„Irgendwann gibt es einen Point of no Return“: Kriminalpsychologin Lydia Benecke über Wirecard
- 25.9.22
1,9 Milliarden Euro, die wahrscheinlich nur auf dem Papier existiert haben: Die neue Netflix-Doku Skandal! Der Sturz von Wirecard rekonstruiert den größten Finanzskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zum Start der Doku haben wir ein Interview mit der Kriminalpsychologin und Autorin Lydia Benecke (39) geführt, die gerade ein Buch über Betrüger*innen und Hochstapler*innen schreibt. Wir wollten von ihr wissen: Wie ticken solche Menschen? Und wie kann man sich vor ihnen schützen? Ein Gespräch über Lügen, Manipulation und eine Erkenntnis von Dr. House.
Netflixwoche: Betrüger*innen und Hochstapler*innen halten ein gigantisches Lügenkonstrukt manchmal über Jahre hinweg am Leben. Ist das nicht irre stressig?
Lydia Benecke: Das kommt darauf an. Bei manchen Menschen ist so ein Lügenkonstrukt eher eine fortschreitende Entwicklung in ihrem Leben. Sie erzählen eine Notlüge, um etwa unangenehme Konsequenzen zu vermeiden. Oder eine Lüge, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Und dann folgt noch eine Lüge, um die ursprüngliche Lüge zu stabilisieren. Das Lügen wird zum Selbstläufer. Und dann gibt es irgendwann einen Point of no Return.
Das Lügenkonstrukt ist so groß geworden, dass man immer weiter lügen muss.
Lydia Benecke: Genau. Es gibt aber auch Menschen, die sagen: „Ich hatte von Anfang an einen Plan. Um diesen Plan zu verwirklichen, habe ich Menschen manipuliert und bestimmte Dinge getan.“ Oft haben diese Menschen nur wenig Angst vor negativen Konsequenzen. Und sind davon überzeugt, dass sie den anderen überlegen sind.
An einer Stelle in „Skandal! Der Sturz von Wirecard“ sagt jemand: „Betrüger bedienen die Sehnsüchte von Menschen.“ Betrüger*innen müssen ihr Gegenüber also perfekt lesen können?
Lydia Benecke: Jeder Mensch mag es, wenn andere sagen: „Du bist toll! Was du machst, was du kannst, wie du bist, ist toll.“ Manipulative Menschen nutzen das aus. Sie geben uns das Gefühl, dass wir etwas Besonderes sind. Und bringen uns so dazu, etwas für sie zu tun. Dabei ist es egal, ob sie vorhaben, einen Finanzbetrug zu begehen oder eine Sekte zu gründen. Die Mechanismen der Manipulation sind in vielen Bereichen frappierend ähnlich.
Sind Betrüger*innen und manipulative Menschen überdurchschnittlich intelligent?
Lydia Benecke: Nicht zwangsläufig. Eine gute intellektuelle Ausstattung ist sicherlich von Vorteil. Aber die meisten Manipulationen funktionieren nicht durch die super intellektuelle Geschichte, die verkauft wird. Sondern fast ausschließlich über die emotionale Schiene. Manipulative Menschen schaffen Vertrauen. Sie stellen eine persönliche Ebene her. Und sie sorgen dafür, dass ihr Gegenüber sich angenommen und wohl fühlt. Doch in dem Moment, wo emotionales Vertrauen herrscht, sind wir Menschen nicht mehr so kritisch wie vorher.
Und um Vertrauen zu schaffen, braucht man keinen überdurchschnittlichen IQ?
Lydia Benecke: Genau. Umgekehrt denken aber viele Menschen: „Wenn ich gebildet bin, werde ich niemals auf eine Person hereinfallen, die mich manipulieren und ausnehmen will.“ Doch das ist ein Selbstbetrug. Wenn eine Person positive Emotionen schafft, betrachten wir die Situation nicht mehr sachlich. Wir sind nun mal soziale Wesen und funktionieren in unserem Miteinander sehr stark über Emotion.
Wie kann man sich vor manipulativen Menschen schützen?
Lydia Benecke: Zunächst einmal sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass wir alle manipulierbar sind, wenn wir uns von einem Menschen angenommen und aufgewertet fühlen.
Aber das ist doch erstmal nichts Schlechtes: sich wohlfühlen?
Lydia Benecke: Nein, natürlich nicht. Problematisch wird erst, wenn die Person plötzlich etwas von uns fordert, bei dem wir merken: „Eigentlich fühle ich mich damit nicht wohl. Aber ich möchte die Person nicht enttäuschen, weil ich mit ihr schon so eine starke Vertrauensbasis aufgebaut habe.“ In diesem Fall sollten wir über die Sache noch einmal in Ruhe reflektieren und mit anderen Menschen darüber sprechen. Dabei geht es gar nicht so sehr darum, die manipulative Person zu enttarnen. Sondern zu erkennen, ob wir uns in einer Situation befinden, in der uns eine Person in eine Richtung manipuliert, die uns nicht gut tut oder uns in Schwierigkeiten bringen kann.
