​​„Dieser Film war eine kathartische Erfahrung“: Regisseur Alejandro González Iñárritu spricht über BARDO

Interview von Barry Jenkins für Queue.

„Nichts ist langweiliger als das Leben eines Filmregisseurs“, sagt der vierfach Oscar-prämierte Regisseur Alejandro González Iñárritu. „Ehrlich gesagt, sind wir nicht sehr interessant“. Vielleicht stimmt das – oder es ist, wie vieles in der episch existenziellen Komödie BARDO, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten, eine raffinierte Fiktion. Ein Märchen, das sich der Held selbst erzählt, während er versucht, Sinn zu finden in seiner eigenen Identität und der Welt.

Für seinen ersten Spielfilm seit dem Oscar-prämierten Historiendrama The Revenant – Der Rückkehrer (2015) entschied sich der international renommierte Filmemacher für eine Rückkehr in seine mexikanische Heimat. Mit einem erstaunlich persönlichen Film, der viele seiner Sorgen als Mann spiegelt, der auf die 60 zugeht.

BARDO erzählt die Geschichte des gefeierten mexikanischen Journalisten und Dokumentarfilmers Silverio Gama (Daniel Giménez Cacho), der sich mit seiner Identität, seiner Familie und seinen verrückten Erinnerungen auseinandersetzt.

Der Film beginnt mit Gamas Schatten im Sand, verloren in der Wüste. Silverio Gama ist ein Mann, der sich immer mehr von seinem eigenen Leben und seiner Identität entfremdet. Obwohl er eine bedeutende Auszeichnung für seine beruflichen Leistungen erhalten soll, schafft es Silverio nicht, die Anerkennung zu genießen. Er hat das Gefühl, sie nicht verdient zu haben.

Während der zweieinhalbstündigen Laufzeit von BARDO denkt der Protagonist darüber nach, wie sich der Umzug von Mexiko nach Los Angeles auf ihn und seine Familie – Ehefrau Lucía (Griselda Siciliani), Tochter Camila (Ximena Lamadrid) und den 17-jährigen Sohn Lorenzo (Íker Sánchez Solano) – ausgewirkt hat. In einer Reihe surrealer Vignetten, die Kameramann Darius Khondji durch eine 65mm-Kameralinse strahlen lässt, dringt BARDO tief in Silverios Ängste ein: Wie kann er so geprägt sein von einer Heimat, die nicht mehr seine Heimat ist? Und haben seine Erinnerungen an diesen Ort überhaupt noch etwas mit der Realität zu tun?

Regisseur Iñárritu sprach kürzlich für das Netflix-Magazin Queue mit Barry Jenkins – einem Filmemacher, der sich 2016 mit seinem sehr persönlichen, Oscar-gekrönten Drama Moonlight als Drehbuchautor und Regisseur höchster Güte etablierte – über seine künstlerischen Ziele bei der Entstehung von BARDO. Die beiden sprachen über die Herausforderungen des Projekts für Iñárritus Psyche und über die Erfahrung, nach fast 22 Jahren wieder in Mexiko zu arbeiten und ein noch unentdecktes Land vorzufinden.

„Es ist schwer, seine Gefühle zu zeigen und sein Herz auszuschütten“, sagte Iñárritu zu Jenkins. „Es war schwierig für mich, aber als Künstler muss man Mut haben. Das ist unsere Pflicht. All diese Ängste und Unsicherheiten, die ich in den letzten 20 Jahren erlebt habe – das Land, in dem ich früher gelebt habe, ist nicht mehr dasselbe. Oder war es vielleicht nie so? Vielleicht ist es auch nur eine Erinnerung?“

Es folgt eine übersetzte und bearbeitete Fassung des Gesprächs.

Der Regisseur mit seiner Familie auf der Premiere von BARDO: (L-R) Eliseo Iñárritu, Maria Eladia Hagerman, Regisseur Alejandro González Iñárritu undMaria Eladia Iñárritu.

Barry Jenkins: Wie fühlst du dich jetzt, wo BARDO veröffentlicht wird, nachdem du schon vor Jahren mit der Produktion begonnen hast?

