Sex/Life: Wenn Serien und Filme den weiblichen Blick bekommen

Als die dunkle Aufzugstür sich öffnet, ist das Bild verschwommen. Erst als Billie (Sarah Shahi) einen Schritt in den Raum wagt, erscheint mehr und mehr die Umgebung – ein dunkles Sofa, ein Glastisch, eine braungräuliche Küche in der Ecke. Die Silhouette ihres Ex-Freundes Brad (A Perfect Pairing-Schauspieler Adam Demos) wird ebenfalls deutlich. Er steht in einem engen schwarzen Shirt und mit zerzausten Haaren vor dem Aufzug, der zugleich die Eingangstür seines Apartments markiert.

Brad blickt Billie süffisant an. So, als wüsste der sonnengebräunte Junggeselle, was gleich passiert. Sie hält selbstbewusst einen Monolog darüber, warum sie ihren Ehemann (Mike Vogel) nicht verlässt. „Das ändert gar nichts“, betont Billie wieder und wieder. Als die Hausfrau und Mutter fertig ist, sagt sie: „Jetzt fick mich!“ 

Mit Szenen wie dieser versucht die Dramaserie Sex/Life eine weibliche Sicht auf Leben, Liebe, Sex einzufangen. Im Fokus steht Billie, die, gelangweilt von ihrem Alltag, in Fantasien mit ihrem Ex-Freund flüchtet – bis er wirklich auftaucht und die Flucht zur Realität wird. Seit dem 2. März läuft die zweite Staffel mit sechs Folgen auf Netflix.

Stacy Rukeyser: „Normalerweise wird die Frau objektifiziert“

In Sex/Life spielt die weibliche Sichtweise aber auch hinter der Kamera eine Rolle: Die Geschichte stammt aus dem Roman 44 Chapters About 4 Men der amerikanischen Autorin B. B. Easton. Produzentin und Drehbuchautorin ist Stacy Rukeyser, die sich wiederum mehrere Co-Schreiberinnen und Regisseurinnen dazu holte. In anderen Film-Departments sind bei ihr ebenfalls auffallend viele Frauen gelistet.

Der amerikanischen Filmseite Screenrant sagte Rukeyser: Ihr sei sehr wichtig, die Geschichte einer Frau auch wirklich aus der Perspektive der Frau darzustellen – visuell, szenisch, emotional. „Normalerweise wird die Frau objektifiziert. Aber es geht um Billies Erfahrung. Also hängt die Kamera an dem männlichen Körper statt an ihrem. [...] Es ist Zeit, den Spieß umzudrehen.“

In der Netflix-Serie Sex/Life ist der männliche Körper im Blick – hier von Brad (Adam Demos).

Rukeyser ist nicht die Einzige, die bei neuen Produktionen einen Fokus auf den weiblichen Blick legt. In der von Cathy Yan inszenierten Action-Komödie Birds of Prey: The Emancipation of Harley Quinn sehen wir bereits eine weniger leicht bekleidete Margot Robbie als bei Suicide Squad von David Ayer. Die Netflix-Serie Bridgerton spielt auf eine frische Weise mit der Intimität der Frauen. Und die deutsche RomCom Faraway, die ab dem 8. März auf Netflix zu sehen ist, erzählt eine Selbstfindungsgeschichte, die überwiegend Frauen produzieren.

Doch was genau ist der weibliche Blick? Die weibliche Produktion? Handelt es sich hierbei nur um das ausführende biologische Geschlecht? Oder steckt noch mehr dahinter?