„Kein Mensch hätte geglaubt, dass hier Gangster am Werk sind.“ Dieser Satz fällt in den ersten Minuten von „Skandal! Der Sturz von Wirecard“. Warum tun wir uns so schwer damit, Betrug zu erkennen?
Lydia Benecke: Wenn wir Menschen eine bestimmte Sicht auf Dinge haben, dann möchten wir diese Sicht auch behalten. Selbst dann, wenn sie fehlerhaft ist. In der Psychologie nennt man das den Bestätigungsfehler.
Das müssen Sie bitte genauer erklären.
Lydia Benecke: Wenn wir einmal eine Meinung gefasst haben, neigen wir dazu, diese Meinung aufrechtzuerhalten. Wir selektieren Informationen unbewusst so, dass sie unsere bisherige Meinung stützen. Und leider gilt das für alles: Egal, ob es sich um eine Meinung zu einem Thema handelt, zu einem Menschen oder zu einem Unternehmen. Das ist der eine Aspekt.
Und der andere?
Lydia Benecke: Wir Menschen haben Stereotype im Kopf. Wenn wir uns einen Gangster vorstellen, dann denken vermutlich viele von uns an eine unangenehme, zwielichtige, schattenhafte Figur. An einen Al Capone mit Waffe in der Hand.
Und nicht an Menschen in Büroräumen, die gerade eine PowerPoint über die Quartalszahlen vorbereiten. Wenn man sich die Doku anschaut, hat man oft das Gefühl: Viele Menschen haben vor der Wahrheit aktiv die Augen verschlossen.
Lydia Benecke: Manchmal entsteht eine besondere Gruppendynamik, wenn eine Person einen gewissen Status erreicht und viele Menschen um sich schart, die davon profitieren. Selbst wenn den einzelnen Personen etwas seltsam vorkommt, sie auf Informationen stoßen, die eigentlich besorgniserregend sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass keine der einzelnen Person etwas dagegen tun wird. Die einzelne Person würde schließlich damit nicht nur das System infrage stellen, von dem sie selbst profitiert, sondern auch negative Konsequenzen für sich befürchten. An dieser Stelle greif das sozialpsychologische Prinzip der Verantwortungsdiffusion. Die Person wird die eigene Verantwortung umso geringer einschätzen, je mehr Menschen an dem fragwürdigen System beteiligt sind. Die Person wird sich sagen: „Wenn alle anderen, die dasselbe bemerken müssten, wie ich, das weder problematisieren noch was dagegen tun, warum soll ich dann die ganze Verantwortung dafür übernehmen?“
Fassen wir zusammen: Wir Menschen tun uns wahnsinnig schwer damit, unsere Meinung zu revidieren. Und wir sind außerdem noch super leicht emotional zu beeinflussen. Betrüger*innen haben bei uns wirklich leichtes Spiel, oder?
Lydia Benecke: Wir sind als Menschen leider anfällig dafür. Aber das wird nur dann zu einem Problem, wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Als junge Frau bin ich selbst auf einen sehr charismatischen Hochstapler reingefallen, mit dem ich sogar einige Jahre zu tun hatte. Diese Erfahrung hat bei mir die Frage aufgeworfen, wie ein solcher Mensch über viele Jahre auf diese Weise erfolgreich durchs Leben gehen kann. Es hat mir persönlich verdeutlicht, wie einfach und effizient manipulative Menschen Macht über andere ausüben und wie sich deren Lügensystem auch durch sozialpsychologische Mechanismen stabilisiert. Deshalb arbeite ich schon länger an einem Buch darüber, wie wir uns vor Manipulation schützen können. Ich will ein Buch veröffentlichen, das mir als junge Frau geholfen hätte, gar nicht erst auf diesen Menschen hereinzufallen.
Es gibt ja immer wieder Studien, die sagen: Wir Menschen lügen x-mal am Tag. Steckt in uns allen ein*e Betrüger*in?
Lydia Benecke: „Alle Menschen lügen.“ Das sagt Dr. House sehr gern. Wenn jemand, den man mag, sich eine neue Bluse gekauft hat und sagt: „Guck mal, ist die nicht schön?“ Dann wird man wohl kaum antworten: „Die ist potthässlich.“ Solche Alltagslügen benutzen wir täglich. Und wenn wir etwa auf einem Date sind, zeigen wir uns auch von unserer besten Seite. Die Kleidung ist bewusster ausgewählt als im Alltag, das Benehmen ist etwas freundlicher, zuvorkommender als sonst. Eigene Schwächen werden eher verborgen, die eigenen Stärken werden besonders hervorgehoben. Das ist auch eine Form von Manipulation. Der Unterschied ist nur: Es steckt keine böse Absicht dahinter. Problematisch wird es erst dann, wenn jemand andere Menschen manipuliert, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und dabei den Schaden anderer in Kauf nimmt oder sogar bewusst herbeiführt.
Lennardt Loss, Netflixwoche