Alejandro G. Iñárritu: Ich wollte viele Dinge zusammenbringen und ihnen einen Sinn geben. Meine Familie und ich sind vor 21 Jahren von Mexiko-City weggezogen, wo ich 37 Jahre lang gelebt habe. Wir wollten eigentlich nur ein Jahr bleiben. Aber aus diesem einen Jahr wurden 21 in Los Angeles, Kalifornien.

Es gibt etwas, das mit Zeit und Distanz passiert, wenn man an einem neuen Ort ankommt. Für mich ist ein Heimatland nicht mehr als die Geschichten, die uns seit unserer Kindheit erzählt werden. Diese Geschichten helfen, uns miteinander zu identifizieren, uns zugehörig zu fühlen und uns eine kollektive Kraft zu geben. Aber Zeit fordert ihren Tribut, und diese Erzählungen, die ein Heimatland ausmachen, beginnen sich aufzulösen.

Nach und nach führt diese Entfernung zu unterschiedlichen Empfindungen. Die eigene Identität beginnt zu zerbrechen, wir stellen sie in Frage, sowohl innerlich als auch von der Gesellschaft heraus. Man begibt sich an einen  Ort, der schwer zu definieren ist – und das ist wertvoll.

Die Verwandlung eines Ortes in einen anderen, das kann nicht nur in der nationalen Identität geschehen, sondern auch in religiöser, ideologischer oder politischer Hinsicht. Aber dieser flüchtige Raum dazwischen ist für mich sehr wichtig.

Nach 21 Jahren häufen sich all diese Dinge an. Wir formen uns selbst durch die Ereignisse und Erinnerungen unseres Lebens. Wir denken: Ich bin dies, ich studiere das. Ich hatte das Bedürfnis, sehr tief einzutauchen und einen Film nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen zu machen und nach innen zu gehen.

Es ist sehr befreiend, seine eigene Geschichte, seine eigene Erzählung zu hinterfragen. Wir erleben die Welt aus unserem engen, begrenzten Blickwinkel. Und manchmal können wir an unseren Wahrheiten nicht mehr festhalten, weil sie von unserem Bruder oder unserer Schwester, die dasselbe erlebt haben, herausgefordert werden und sie sagen: So war es nicht. Mein Vater hat das nie gesagt.

Plötzlich wurde mir klar, dass Erinnerungen nicht wahr sind; man hat nur eine emotionale Überzeugung. So wurde der Film zu einer Reise, auf der es darum geht, Erinnerungen wiederzufinden, und dafür muss man sie neu erfinden. Es ist diese Reise zwischen Realität und Fantasie. Von da fing alles an.

Daniel Giménez Cacho als Silverio Gama zwischen Showgirls, Licht und Federn in BARDO.

Jenkins: Es ist interessant, dass BARDO immer noch cinematisch ist. Ich habe es geliebt, den Film als Filmemacher zu sehen und zu entschlüsseln, wie du ihn geschaffen hast. Denn es gibt so viele Ideen, die so fließend sind, durch die du dich bewegst. 

Du sprachst immer wieder von der Idee des Hinterfragens. Ich weiß noch, als ich als Filmemacher anfing, dachte ich, ich brauche eine Aussage. Ich projiziere, ich erzähle, ich entscheide, ich erkläre. Wohingegen du mit diesem Film auf einer Reise voller Fragen bist, die immer tiefer und tiefer eindringen. 

Als du vor fünf Jahren angefangen hast, was war da die Grundlage, der erste Entwurf, das Gerüst, wie du die Geschichte erzählen wolltest, wie du diese Visionen organisieren wolltest?

Iñárritu: Ich habe mit einigen Schnipseln angefangen. Ich würde sagen, mit emotionalen Themen. Ich hatte einen wiederkehrenden Traum über meinen Vater, der 2014 verstarb – ich wachte auf und er war da. Das war vielleicht einer der ersten Samen, der gepflanzt wurde.

