Queere Geschichte: Die revolutionärsten Momente im Fernsehen

„Ich liebe es, wie selbstverständlich die queere Liebe in Heartstopper ist. Die Charaktere schämen sich nie dafür, sie selbst zu sein“, erklärt Hauptdarsteller Joe Locke in einem Interview mit GQ. Die High-School-Serie Heartstopper findet genau darin ihren Erfolg: Sie zeigt unbeschwerte, herzerwärmende queere Liebe. Doch selbstverständlich ist das noch lange nicht.

Was bedeutet eigentlich „queer“?

„Queer“ dient als Selbstbezeichnung für alle Personen, die nicht den traditionellen Vorstellungen von Sexualität und Geschlecht entsprechen. Das Wort umfasst lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, nicht-binäre und andere nicht-traditionelle Identitäten. Der Sammelbegriff ist damit eine offene und inklusive Alternative zu „LGBTQ+“.

„Queer“ wurde ursprünglich als Beleidigung verwendet. Im Laufe der Zeit wurde der Begriff jedoch durch queere Menschen selbst aufgegriffen und entwickelte sich zur positiven Selbstbezeichnung. Der Begriff hat dadurch eine politische Geschichte und aktivistische Konnotation.

Queere Geschichten haben viel Mut gefordert, sie haben Telefonlawinen und politische Bewegungen ausgelöst. Hier also, pünktlich zum Pride Month, eine Geschichte der revolutionärsten queeren Momente der Fernsehgeschichte.

Was war der erste queere Fernsehmoment in Deutschland?

Die Geschichte von Queerness im Fernsehen ist noch jung. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es das TV-Programm zwar schon seit 1952, aber der erste queere Moment ließ noch 20 Jahre länger auf sich warten.

Bis 1969 ist Homosexualität in der BRD verboten. Schwule werden unter Paragraph 175 verfolgt, das Gesetz stammt aus dem deutschen Kaiserreich und wurde vom Nazi-Regime weiter verschärft. Doch auch in der Adenauer-Ära und danach werden noch über 50.000 schwule Männer durch das Gesetz verurteilt. Nach zwei Reformen wurde Paragraph 175 erst 1994 komplett aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.

Queeres Leben wird also lange kriminalisiert, unsichtbar gemacht und dementsprechend auch im Fernsehen nicht abgebildet.

Doch dann passiert es: 1972 wird der Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von Regisseur Rosa von Praunheim im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendet. Darin geht es um Daniel. Er kommt als junger Schwuler vom Land nach West-Berlin, verliebt sich und schlägt sich durch. Er geht in Szenekneipen, Drag-Lokale, zum Cruising auf öffentlichen Toiletten und lernt Aktivismus in einer schwulen Kommune.

Der Film zeigt den ersten schwulen Kuss im deutschen Fernsehen. Aber auch homophobe Gewalt. Und er endet mit einem Aufruf zum Aktivismus: „Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen. Freiheit für die Schwulen!

Rosa von Praunheims Film wird wegen der „anstößigen“ Themen bewusst im Spätprogramm des WDR ausgestrahlt. Trotzdem gehen unzählige Anrufe wütender Bürger*innen beim Sender ein. Als der Film ein Jahr später bundesweit in der ARD ausgestrahlt werden soll, streikt der Bayerische Rundfunk.

Aber die aktivistische Botschaft findet Anklang: In den zwei Jahren nach der Premiere werden mehr als 70 Aktionsgruppen und Vereine gegründet, die für die Rechte und Sichtbarkeit queerer Menschen kämpfen.

Wann wurden das erste Mal queere Charaktere im US-Fernsehen gezeigt?

Auch in den USA gibt es lange keine explizit queeren Themen im Fernsehen. Das hat auch etwas mit dem Hays Code zu tun: Zensurrechtlinien, die Obszönität, Unsittlichkeit und Gotteslästerung aus Fernsehen und Film verbannen und erst 1967 abgeschafft werden. Unter die Zensur fällt damals auch die Darstellung von Homosexualität.

Im Fernsehen gibt es deshalb anfangs nur Andeutungen auf queere Themen und queer kodierte Serienfiguren. Solche Figuren sind oft entwürdigend dargestellt: Man sieht beispielsweise trans Frauen als Witzfiguren, als gefährliche Killer oder psychisch krank, wie es die Dokumentation Disclosure: Hollywoods Bild von Transgender erklärt.

Queere Menschen werden auch in den USA noch lange systematisch diskriminiert und verfolgt. Am 28. Juni 1969 eskalierte die Situation: Bei einer Razzia im Stonewall Inn in New York City wehren sich die queeren Besucher*innen gegen die Polizeigewalt. Der Aufstand wächst zu einem Protest der queeren Szene – mit wichtigen Vertreter*innen, wie der Schwarzen trans Frau Marsha P. Johnson. Das Ereignis geht als Stonewall-Aufstand in die Geschichte ein. Danach gründen sich neue Initiativen für die Rechte queerer Menschen und ein Jahr später finden in mehreren Städten die ersten Pride-Proteste statt.

