in diese zwei Serien-Figuren adaptiert.

Die Showrunner führten sechs Monate lang Interviews mit den Erfindern, um wirklich alle Details richtig darzustellen. Seien es nun bestimmte gemietete Autos, authentische Kleidung oder persönliche Musikgeschmäcker, alles sollte stimmen. 

Da sie im Berlin der Gegenwart keine passenden Orte mehr gefunden haben, um das Berlin der frühen 1990er wieder aufleben zu lassen, wurde die Serie in Budapest gedreht. Dort habe man eine „ähnliche Bausubstanz, die noch aussieht wie die am Prenzlauer Berg damals“ gefunden, erzählt Regisseur Robert Thalheim.

Von der Idee zu Terra Vision

In The Billion Dollar Code zeigt Juri seinem neuen Kumpel Carsten auf dem Hochleistungsrechner Onyx Reality Engine sein aktuelles Projekt. Er hat eine Erdkugel programmiert, die sich frei drehen und bewegen lässt. Carsten ist begeistert und spinnt weiter, wie toll es doch wäre, wenn man jetzt noch an jeden Ort heranzoomen könnte. 

Tatsächlich hat Programmierer Axel Schmidt diese Kugel entwickelt. Damals war er schon mit den anderen bei der Berliner Designagentur Art+Com tätig. Nachdem der Onyx-Rechner ankam, hatten alle anderen zu viel Respekt vor der leistungsstarken, aber auch eine halbe Million D-Mark teuren Maschine. Da Schmidt  jedoch keinen eigenen Computer besaß, setzte er sich schließlich an den Onyx.

Er programmierte nicht nur die Kugel, sondern fand auch heraus, wie er Satellitenbilder in Echtzeit auf ihr darstellen konnte. Als er das den anderen zeigte, waren sie ähnlich begeistert wie Carsten in der Serie. Die Idee von Terra Vision war geboren. 

Ähnlich wie Juri stand auch Axel vor dem Problem der Wackler, die beim Heranzoomen an den Globus auftraten, konnte es aber nicht erst nach einem Zusammenbruch und Besuch im Krankenhaus lösen, sondern mit ein paar Tricks. Nach diesem Durchbruch half ihm Pavel Mayer beim Weiterarbeiten.

Die Technikmesse in Kyōto 1994

Wie auch in The Billion Dollar Code finanzierte die Telekom das Projekt. Bei den Gesprächen dazu fiel sogar der, aus heutiger Sicht absurde Satz: „Wir glauben nicht, dass das Internet sich in Deutschland durchsetzt, es wird im Großen und Ganzen auf die Universitäten beschränkt bleiben.“ Produzent Oliver Ziegenbalg sagt dazu, dass ihm Programmierer Pavel Mayer beim Interview diese Worte quasi direkt ins Drehbuch diktiert habe. 

Das Team von Art+Com hatte – wie Juri und Carsten – nur ein Jahr Zeit, ihr Terra Vision fertigzustellen und es auf der Technikmesse ITU in Kyōto zu präsentieren. Dass das Programm erst bei dieser Präsentation wirklich funktionstüchtig war, ist kein spannender Kunstgriff sondern ist wirklich so passiert – genauso wie der Tsunami, der beim Anflug auf Kyōto wütete. 

Als Steuerelement für ihr Programm nutzten die Erfinder eine große Kugel als Globus, die frei gedreht werden konnte. Durch die „Space Mouse“ konnten Interessierte näher heranzoomen – genau wie es in The Billion Dollar Code im Finale der ersten Folge passiert.

Nach der erfolgreichen Messe reiste das Team um die Welt und führte das Programm noch auf mehr als 80 weiteren Präsentationen vor. Selbst der damalige US-Vizepräsident Al Gore soll sich begeistert von Terra Vision gezeigt haben.

Doch all die vielen Augenzeug*innen und prominenten Tester*innen nutzen ihnen nichts: Art+Com verklagte Google 2014 wegen Patentverletzung. Alle Sätze in der Serie, die während der Prozess-Szenen fallen, finden sich in den Gerichtsakten wieder. Allein um das Erzähltempo zu erhöhen, wurde einzelne Sätze aus den 3.000 Seiten neu zusammengefügt.

Programmierer Axel Schmidt zufolge, war es ihr mindestes Ziel gewesen, als Erfinder des Algorithmus genannt werden zu müssen, doch nach dem Ende des Prozesses standen er und seine Mitstreiter*innen mit leeren Händen da. Sicher trägt The Billion Dollar Code jetzt dazu bei, die wahre Leistung der Berliner Computer-Pioniere zu würdigen.

Netflixwoche Redaktion

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