Außerdem leidet meine Mutter jetzt an einer Art Demenz – ich konnte meine Geschichte nicht durch ihre Erinnerungen wiederfinden. Sogar an eine Melodie, die mein Vater immer pfiff und die ich sehr liebte, kann ich mich nicht mehr erinnern und meine Mutter auch nicht. Dieser kleine Moment war für mich so bedeutsam und wird auch im Film angedeutet. Der Versuch, die kleine Pfeife zu finden, die in gewisser Weise für die ganze Kindheit steht, die verloren gegangen ist.

Die andere Sache ist: Ich bin 59 Jahre alt. Ich werde bald 60. Ich möchte anfangen, mich auf den Tod vorzubereiten. Es ist nicht so, dass ich morgen sterben möchte.  Aber der Tod rückt mit dem Alter näher. Ich möchte auf viele Dinge eingehen, die in meinem Unterbewusstsein gefangen waren.

Und ich wollte sie zusammenbringen oder ihnen Sinn geben. Und einige historische Dinge ermöglichten es mir, den Geschichten meines eigenen Landes einen Sinn zu geben. All den sozialen, politischen und kulturellen Momenten, die mich so frustrieren, weil ich nichts tun kann. All die Frauen, die verschwinden – 130.000 Menschen verschwinden in Mexiko spurlos. Solche Geschichten verletzen mich als Mexikaner sehr. Wenn ich dorthin fahre, stelle ich mir immer die Frage: Warum bin ich hier? Warum bin ich gekommen? Zu welchem Preis?

Jenkins: Ich war völlig überwältigt davon, wie tief dieser Film in dein Bewusstsein eindringt. Er kam mit all den Problemen mit deinem Vater, mit deiner Familie. Gab es jemals einen Moment, in dem du dachtest: Vielleicht sollte ich nicht die ganze Geschichte erzählen, sondern nur einen Teil?

Iñárritu: Nicht wirklich. In Mexiko haben wir eine Suppe, die Pozole heißt, mit Schweinefleisch, Mais und Salat. Sie besteht aus Hunderten von Elementen. Das war meine mexikanische Pozole. Die Suche und die Reise von Silverio, diesem Journalisten, der nach Mexiko zurückkehrt, bevor er den Prestigepreis erhält - er ist im Grunde zwischen seinen Gedanken gefangen.

Für mich war das Interessante, dass wir aus Vergangenheit und Gegenwart bestehen und völlig in unser Leben verstrickt sind. Manchmal verdrängen wir unsere Träume. Wir träumen jeden Tag acht Stunden, aber wir verdrängen diesen Teil unseres Lebens. Aber diese Träume geben uns unglaublich deutliche Zeichen, die uns helfen, unser eigenes Leben zu verstehen.

Daniel Giménez Cacho tanzt als Silverio Gama in Extase.

All das Reale und Surreale, Fiktion und Realität, Leben und Tod, Zukunft und Ängste, unsere Erinnerungen – all das ist sehr realistisch. Was Silverio durchmacht, ist das, was ich im Moment auch durchmache.

Jeder schreibt mit Gewissheit und Wahrheit. Aber die Herausforderung des Lebens ist, dass es aus so vielen Realitätsfragmenten besteht. Als Journalist gerät er in eine Midlife-Crisis: Wer bin ich, dass ich die Wahrheit sagen kann? Bescheiden zu sein und plötzlich zu erkennen, dass es keine Gewissheit gibt, ist beängstigend, aber auch sehr befreiend. Zumindest für mich.

Jenkins: Dieser Film wird als Komödie beschrieben. Du hast eine sehr interessante Art, deine Filme zu gestalten. Birdman ist eine Art existenzielle Komödie. The Revenant ist es ganz und gar nicht. Auch das sind alles Entscheidungen. 

Du hättest so viele dieser Geschichten in ganz anderen Genre-Formen oder in ganz anderen dramatischen Formen erzählen können. Warum eine Komödie für diese Geschichte?