Ein Jahr später kommt die Revolution langsam im Fernsehen an: Die Sitcom All In The Family ist 1971 die erste Sendung, die im US-Fernsehen einen explizit schwulen Charakter zeigt.

Folgendes passiert in der fünften Folge Judging Books by Covers („Bücher nach ihrem Umschlag bewerten“): Die Hauptfigur Archie Bunker ist ein engstirniger Grummler. Als seine erwachsene Tochter und ihr Mann ihren Freund Roger zum Essen einladen, flüchtet Archie in seine Stammbar. Roger ist ihm zu affektiert und extravagant. In der Bar trinkt er Bier mit Steve: muskulös, männlich, konservativ, ehemaliger Footballspieler und Junggeselle. Ein richtiger Mann, wie er selbst, denkt Archie. Plottwist: Steve ist in Wirklichkeit schwul, nicht Roger. Die Serie spielt mit Stereotypen und untergräbt dadurch Vorurteile gegenüber queeren Männern.

Wann gab es den ersten queeren Kuss in einer Fernsehsendung?

Nach der Initialzündung in den 1970er Jahren sieht man nur ganz langsam mehr queere TV-Charaktere in den USA. Ein Jahr nach All In The Family gibt es in der Serie The Corner Bar den ersten wiederkehrenden schwulen Charakter. 1975 gibt es das erste schwule Paar in Hot l Baltimore und 1981 die erste schwule Serien-Hauptrolle in Love, Sidney. Ein queerer Kuss oder die positive Repräsentation von lesbischen oder anderen queeren Menschen sind damals noch lange nicht in Sicht.

In Deutschlands Telenovela Lindenstraße gibt es seit 1986 den wiederkehrenden schwulen Charakter Carsten Flöter. Doch der Aufschrei kommt erst später: In der Folge 224 Horoskop kommt es 1990 zu einem leidenschaftlichen Kuss zwischen Carsten und Robert – und das zur besten Sendezeit. Die Szene: „Ich habe noch nie etwas gelesen, das so offen und ehrlich die Gefühle von Schwulen beschreibt,“ sagt Robert, als er mit Carstens Manuskript ins Wohnzimmer läuft. Sie sitzen nebeneinander auf der Couch. Als Carsten Robert küsst, fallen die Blätter aus seiner Hand.

Nach der Ausstrahlung berichten Medien von Bombendrohungen, die Schauspieler erzählen in Interviews von Beschimpfungen und Drohungen, die ihnen im Nachhinein auf der Straße entgegen schmettern. Der Kuss geht zwar als erster in die Fernsehgeschichte ein -  obwohl echte Lindenstraße-Fans wissen, dass sich laut WDR „Carsten und sein erster Freund Gerd bereits in früheren Folgen der Lindenstraße küssten.“

Die USA zieht 1991 mit dem ersten lesbischen Kuss nach: In der Serie LA Law kommen zwei befreundete Anwältinnen aus einem Restaurant. Nach der freundschaftlichen Umarmung auf einmal: der Kuss. Zwar kurz und keusch, doch der Sender NBC erhält unzählige Beschwerden und Werbepartner springen ab, schreibt Pink News. Die Sendung läuft trotzdem für acht Staffeln und gewinnt mehrere Emmys. Und die Serie startet einen Trend: Die Lesbian Kiss Episode ist ein Phänomen, nach dem viele Serien danach lesbische Romanzen im Skript haben – die aber fast nie mehr als eine Folge dauern.

Wer war die erste schwule Person im Reality TV?

MTVs erste Reality Show The Real World beginnt 1992. Zwei Jahre später zieht Pedro Zamora mit sechs Fremden in das Real World-Haus in der Lombard Street in San Francisco. Nachdem sich der 22-jährige gegen 25.000 andere Bewerber*innen durchgesetzt hat, verkündet er nach seiner Ankunft, dass er HIV-positiv ist. Im Laufe der Show lernt man immer mehr über Zamoras AIDS-Aktivismus und seine Motivation, über die queere Community aufzuklären.

In der Sendung heiratet Zamora in der ersten queeren TV-Zeremonie seinen Freund. Am Morgen nachdem die letzte Folge gesendet ist, stirbt Zamora an den Folgen von AIDS. Der Autor Dan Avery beschreibt, wie es ihn und viele andere junge queere Menschen geprägt hat, Zamora im Fernsehen als Vorbild zu haben: „Zum ersten Mal konnte ich mir eine Zukunft für mich vorstellen, die mit Freunden, Erfolg und vielleicht sogar Liebe gefüllt ist.“

Wann war das erste große Coming Out der Fernsehgeschichte?