Der weibliche Blick „sieht Menschen als Menschen“

Die deutsche Onlineseite Kino.de beruft sich auf den Begriff female gaze, wie er in feministischen Filmtheorien verwendet wird. Jener stelle Frauen vor allem als autonome Handlungsträgerinnen und nicht als Objekte männlicher Begierde dar. Das amerikanische Kulturmagazin Vulture beschreibt es nach Gesprächen mit mehreren Kamerafrauen detaillierter: Der weibliche Blick „ist emotional und intim. Er sieht Menschen als Menschen. Er versucht zu empathisieren, anstatt zu objektifizieren – oder auch nicht.“

Die deutsche Filmemacherin Charis Uster beschäftigt sich in ihren Arbeiten schon seit einigen Jahren mit Sexualität, Sex und Pornografie. Von dem italienischen Magazin Wired wurde sie als eine der aufstrebendsten Filmregisseurinnen unter 30 betitelt, aktuell leitet sie das Production Department von CHEEX – einer Sexual Wellness Plattform, die für einen selbstverständlichen Umgang mit Sexualität wirbt.

In Sex/Life trifft Billie (Sarah Shahi) fremde Männer. Majid (Darius Homayoun) küsst sie sogar.

Im Gespräch mit Netflixwoche.de sagt Uster: „Für mich und in meiner Arbeit bezieht sich der weibliche Blick auf eine Perspektive, die von den Erfahrungen, Wünschen und Fantasien von Frauen geprägt ist.“ Dies unterscheide sich vom traditionellen männlichen Blick, der in der Vergangenheit die Darstellung von Sex in Medien und Kultur stark dominiert habe.

Uster fügt hinzu, dass es aber kein einheitliches Konzept für den weiblichen Blick gäbe: „Oft wird der weibliche Blick mit mehr Intimität, mehr emotionaler Verbindung sowie softem Inhalt gleichgesetzt. Das spiegelt aber ein veraltetes, unrealistisches Frauenbild wider. Der weibliche Blick kann ein breiteres Spektrum an sexuellen Verhaltensweisen und Identitäten jenseits der heteronormativen, cisgeschlechtlichen Binarität von Mann und Frau darstellen.“

Adam Demos unter der Dusche

Als die Serie Sex/Life im Juni 2021 startete, gab es unzählige Reaktionsvideos auf TikTok. Die vielen Nacktszenen überraschten einige Netflix-Zuschauer*innen, vor allem jene mit Adam Demos unter der Dusche – sein Glied war deutlich zu sehen.

Während ein Autor vom Männermagazin GQ Sex/Life als einen Softporno betitelte, betonten Produzentin Stacy Rukeyser und Sex/Life-Intimitätskoordinatorin Casey Hudeckiin in Interviews immer wieder die Wichtigkeit einer weiblichen Sichtweise.

Sasha (Margaret Odette ) ist selbstbewusst, auch im Bett mit Kam (Cleo Anthony).

„Ich wollte zeigen, dass Frauen zugeben dürfen, dass sie Wünsche haben – dass sie sexuelle Erfahrungen gemacht haben und dass sie mehr davon haben wollen”, sagte Rukeyser gegenüber Netflix.

Sie verweist auf die Rollen von Billie und ihrer Freundin Sasha (gespielt von Margaret Odette), zwei kluge Frauen mit Spaß beim Sex. „Solche weiblichen Figuren sind normalerweise das böse Mädchen, der Bösewicht. Sie werden dafür bestraft, dass sie wild sind, während Männer dafür gelobt werden, ihren Wünschen nachzugeben.“

Frauen dürfen in Sex/Life Bedürfnisse haben

Filmemacherin Charis Uster kann in diesem Punkt nur zustimmen. Ihr habe gefallen, dass die Serie Frauen erlaube, Bedürfnisse und sexuelle Fantasien zu haben – und danach zu handeln. „Ja, Frauen betrügen ihre Partner*innen. Ja, Frauen treffen nicht immer perfekte moralische Entscheidungen. Das ist einfach nur menschlich.“

Laut Uster würde demnach der weibliche Blick schon weit vor dem Film anfangen – von der Idee über die Zusammenstellung der Teams bis hin zur Ausarbeitung und Ausstrahlung. Wie der Blick am Ende wahrgenommen wird, hängt von den jeweiligen Betrachter*innen ab.

Im Fall der zweiten Staffel von Sex/Life wird es sich noch zeigen. Spätestens wenn die Serie wieder in den Netflix-Charts landet.

Netflixwoche Redaktion

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