Iñárritu: Bei einigen anderen Filmen hatte ich das Gefühl, dass ich mit dem Publikum in einen sehr dunklen Ozean eintauche, mit der ganzen Schwere des Wassers auf den Schultern und Sauerstofftanks. Vielleicht ist es das Alter, das einem zu verstehen gibt, dass selbst in schmerzhaften Momenten Humor steckt – die intimsten Beziehungen von Silverio, all die Dinge, die Teil dieses Verfalls sind, kulturelle Dinge. Alles, was er auf seinen Schultern trägt, die Geschichte seines eigenen Landes und die Geschichte des Landes, in dem er jetzt lebt, den Vereinigten Staaten. Und die Beziehung zwischen diesen Ländern. All das hat sein Unterbewusstsein und sein Wesen geformt.

Dieser Film war eine kathartische Erfahrung. Ich konnte mich von einigen der schmerzhaftesten Erinnerungen befreien. Wenn erst einmal Zeit vergeht, kann man über sie lachen. Plötzlich lachte ich über Dinge, die mich vor Jahren noch sehr beschäftigt haben. Jetzt kann ich sie wirklich mit anderen Augen sehen.

Humor ist sehr befreiend. Das versuche ich mit diesem Film auch tonal. Dieser Film soll eine Übersetzung sein, eine Erfahrung, ein Gefühl vom Schnorcheln. Man ist nicht tief im Meer und in der Dunkelheit. Man kann die Tiefe sehen, aber gleichzeitig erlebt man das Licht und die Schatten und die Leichtigkeit.

Jenkins: Amores Perros ist neben BARDO der einzige Film, den du komplett in Mexiko gedreht hast. Es ist also in gewisser Weise eine Rückkehr für dich. Wenn man dich jetzt reden hört, scheint es, als sei Film Therapie. Hast du beim Drehen dieses Films neue Dinge über dich selbst oder über Mexiko gelernt? 

Iñárritu: Auf jeden Fall. Für mich war es eine Erfahrung, den Film nach 20 Jahren in Mexiko zu drehen. Als ich mich vorbereitete, mussten wir den Film zweimal wegen der Pandemie unterbrechen. Es war eine große Herausforderung, während der Pandemie mit Tausenden von Statisten mit Masken zu drehen.

Die Zeit, die ich damit verbracht habe, die Vorbereitungen und alles, was passiert ist, hat auch mitbestimmt, worum es in dem Film geht. Es hat die ganze Erfahrung persönlich, psychologisch und aus der Regie-Perspektive, wirklich verändert. Es war eine Meta-Erfahrung.

Dieser Film ist ein Traum in einem Traum in einem Traum in einem Traum. Es war unglaublich für mich, dorthin zurückzukehren und mein Land zu verstehen und zu begreifen, was ich verloren und was ich gewonnen habe.

Jenkins: Als ich The Underground Railroad drehte, fragten mich die Leute: Für wen ist diese Show? Ich sagte: „Natürlich für Schwarze.“ Für wen ist BARDO?

Iñárritu: Ich glaube wirklich, dass es immer ein Publikum für einen Film gibt. Das Publikum, das diesen Film finden wird, sind Menschen, die sich unsicher fühlen. Menschen, die Zweifel haben oder die die Erfahrung gemacht haben, plötzlich in diesem Zwischenraum zu stehen.

Als Mexikaner, der sich mit mexikanischen Problemen auseinandersetzt und in den Vereinigten Staaten lebt, und mit dem Widerspruch zwischen diesen beiden Kulturen lebt, die so unterschiedlich sind – und doch sind wir so eng miteinander verbunden, und unsere Geschichte reicht so weit zurück – es gibt so viele Dinge, die nicht gelöst sind, über die wir nicht sprechen oder die wir sogar ignorieren. Ich hoffe, dass dieser Film Mexikaner bewegt oder ihnen die Dinge offenbart, die mir offenbart wurden.

Ich habe leider keine Antworten, nur moralische Gewissheiten. Aber ich denke, dass der Film alle spanischsprachigen oder lateinamerikanischen Menschen ansprechen kann. Und ich hoffe, dass BARDO für das amerikanische Publikum, das neugierig ist, eine mögliche Brücke sein kann, um die andere Seite zu sehen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch in Queue.

Netflixwoche Redaktion

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