Heute weiß man, dass viele Hollywoodstars, Musiker*innen und Fernsehpersönlichkeiten der Geschichte heimlich queer waren, sich aber aus Angst vor Diskriminierung nie öffentlich dazu bekannten. Ellen DeGeneres kennt man heute als Talkshow-Moderatorin und Vertreterin der queeren Community. Doch als sie im Jahr 1997 erstmal öffentlich darüber spricht, dass sie lesbisch ist, ist das eine absolute Neuheit. Es gibt nationale Schlagzeilen und eine große Welle der Empörung. Denn auch noch Ende der 1990er Jahre sieht man kaum queere Menschen im Fernsehen. Ein Artikel beschreibt, dass es zu dem Zeitpunkt von DeGeneres Coming Out nur elf queere Charaktere im US-TV gibt.

DeGeneres spielt zu der Zeit die Hauptrolle in der Sitcom Ellen. In der Folge The Puppy Episode („Die Welpen-Folge“) beichtet ihr Charakter, dass sie lesbisch ist – und gleichzeitig outet sich DeGeneres im realen Leben. Die Episode und DeGeneres Coming Out haben große Folgen: einen Aufschrei fundamentalistischer Christ*innen und einige Morddrohungen. Auch persönlich treffen die Ereignisse DeGeneres sehr. Aber sie bereut ihre Entscheidung nicht. Kurz nach der Folge sitzt sie in der Oprah Winfrey Show. Winfrey fragt sie, warum sie es notwendig findet, sich und ihren Serien-Charakter gleichzeitig zu outen. DeGeneres antwortet: „Weil es okay ist.“

Ellen DeGeneres gewann nach der Coming-Out-Episode für ihre Serie den Emmy Award.

Mit dem Millennium geht es in den Mainstream

Die Jahrtausendwende bringt mehr Sendungen, die explizit und selbstverständlich Queerness zeigen. In der Erfolgssitcom Will & Grace von 1998 ist der schwule Anwalt Will Truman namensgebende Hauptfigur. Die Show wird im Laufe der Jahre für 84 Emmys nominiert. Vize-Präsindent Joe Biden sagt 2012Will & Grace habe „wahrscheinlich mehr getan, um die Öffentlichkeit weiterzubilden, als irgendwas anderes vorher.“

Sex and the City startet im selben Jahr und zeigt mit Samantha eine polyamore bisexuelle Frau, die sich nicht für ihre Sexualität schämt. Six Feet Under und andere Erfolgsserien haben queere Hauptfiguren. Mit Queer as Folk (2000) und mit The L Word (2004) steht erstmals queeres Leben im Zentrum von Serien.

In Deutschland trägt vor allem das Privatfernsehen dazu bei, dass Queerness sichtbarer wird. 1997 entsteht Hinter Gittern – Der Frauenknast, eine Serie, in der Katy Karrenbauer zehn Jahre lang die lesbische Walter spielt, die Affären mit mehreren Frauen hat. 2009 kommen queere Themen in Deutschland auch ins Kinderfernsehen: In der zwölften Staffel der KiKA-Serie Schloss Einstein gibt es die erste Romanze zwischen zwei besten Freundinnen.

Wie steht es heute um Queerness im Fernsehen?

Queere Charaktere sind im deutschen Fernsehen noch immer unterrepräsentiert. Laut einer Studie vom Institut für Medienforschung Rostock waren 2020 nur zwei Prozent der Charaktere in fiktionalen Fernsehproduktionen queer. Streaming-Anbieter*innen schließen deutlich besser ab: Dort sind neun Prozent der Figuren queer. Allerdings gibt es auch heute noch mehr zu tun. Schwule Charaktere gibt es zum Beispiel viel häufiger als lesbisch. Andere Geschlechteridentitäten, wie nicht-binäre Menschen kommen noch seltener vor.

Es gibt jedoch einige Shows, die dieses Gleichgewicht langsam herstellen. Orange is the New Black erzählt von den Insassinnen einer Justizvollzugsanstalt. Laverne Cox spielt darin die trans Frau Sophia, neben der bisexuellen Hauptfigur Piper und einigen lesbischen Figuren. Sex Education zeigt gleich mehrere Schwarze queere Charaktere. Zum Beispiel Cal Bowman, die erste nicht-binäre Figur der Serie, gespielt von der ebenfalls nicht-binären sudanesisch-amerikansichen Schauspieler*in Due Saleh.

Queere Reality-Formate sind schon lange erfolgreich. Die Makeover-Show Queer Eye schrieb schon vor dem Netflix-Reboot Geschichte: Sie soll den Fernsehsender BRAVO gerettet haben. Aber auch neue Formate wie The Ultimatum: Queer Love zeigen, dass Queerness heute selbstverständlich ist.

Lesbische Lebensrealitäten bekommen in der letzten Zeit auch immer mehr Raum: Dokumentationen wie Eine geheime Liebe berichten davon, wie unsichtbar lesbische Paare gelebt haben. Die Figur Rosa Diaz aus Brooklyn 99 wird in der Serie sensibel verfolgt und die Black Mirror-Folge „San Junipero“ zeigt eine tragische lesbische Liebesgeschichte über Akzeptanz und Liebe in einer dystopisch-technologischen Zukunft.

Netflixwoche Redaktion

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